Manchmal ist es einfach so, dass Dinge zusammenkommen, weil der Blick geschärft ist für ein Thema. Zum Beispiel die Frage: Warum wächst Leipzig eigentlich wieder? Kann es sein, dass da ganz alte Mechanismen einfach wieder in aller Stille wirken, obwohl verantwortliche Politiker alles dafür tun, genau das zu verhindern? Leipzigs Statistiker haben sich der Sache mal angenommen.

Natürlich unter einem anderen Blickwinkel, angeregt durch eine Äußerung von Oberbürgermeister Burkhard Jung, der in seiner überschwänglichen Freude über das aktuelle Bevölkerungswachstum gleich mal den Vergleich zu “vor 100 Jahren” zog. Auch damals wuchs Leipzig mit einem Tempo, das die Baufirmen faszinierte und die Ratsherren ratlos machte. Und doch war da einiges etwas anders.

Den Auftrag, sich mal mit den alten Zahlen zu beschäftigen, hat für den neuen Quartalsbericht der Stadt (Nr. 3 / 2015) Andreas Martin bekommen. Und er hat das Glück, dass die damalige Stadtverwaltung schon genauso emsig Daten zur Stadtentwicklung sammelte wie die heutige. Da kann man vergleichen. Und der Vergleich zeigt natürlich auch die Unterschiede. Der wichtigste: Das damalige Stadtgebiet war wesentlich kleiner als das heutige. 88,5 Quadratkilometer umfasste das Leipziger Stadtgebiet 1915. Und das war für die damalige Zeit schon mächtig gewaltig. Noch 1871 hatte das Stadtgebiet im Wesentlichen nur das alte mittelalterliche Stadtgebiet und die umliegende Leipziger Flur umfasst – 17,7 Quadratkilometer.

Aber da war die industrielle Entwicklung im Leipziger Westen und in den angrenzenden Dörfern schon in vollem Gang. In den 1880er Jahren stellte sich immer öfter die Frage: Werden aus den boomenden Industriedörfern neue Städte oder werden sie nach Leipzig eingemeindet? Und nicht nur bei Connewitz zögerten die Leipziger Ratsherren, den wachsenden Ortsteil einfach einzugemeinden, denn das bedeutete höhere Aufwendungen für Straßen, Schulen, Personal, Sozialversorgung, das bedeutete auch höhere Steuern, um das alles bezahlen zu können.

Aber ab 1889 war die Not so groß, dass eine regelrechte Eingemeindungswelle begann – nicht nur das Stadtgebiet vergrößerte sich gewaltig, mit den Eingemeindungen wuchs auch die Zahl der Leipziger. Hatte das eigentliche alte Leipzig 1885 noch 170.000 Einwohner, so hatte sich durch die Eingemeindungen von 1889 bis 1892 diese Zahl schon mit fast genau 400.000 mehr als verdoppelt. Und der Leipziger Rat bekam keine wirkliche Verschnaufpause, auch wenn er die nächsten Eingemeindungen erst wieder 1910 anging. Denn da in Leipzig und in den meisten der eingemeindeten Ortsteile die Schornsteine der Fabriken qualmten, zog Leipzig aus weitem Umkreis weiterhin Menschen an, die hier Brot und Erwerb finden wollen. Selbst der schlechteste Fabrikjob war meist besser als die kargen Angebote auf dem Dorf.

Deswegen wuchs Leipzig von 1890 bis 1905 unvermindert weiter, auch wenn in dieser Zeit nichts eingemeindet wurde.

Die Bevölkerungszahl stieg von 400.000 auf 550.000 an. Wohlgemerkt: in einem mit 88 Quadratkilometern deutlich kleineren Stadtgebiet als heute, wo es 297 Quadratkilometer sind. Hauptquelle des Wachstums war damals nicht wirklich der Zuzug. Da kann man, wenn man will – ganz im Sinn  von OB Jung – Parallelen sehen. Die wachsende Stadt bot immer mehr Industriearbeitsplätze und ganze Familien zogen mit Sack und Pack in die im Eilzugtempo hochgezogenen neuen Wohnquartiere, die von außen meistens gründerzeitlich hübsch verziert waren, in der Bausubstanz aber stark normiert und je nach Wohnviertel von durchaus unterschiedlicher Qualität.

Der wichtigste Unterschied zur Gegenwart – und das arbeitet Andreas Martin schön heraus – war der damalige Kinderreichtum. Da es ja vor allem junge, arbeitsfähige Menschen waren, die damals nach Leipzig zogen, war im Gefolge die Geburtenrate so hoch, dass Leipzig über Jahrzehnte einen ordentlichen Geburtenüberschuss hatte, der sich im Bereich von 6.000 bewegte.

Zwar war die Säuglingssterblichkeit (verglichen mit heute) ebenfalls enorm, aber rechnerisch lag die 1900 bei 35,5 Lebendgeborenen je 1.000 Einwohner. Zum Vergleich: Im Leipzig der Gegenwart lag sie seit den 1990er Jahren im einstelligen Bereich und hat sich erst ab 2010 auf Werte von 10,4 bis 11,6 berappelt. Und diese 11,6 haben im Jahr 2014 bedeutet, dass Leipzig nach fast 50 Jahren zum ersten Mal wieder einen leichten Geburtenüberschuss hatte. Eine stolze 400 stand da im Plus.

Der Vergleich, den Burkhard Jung gezogen hat, ist also ein bisschen schräg. Hauptwachstumsmotor war damals der hohe Geburtenüberschuss von im Schnitt 6.000, auch wenn die Stadt durch Zuzug jährlich auch noch 4.000 Bewohner dazu gewann. Der Zuzug ebbte bis zum 1. Weltkrieg übrigens nie ab. Aber einen vergleichbaren Wanderungssaldo von 4.000 hatte das heutige Leipzig vor allem in den Jahren 2000 bis 2009.

Seitdem hat sich der Saldo  ja bekanntlich mehr als verdoppelt. Was darauf hindeutet, dass die alten – auch zwischen 1890 und 1910 spürbaren – Konzentrationsprozesse um die wirtschaftlich wachsende Stadt so auch auf das heutige Leipzig zutreffen. Aber seit 2010 sind noch andere Effekte dazu gekommen, die eine neue Qualität mit sich gebracht haben, mit der weder die Landespolitik noch die Leipziger Stadtplaner umgehen können.

Man kann versuchen, das Ganze unter dem modernen Begriff “Metropolregion” zu diskutieren, eine Diskussion, die überhaupt noch nicht wirklich begonnen hat, weil augenscheinlich die kompletten Landespolitiken in Dresden, Magdeburg und Erfurt von der Leitlinie “Schrumpfung” besessen sind.

In der nächsten Ausgabe der “Leipziger Zeitung”, die am 11. Dezember erscheint, gehen wir darauf mal ein wenig ein.

Zum neuen Quartalsbericht der Stadt:

Der Statistische Quartalsbericht III / 2015 ist im Internet unter http://www.leipzig.de/statistik unter „Veröffentlichungen“ einzusehen. Er ist zudem für 7 Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) beim Amt für Statistik und Wahlen erhältlich.

Postbezug: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen, 04092 Leipzig
Direktbezug: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen, Burgplatz 1, Stadthaus, Zimmer 228

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