Vor Weihnachten hat die Leipziger CDU-Fraktion alle Hebel in Bewegung gesetzt, um noch einmal politisch so richtig Remmidemmi zu machen. Zumindest eines hat die derzeit größte Fraktion im Leipziger Stadtrat geschafft: die Abstimmung über den neuen Stadtentwicklungsplan (STEP) Verkehr zu verschieben. Eine Behandlung im Wirtschaftsausschuss sollte noch passieren. Die ist nun passiert. Und das Ergebnis: Der STEP wird wohl fast genauso beschlossen wie geplant. Wofür also der Aufstand?

Ein Aufstand, der ja mit der Behandlung im Wirtschaftsausschuss nicht zu Ende war. Denn gleich drauf erfand die Leipziger Volkszeitung (LVZ) munter einen kleinen Aufstand im Wirtschaftsausschuss und meinte, der Widerstand gegen den Plan wachse. Tags drauf musste sie den Text dementieren. Denn tatsächlich sind sich die Ratsfraktionen relativ einig, wie wichtig diese Weichenstellung für Leipzigs Verkehr ist. Nur eine nicht: die CDU-Fraktion, die den knapp 100-seitigen STEP wahrscheinlich nicht mal gelesen hatte, bevor ihn die Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau Ende Oktober der Presse vorstellte.

Die Presse bringt solche Pläne ja immer so schön konzentriert. Als Häppchen. Da muss man nicht so viel lesen. Und die LVZ machte genau das, was man von ihr erwarten konnte: Sie beschäftigte sich auch nicht allzu zu sehr mit dem ganzen dicken Heft (in dem es fette fünf Seiten gibt, auf denen ausführlich erklärt wird, dass Wirtschaftsverkehr in Leipzig Priorität hat), sie suchte sich lieber Futter für eine fette Brandmeldung und knallte entsprechend den im STEP erwähnten “Modal Split” in die Mitte.

Doch der hat einfach nichts mit dem Wirtschaftsverkehr zu tun. Das bekommt jeder mit, der das 97-Seiten-Werk liest.

Dass man das in der CDU-Fraktion irgendwie nichts getan hat, gibt man jetzt selber zu. Indirekt in einem Änderungsantrag zur Beschlussfassung, die am 21. Januar im Stadtrat über die Bühne gehen soll.

Und wer erwartet hätte, die CDU-Fraktion formuliert nun reihenweise Änderungstexte zu dem, was alles im STEP Verkehr ihrer Ansicht nach gegen die Wichtigkeit des Wirtschaftsverkehrs verstößt, der sieht sich eines Besseren belehrt. Denn was schon drin steht, muss man ja nicht ändern.

Und so wünscht sich die CDU-Fraktion die Änderung allein im Beschlusstext an zwei Stellen. Die erste:

“Beschlusspunkt 2 wird durch folgenden neuen Satz ergänzt: Die Umsetzung dieser Planungsgrundsätze erfolgt vorrangig mittels Angeboten und Anreizen.”

Aber der Satz steht da ein bisschen mitten in der Luft, so wie ein kleines Echo auf die in den letzten Wochen vielfach vorgetragenen Vorwürfe, die Stadt würde ihre Verkehrspolitik vor allem mit Verboten und Einschränkungen betreiben und gar ohne Absprache mit den Betroffenen. Das Gegenteil ist der Fall – und der in monatelangen Diskussionen entwickelte neue STEP Verkehr ist ebenfalls so entstanden: In der Diskussion mit Bürgern, Initiativen, Verbänden und Vereinen. Und sogar die fertige Fassung wurde öffentlich seit Februar zur Diskussion gestellt.
344 Stellungnahmen gab es dazu. Sie liegen den Stadtratsfraktionen als Abwägungsprotokoll alle vor – mit Stellungsnahmen der Verwaltung, welche Anregungen übernommen wurden und welche nicht und warum nicht.

Auch dieses 67 Seiten umfassende Protokoll liegt den Fraktionen seit Juli vor. Man hätte den ganzen Sommer zur Verfügung gehabt, sich damit auseinanderzusetzen. Hat man zumindest bei der CDU augenscheinlich nicht. Man wurde erst munter, als die LVZ mit fetter Überschrift eine dramatische Entscheidung gegen den Leipziger Wirtschaftsverkehr beschwor. Da hängte man sich dran und bestellte sich aus den Kammern noch Unterstützung.

Auf die Stadtverwaltung prasselten gleich mehrere Positionspapiere ein, die CDU und LVZ gleich wieder freudig aufgriffen: Jetzt kam ja der Protest direkt aus den Kammern!

Aber auch zu all diesen Positionspapieren gibt es mittlerweile eine ausführliche Stellungnahme des Planungsdezernats, die ebenfalls den Fraktionen vorliegt. Jedes einzelne Argument gleicht diese Stellungnahme mit den Passagen im STEP-Entwurf ab. Und siehe da: Nirgendwo steht die an die Wand gemalte Beeinträchtigung des Wirtschaftsverkehrs.

Besonders ausführlich erklärt die Verwaltung, was eigentlich “Modal Split” ist und warum weniger Autoverkehr auf Leipzigs Straßen tatsächlich mehr Platz für Wirtschaftsverkehr bedeutet. Wer die letzten drei Jahre an der Diskussion und all den verschiedenen Workshops und Foren teilgenommen hat, der weiß es eigentlich. Der weiß auch, dass es in Leipzig keine Verkehrsplanungen mehr gibt, bei denen nicht die Wirtschaftsverbände mit am Tisch sitzen und wesentlich mitbestimmen, dass es wirklich keine Beeinträchtigungen für den Wirtschaftsverkehr gibt.

