Mügeln? Da war doch was. Aber was? Die Heinrich-Böll-Stiftung hat jetzt eine Studie über die Ermittlungen und Bewertungen zur rassistischen Hetzjagd im sächsischen Mügeln 2007 vorgestellt. Sieben Jahre nach dem Vorfall hat sich Dr. Britta Schellenberg vom Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft des Themas angenommen und dabei auch ein kritisches Porträt einer typischen sächsischen Provinzstadt gezeichnet.

“Es ist ungeheuer wichtig, dass das Geschehen von Mügeln noch einmal von unabhängiger Seite aufgearbeitet wurde. Die rassistisch motivierte Hetzjagd auf mehrere Inder im Jahr 2007 war bereits damals ein erschreckendes Beispiel für den manifesten Rassismus, dem sich Migrantinnen und Migranten in Sachsen immer wieder ausgesetzt sehen”, stellt Miro Jennerjahn, Rechtsextremismus-Experte der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag, dazu fest. “Die Hetzjagd war auch ein beredtes Beispiel für den in Sachsen häufig zu beobachtenden Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus: Staatsregierung und Kommunalpolitik waren sich schnell einig, dass alles nicht so schlimm, eine ‘Erfindung der Medien’ war. Mehr noch, die eigentlichen Opfer wurden zu Tätern erklärt.”

Der Fall sorgte damals deutschlandweit für Aufsehen. Beim Altstadtfest in Mügeln war es in der Nacht vom 18. zum 19. August 2007 zu einer regelrechten Hetzjagd auf mehrere indische Festgäste gekommen, die nach ihrer Flucht vor einer gewalttätigen Meute in einer nahe gelegenen Pizzeria Zuflucht suchten und dort weiter von einer aggressiven Gruppe bedroht wurden. Die ersten Polizeiprotokolle sprechen eine deutliche Sprache, sie erzählen von rassistischen Parolen und Aufrufen zur Gewalt gegen die Bedrohten, sie erzählen von stadtbekannten Rechtsextremisten und ihrer eindeutig szenetypischen Bekleidung. Und sie erzählen von per Mobiltelefon herbeigerufenen Personen aus der näheren Umgebung, die sich an der Eskalation der Gewalt beteiligten, die erst durch Eingreifen massiver Polizeikräfte beendet werden konnte.

Eigentlich ein eindeutiger Vorgang, der durch Dutzende Zeugen untermauert wurde. Doch dann kam alles irgendwie anders. Davon erzählen nicht nur Medienberichte und verdruckste Statements von Bürgermeister und Staatsregierung. Davon erzählen auch die Polizeiprotokolle, deren Tonfall sich auf einmal änderte, die Auskünfte der Staatsregierung an den Landtag und die dünnen Berichte des Verfassungsschutzes. Schon kurz nach dem gewalttätigen Vorfall begann eine allgemeine Umdeutungswelle. Mügelns Bürgermeister Gotthard Deuse (FDP) war der erste, der den Verdacht offiziell von sich wies, der Gewaltausbruch könnte rechtsradikale oder gar rassistische Ursachen haben. So kurz nach dem Ereignis könnte das durchaus noch als Versuch gewertet werden, sich gegen einen “generellen Rechtsextremismusverdacht” gegen die 4.500-Einwohner-Stadt zu verwahren. Erste Äußerungen der damaligen milbradtschen Staatsregierung klangen ganz ähnlich.

Und man kann die Verhörprotokolle des Staatsschutzes, der dann zum Einsatz kam, wohlwollend auch so lesen, dass die Beamten eifrigst bemüht waren, den Vorfall als reinen Gewaltexzess unter Jugendlichen zu interpretieren. Doch das genaue Lesen bestätigt diese These nicht. Hier wurden – auch durch die ersten Polizeiprotokolle bestätigt – eindeutig fremdenfeindliche Ausschreitungen, bei denen einschlägig bekannte Täter aus dem rechten Milieu agierten, versucht, völlig umzudeuten. Gezielt wurde sogar nach Zeugen gesucht, die belegen sollten, dass die indischen Festgäste diejenigen waren, die für die Auslösung der Gewaltspirale eigentlich verantwortlich gewesen sein sollen.

