Karlsruhe habe die Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes deutlich gemacht, deshalb sei es an der Zeit, es zu streichen. Das sagt die Leipziger Bundestagsabgeordnete Monika Lazar im L-IZ-Interview. Auch Leipzig müsse gelebte Weltoffenheit und Toleranz noch ein Stück weit üben, so die Grünen-Politikerin.

Monika Lazar ist für die Fraktion Bündnis90/Die Grünen Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus und Sprecherin für Frauenpolitik.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Geldleistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Die Grundstruktur des Gesetzes, wonach für Asylsuchende ein gegenüber dem Sozialhilfeniveau deutlich abgesenktes Existenzminimum definiert wird, hat auch sieben Jahre Rot-Grün überdauert. Was empfinden Sie nach dem Karlsruher Urteil?

Ich freue mich und bin erleichtert über das Urteil. Wir Bündnisgrünen engagieren uns seit langer Zeit für das, was das Gericht nun bestätigt hat: Menschenwürde ist unteilbar, die Grundsätze unserer Verfassung gelten für alle Menschen in Deutschland.

Aus meiner Sicht ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Asylsuchende das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum besitzen. Gleiches muss auch für eine vollumfängliche medizinische Versorgung von Asylsuchenden und Geduldeten gelten. Die Beschränkung auf die Behandlung “akuter Schmerzzustände” ist nicht akzeptabel. Ich hoffe sehr, dass die Entscheidung des Gerichts ein Anstoß für umfassende Änderungen im Umgang mit Asylsuchenden sein wird.Die Grünen sprechen sich wie Wohlfahrtsverbände und Kirchen für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes aus. Sehen Sie nun eine Möglichkeit, das Gesetz in Gänze zu canceln?

Wir besitzen derzeit keine parlamentarische Mehrheit im Deutschen Bundestag. Die Regierungskoalition ist gefragt. Bereits im November 2010 gab die Bundesregierung öffentlich zu, dass die abgesenkten Leistungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes verfassungswidrig sind. Unternommen hat sie seitdem aber nichts.

Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit weiter Teile des Gesetzes sehr deutlich gemacht. Das Gericht griff zum Instrument der Übergangsregelung, was die Bedeutung klar herausstellt. Aus unserer Sicht ist es jetzt an der Zeit, eine komplette Neuregelung in Angriff zu nehmen und im Zuge dessen das Asylbewerberleistungsgesetz zu streichen.

Karlsruhe sagt im Kern, dass es nur ein soziokulturelles Existenzminimum geben kann, und zwar unabhängig vom rechtlichen Status des Menschen. Zuwanderungssteuerung über eine abgestufte Sozialgesetzgebung, wie sie im Asylkompromiss von 1993 vereinbart wurde, ist von daher tabu. Wie soll der Gesetzgeber diesen Auftrag aus Ihrer Sicht umsetzen?Die Diskriminierung muss ein Ende haben. Wir fordern die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Hierzu haben wir bereits 2010 einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht: Der Ansatz war rechtlich immer schon unhaltbar. Die Menschenwürde gilt universal und nicht abgestuft.

Zum soziokulturellen Existenzminimum zählt in Deutschland seit langem das Recht auf eine “angemessene”, aber in jedem Fall eigene Wohnung. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht für die Unterbringung von Asylsuchenden?

Wir wollen eine dezentrale Unterbringung in gewachsenen Wohngegenden. Jede Form von Ausgrenzung lehnen wir ab. Es ist ein Prinzip der Demokratie, dass alle hier lebenden Menschen ein aktiver Teil der Gesellschaft werden dürfen und sollen. Dazu gehört eine Wohnsituation, die öffentliche Teilhabe und einen ungezwungenen, alltäglichen Kontakt zu Deutschen ermöglicht. Auch für die einheimische Bevölkerung bringt dies die Chance mit sich, Ängste und Vorurteile abzubauen. Das Stichwort lautet hier insbesondere: Kontaktflächen schaffen, Gemeinschaftsunterkünfte begrenzen.

Am Tag der Karlsruher Entscheidung hat der Leipziger Stadtrat das neue Konzept “Wohnen für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Leipzig” beschlossen. Wie haben Sie als Leipzigerin die Debatte im Vorfeld der Entscheidung erlebt?Ich denke, in der Debatte sind viele Fehler gemacht worden. Man hat versucht, das Konzept nach dem Motto “Augen zu und durch” umzusetzen. Bei solch einem sensiblen Thema, das Befürchtungen in der Bevölkerung auslöst, ist das ein gefährlicher Weg. Allerdings tragen auch die Parteien eine gehörige Mitschuld daran, dass die Debatte zum Teil so entgleist ist. Beispielsweise hat die CDU im Stadtrat damals eine frühzeitige öffentliche Beteiligung bei der Erarbeitung des Konzeptes abgelehnt, um jetzt zu beklagen, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht gefragt wurden.

Die Debatte in Leipzig hat auf Probleme hingewiesen. Wir müssen uns hier ganz intensiv mit den Vorurteilen, die bei den Diskussionen offenkundig wurden, auseinandersetzen und überlegen, wie wir sie abbauen können. In diesem Bereich muss Leipzig gelebte Weltoffenheit und Toleranz noch ein Stück weit üben.

Wie zukunftsfähig ist das neue Leipziger Konzept vor dem Hintergrund der Karlsruher Entscheidung aus Ihrer Sicht?

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Das Leipziger Konzept besteht aus mehreren Teilen. Diskussionen hat vor allen Dingen die Fragestellung zu den Gemeinschaftsunterkünften ausgelöst.

Gemeinschaftsunterkünfte sind zunächst einmal vorgeschrieben. Dass sich die Stadt nach dem Antrag von Grünen und Linken verpflichtet hat, die Gemeinschaftsunterkünfte auf maximal 50 Personen zu begrenzen, ist begrüßenswert. In die richtige Richtung weist auch die Tatsache, dass die im Konzept veranschlagten 7,5 Quadratmeter pro Person bereits höher sind als gesetzlich vorgeschrieben – wobei ich das noch lange nicht für ausreichend halte. Bemängeln muss ich allerdings, dass es an zentrumsnahen Gemeinschaftsunterkünften fehlt.

Das Leipziger Konzept ist in weiten Teilen zukunftsfähig und kann gleichwohl nur ein erster Schritt sein. Aus meiner Sicht hätten auch die Asylsuchenden und der Flüchtlingsrat bei der Erarbeitung des Konzeptes deutlich stärker mit einbezogen werden müssen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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