Irgendwie hat man das jetzt wohl auch bei der CDU eingesehen. Aber um das Thema nicht ganz fallen zu lassen, will man das wenigstens in der Beschlussfassung noch einmal betonen und möchte einen neuen Beschlusspunkt 3 eingeschoben haben: “Die grundlegenden Maßnahmen zur Umsetzung des STEP Verkehr und öffentlicher Raum werden mit den maßgeblichen Kammern und Verbänden, insbesondere der Wirtschaft, diskutiert und abgestimmt.”

Wie gesagt: Das ist in Leipzig schon Praxis. Das wurde zuletzt in den intensiven Beteiligungsprozessen zum Parkraumkonzept Sportforum, zum Umbau der “KarLi” oder zum Umbau der Könneritzstraße genau so praktiziert.

Aber das ist auch der Punkt, an dem die CDU-Fraktion durchblicken lässt, wo sie sich eigentlich über die Stadtpolitik informiert.

Denn in ihrer Begründung liest man nun: “In den durch die Verwaltung veranlassten Presseveröffentlichungen wurden vorrangig diejenigen Maßnahmen beschrieben, die mittels Verboten die Strategie des STEP umsetzen sollen. Dies wird aber den vielen Ansätzen für verbesserte Angebote im ÖPNV, im Wirtschaftsverkehr usw. nicht gerecht. Darum soll auch auf dem Beschlussdeckblatt erkennbar sein, dass Angebote und Anreize ein wesentlicher Teil der Leipziger Verkehrspolitik sind.”

Wahrscheinlich lacht sich jetzt die gesamte Kommunikationsabteilung im Rathaus ins Fäustchen: Wenn man über solche “durch die Verwaltung veranlassten Presseveröffentlichungen” die öffentliche Meinung beeinflussen könnte, wäre das Verwaltungsleben in Leipzig wahrscheinlich richtig schön. So wie früher.

Aber dass die “Presse” so ausgiebig über drohende Verbote berichtete, mittels derer “die Strategie des STEP” umgesetzt werden soll, das war eine reine Erfindung einer einzigen Zeitung: der LVZ. Daher hat die CDU den Eindruck, nirgendwo her sonst. Was eigentlich peinlich ist für eine Fraktion, die seit Februar und Juli die Originaldokumente aus der Verwaltung auf dem Tisch hat – und sie einfach nicht liest.

Jetzt versucht die Fraktion ein wenig die Kurve zu kriegen und sich als Sachwalter der Bürgerbeteiligung zu positionieren. Denn weiter heißt es in der Begründung: “Alle Akteursgruppen, sowohl die Umweltverbände als auch die Unternehmerverbände und Kammern, eint die Sorge, wie der STEP zur Umsetzung kommt. Die Umweltverbände reagierten mit der Forderung nach einer Verschärfung der Ziele zum Modal Split, die Unternehmerverbände mit den uns bekannten öffentlichen Positionierungen. Letztlich geht es aber darum, dass sich die Umsetzungsmaßnahmen für wesentliche Ziele des STEP nicht in ihren Wirkungen gegenseitig ausschließen. Um dem vorzubeugen und um eine dauerhafte Kultur des verkehrspolitischen Diskurses zum Wohle unserer Stadt zu etablieren, bedarf es der verlässlichen Einbeziehung anerkannter Multiplikatoren. Dazu ist eine Form zu finden, die von allen Seiten (Verwaltung, Verbände und Kammern) inhaltlich und organisatorisch auszufüllen ist.”

Als gäbe es diese Form überhaupt noch nicht.

Aber es gibt sie schon seit Jahren. Und es steht so auch im STEP. Gleich in den Allgemeinen Planungsgrundsätzen zum Beispiel: “Information und Beteiligung vermindern Konflikte und erleichtern Konsenslösungen, die mit Zeit und Geduld ausgehandelt werden müssen. Eine konsensorientierte Entscheidungsfindung verbessert die Akzeptanz von Maßnahmen.” Dazu finden nicht nur öffentliche Foren statt, sondern auch Werkstätten, bei denen sie alle mit am Tisch sitzen – von Dehoga bis IHK.

Möglich, dass heute das nächste Positionspapier auftaucht. Die Kammern haben am gestrigen Donnerstag zu einer weiteren Diskussionsrunde eingeladen – diesmal die Fraktionen aus dem Stadtrat direkt.

Was am Ergebnis nichts ändern wird. Denn kein einziger der Kritikpunkte hat tatsächlich mit dem Leitpapier zu tun, das im Stadtrat zur Beschlussfassung kommt.

Und wer den Wirtschaftsverkehr und seine Rolle in diesem 100-Seiten-Werk sucht, braucht eigentlich nur bis Seite 5 blättern. Da steht er schon erwähnt: “Die Attraktivität der Stadt als Wirtschaftsstandort hat auch in Zukunft hohe Priorität. Voraussetzung dafür ist ein Verkehrsnetz, das sowohl attraktive Verbindungen mit dem gesamten Bundesgebiet und darüber hinaus als auch zuverlässige und sichere Verknüpfungen im engeren Wirtschaftsraum und innerhalb der Stadt gewährleistet. Dazu gehören eine störungsfreie und kosteneffektive Abwicklung des Güterverkehrs und des Personenwirtschaftsverkehrs ebenso wie die Erreichbarkeit der Arbeitsplätze und der zentralen Handels- und Dienstleistungsstandorte. Vorhandene und neue Arbeitsplatzgebiete bedürfen einer leistungsfähigen Erschließung.

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