Der Mensch ist ein unberechenbares Wesen. Er benimmt sich einfach nicht so, wie es sich Statistiker, Politiker und Wirtschaftslenker gern so denken. Denn sie wollen den Menschen gern als "homo oeconomicus". Aber das ist der Grundirrtum, mit dem auch in Europa falsche Politik gemacht wird: Wirschaft funktioniert nur, wenn sie für den Menschen da ist. Nicht umgekehrt.

Aber wie bringt man das den genialen Denkern bei, die nicht einmal mehr Gänsehaut bekommen, wenn sie vom “Primat der Ökonomie” reden? Wahrscheinlich gar nicht. Denn wenn man sich erst einmal angewöhnt hat, sämtliche sozialen Faktoren nur noch auf der Kostenseite zu verbuchen  und Menschen nur noch als Humankapital verrechnet, ist es wahrscheinlich fast unmöglich, eine Gesellschaft als dynamischen Prozess zu begreifen, in dem Menschen die Akteure ihres eigenen Lebens sind. Und auch entsprechend menschliche Entscheidungen fällen.

Der aktuelle Quartalsbericht Nr. I/2015 ist voller Artikel, in denen Statistiker und Forscher ihr Rätseln über das formulieren, was die Menschen in Mitteldeutschland so treiben. Das betrifft auch den Beitrag von Manuel Wolff und Annegret Haase vom Helmholtzzentrum für Umweltforschung (UFZ), der sich mit den Schrumpfungs- und Wachstumsprozessen in der Metropolregion Mitteldeutschland beschäftigt. Dabei grübeln sie insbesondere über die beiden Großstädte Leipzig und Halle nach.

Immerhin hat Leipzig eine der längsten Schrumpfungsphasen hinter sich, die eine deutsche Großstadt je durchgemacht hat. Auf 59 Jahre kommen die beiden Autoren – von 1939 bis 1998. Was aber auch schon wieder ein Versuch ist, die Sache schön zu malen. Denn den Bevölkerungshöchststand hatte Leipzig 1933 mit 713.470 Einwohnern – der Bevölkerungsrückgang setzte nicht erst mit dem Kriegsbeginn ein, sondern mit den zunehmenden Verfolgungen des neu installierten NS-Regimes 1933. Man hat es also mit einem 65 Jahre langen Schrumpfungsprozess zu tun, unterbrochen noch durch die Flüchtlinge, die ab 1945 in Leipzig strandeten und die Bevölkerungszahl kurzzeitig noch einmal ansteigen ließen, während die zunehmende Abwanderung insbesondere junger Leipziger in den Westen bis 1961 unvermindert anhielt.

Wenn man die “Großereignisse” im Hintergrund mitdenkt, bekommt man schon so eine Ahnung von den Prozessen, die Menschen zum Ab- und Zuwandern bewegen können. Unaushaltbare Diktaturen sind eindeutig ein Grund zum Abwandern, ein noch stärkerer Grund aber sind wirtschaftliche Niedergänge, und der wirtschaftliche Niedergang hatte ja in Leipzig auch einen drastischen Verlust an Lebens- und Wohnqualität zur Folge. Gleiches gilt für Halle.

1990 stand durchaus die Frage: Wie lange wird es dauern, im Osten wieder eine tragfähige Wirtschaft aufzubauen? Manch übermütiger Politiker sprach von 15 Jahren – dann auch schon mit gleichen Lebensbedingungen und Lohnverhältnissen in Ost und West. Das hat ja bekanntlich nicht so geklappt.

Trotzdem sind seit 2009 die Stabilisierungsprozesse im Herzen der Metropolregion Mitteldeutschland unübersehbar. In Leipzig hält das Bevölkerungswachstum schon etwas länger an. Seit 1999 ist es spürbar, hat aber seit 2010 Dimensionen erreicht, bei denen auch die Demografen nicht so recht wissen, wie das passieren konnte. Es hat ja bekanntlich schon recht lange – rund zehn Jahre – gedauert, bis die Statistiker in Mehrheit akzeptierten, dass die ostdeutsche Landbevölkerung eben nicht mehr in Zehntausender-Strömen in den Westen verzog, sondern die jungen Leute eher in die attraktiven Großstädte des Ostens umzogen.

Wobei man sich gern über die Gründe streitet: Sind es die tollen Studienplätze oder nicht doch die (noch) funktionierenden Infrastrukturen? Ein Thema, mit dem sich eine im Vorspann zitierte Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung beschäftigt: “Keine Schule – keine Einwohner?” Die Rostocker Forscher haben es sich freilich zu einfach gemacht, weil sie einfach Gemeinden mit Schulen mit Gemeinden ohne Schulen verglichen. Die Schulschließung hatte keinen Einfluss auf die Bevölkerungszahl. Am Ende steht dann so ein knarztrockener Satz: “So ist die Schülerbeförderung in Sachsen relativ gut: Fast alle Schulen – auch in ländlicheren Gegenden – sind innerhalb von 20 Autominuten zu erreichen.”

Man merkt: Der Autor dieser Zeilen wohnt nicht mit schulpflichtigen Kindern auf dem Land. Denn 20 Autominuten sind ganz schnell 40 Schulbusminuten und mehr. Und da Schulen längst schon dutzende Gemeinden in einem größeren Landstrich versorgen, bedeutet die Schließung einer Schule in einer Gemeinde immer einen Infrastruktur-Verlust für die ganze Region.

Nur ziehen Familien nicht sofort um, wenn eine Schule schließt. Die Prozesse sind viel schleichender, beginnen in der Regel damit, dass die Kinder nach Schulabschluss wegziehen, weil sie zehn Jahre lang erlebt haben, wie das ist, wenn man jeden Tag mit einem Schulbus durchs halbe Land kutschieren muss und im eigenen Dorf “nichts mehr los ist”. So wechselt Jahrgang um Jahrgang in die Großstädte. Die ländlichen Regionen bluten in der Fläche aus, nicht punktuell.

Und die Verluste der so wichtigen Infrastrukturen liegen beim Zeitpunkt des Umzuges in der Regel schon 5, 10, 15 Jahre zurück.

Deswegen zögern Statistiker oft auch lange, bis sie einen Trend als solchen akzeptieren. Aus dem Artikel von Wolff und Haase ist sogar noch das Staunen über die hohen Bevölkerungsgewinne von 2012 und 2013 herauszulesen. Mit einem Wachstum von über 10.000 Einwohnern pro Jahr spielt Leipzig in der Spitze der deutschen Großstädte mit. Aber woher kommt dieser zusätzliche Schub seit 2011?

Damit hat sich Andrea Schultz, Mitarbeiterin im Amt für Statistik und Wahlen, einmal genauer beschäftigt. Sie hat die Herkunftsorte der Leipziger Zuzügler einmal nach Gemeindegrößenklassen sortiert. Das Ergebnis: Während die Zuwanderung aus Gemeinden mit unter 20.000 Einwohnern (Dörfern und Kleinstädten) und aus Städten mit bis zu 100.000 Einwohner seit 2010 relativ stabil ist und munter immer weiter geht, hat seitdem die Zuwanderung aus anderen Großstädten (über 100.000 Einwohner) rapide zugenommen. Leipzig ist nicht mehr nur der Magnet im Herzen einer Metropolregion, die Stadt gewinnt mittlerweile auch zunehmend im Wettbewerb mit anderen Großstädten. Die zunehmende Zuwanderung aus dem Ausland kommt obendrauf. Und da Andrea Schultz den Saldo – also die Differenz zwischen Zu- und Wegzügen – ausgewertet hat, gewinnt Leipzig also eindeutig aus anderen Großstädten hinzu.

Was sich augenscheinlich mit der zunehmenden wirtschaftlichen Attraktivität der Stadt ergänzt. Das kommt – indirekt – auch dem benachbarten Halle zugute, das seit 2010 ähnliche Stabilisierungseffekte erlebt, wie sie Leipzig um das Jahr 2000 herum hatte. Die Stadt an der Saale, die in den 1990-er Jahren ein Viertel ihrer Einwohner verlor, wächst also wieder moderat. Auch in Halle ging ein großer Teil des Bevölkerungsverlustes nicht auf die Abwanderung in den Westen, sondern aufs Konto der Suburbanisierung – die Hallenser flüchteten in den 1990-er Jahren aus der heruntergewirtschafteten Innenstadt vor allem in den Saalekreis, so wie rund 70.000 Leipziger seinerzeit in die Landkreise um Leipzig, vor allem in den Muldekreis flüchteten. Und so wie in Leipzig die Sanierung der innerstädtischen Gründerzeitquartiere die Umkehr des Trends auslöste, so war es in Halle mit der Sanierung der Altstadt.

Aber Forscher bleiben skeptisch – auch Haase und Wolff. Da die Zuwanderungstrends noch relativ jung sind, sehen sie die Frage noch als offen an, ob die Entwicklungen in Leipzig und Halle nun Einzelphänomene in der (ost-)deutschen Landschaft bleiben oder schon einen Trend zu neuem Wachstum für die großen Städte zeigen.

Gute Frage. Denn bislang profitieren die großen Städte vor allem von Zuwanderung. Einen positiven Geburtensaldo haben bislang erst einmal nur Dresden und (seit 2014 erstmalig) Leipzig. Noch bekommen die ostdeutschen Frauen zu wenige Kinder. Was aber natürlich wieder die Frage nach den Infrastrukturen aufwirft, die neben vorhandenen oder fehlenden Schulen in “Wohnortnähe” auch Kindertagessstätten, Ärzte, Einkaufsmöglichkeiten, ÖPNV und vieles mehr betrifft.

Alles Dinge, die in den Köpfen vieler Politiker immer nur als “Kosten” auftauchen, nicht als Investitionen, obwohl es eindeutig welche sind. Wenn sie fehlen, entscheiden sich junge Menschen viel früher, als Politiker glauben, zum Weggehen. Und die Trends des Jahres 2015 sind alle schon vor 10, 15 Jahren angelegt worden.

Lebensgestaltung ist eine durchaus bewusste Sache, hat auch etwas mit (modernen) Lebensstilen zu tun, wie UFZ-Forscher Falk Abel in einem eigenen Beitrag analysiert hat.

Mehr dazu morgen an dieser Stelle.

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