Dass die Arbeit der Polizei da dem örtlich gepflegten Selbstbild erstaunlich nahe kam, belegte dann ein völlig wirklichkeitsfremdes Interview, das Gotthard Deuse der “Jungen Freiheit” gab. In einer kurzen Analyse geht Schellenberg auf die Mügelner Gesellschaftsstrukturen ein, die denen in Dutzenden anderen sächsischen Kommunen wohl bis aufs Haar ähneln – die wirtschaftlichen Umbrüche liegen über 15 Jahre zurück, aber so richtig erholt hat sich die kleine Stadt davon nicht. Sie ist von Abwanderung geprägt, deutlich überaltert und die jungen Frauen fehlen. Unterschwellig herrscht ein überall spürbarer Paternalismus, der sich auch in hohen Wahlergebnissen für Gotthard Deuse und die FDP niederschlägt. Er ist ein Mann, der seine Mitbürger nicht zur Auseinandersetzung zwingt, sondern – ganz Vater seiner Gemeinde – alles, was auch nur einen Schatten auf Mügeln werfen könnte, beiseite wischt. Rechtsextremismus ist aus seiner Sicht kein Thema in Mügeln.Dass sich gerade junge Männer abseits der Stadtgesellschaft längst zu gewaltbereiten Cliquen, die rechtes Gedankengut pflegen, zusammen getan haben, wird ignoriert. Stattdessen wird ein Wir-Bild gepflegt, in dem es “natürlich keinen Rechtsextremismus” gibt. Dennoch werden fremdenfeindliche Urteile gepflegt. Das taucht selbst in den Polizei-Protokollen wieder so auf, wo den “deutschen Jugendlichen” die “Inder” gegenübergestellt werden, die sich auf “ihrem” Altstadtfest nicht richtig benommen hätten. Und die Staatsregierung befleißigte sich eifrig, auch ihrerseits ein Mäntelchen über die Vorfälle zu breiten. Ein Vorgang, der recht typisch zeigt, wie unterm Mantel des Schweigens und Vertuschens rechtsradikale Strukturen im ländlichen Raum heranwachsen konnten. Die Gewaltorgie in Mügeln vom August 2007 war dabei sogar erst der Auftakt für eine Reihe rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Gewalttaten im beschaulichen Mügeln. Das aber brachte dann auch wieder nur eine Anfrage im Landtag ans Licht.

Die sächsische Staatsregierung übte sich im Vertuschen.

“Ein besonderes Problem stellte die staatliche wie politische Bearbeitungspraxis (lokal und regional, nicht bundespolitisch) im ‘Fall Mügeln’ dar”, stellt Britta Schellenberg fest. “Die Analyse konnte die weitgehende Desinformation der Öffentlichkeit durch staatliche Institutionen – vor allem der Polizei, des polizeilichen Staatsschutzes, des Verfassungsschutzes und des Mügelner Bürgermeisters, aber auch der Sächsischen Staatsregierung ans Licht bringen und zeigen, zu welch problematischen Entwicklungen diese beiträgt. So war es im Fall Mügeln nicht möglich, sich über staatliche Quellen und öffentliche Aussagen von Polizei und Justiz ein adäquates Bild des Geschehens zu machen. Im Gegenteil, ich konnte zeigen, dass falsche Informationen und rassistische Stigmatisierungen durch Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutz in die Debatte eingebracht wurden.”

Als hätte man die übliche sächsische Politik im Umgang mit dem Rechtsextremismus direkt vor Augen. Auch in anderen Landesteilen wurden die zunehmenden Umtriebe gewaltbereiter rechter Gruppen über Jahre ignoriert und geleugnet. Bürgermeister und Parteien vor Ort scheuten die Auseinandersetzung genauso wie die klare Abgrenzung. Der paternalistische Alles-ist-gut-Mantel deckte alles zu – bis die rechten Schläger in die Parlamente einzogen und sich als neue politische Kraft gerierten.

“Die Studie liefert erschreckende Indizien dafür, dass eine abwiegelnde politische Rahmensetzung durch Staatsregierung und Kommunalpolitik dazu führen kann, dass Ermittlungen nicht mehr sachgerecht geführt werden”, sagt Miro Jennerjahn. “Die Staatskanzlei sowie das Innen- und Justizministerium wären gut beraten, die in der Studie erhobenen Vorwürfe nicht einfach beiseite zu fegen, sondern diese ernsthaft zu prüfen. Solche Fehler dürfen sich nicht wiederholen, denn sie befördern schlussendlich die Ausbreitung von Rassismus und Neonazismus – was ebenfalls beispielhaft in Mügeln zu beobachten ist.”

Womit Jennerjahn zumindest einen gewissen Grad an Naivität an den Tag legt. Denn diese Schönfärberei hat in Sachsens Regierung System, sie taucht nicht überraschenderweise mal als Fehler auf. Sie ist – auch das zeigt Britta Schellenberg – eng verquickt mit der in Sachsens CDU gepflegten Denkweise Rechtsrextremismus = Linksextremismus, die dann zum Beispiel zu den ausufernden Strafverfolgungen gegen Teilnehmer der Dresdner Gegendemonstrationen vom Februar 2011 geführt haben. Sie hinterlassen bis heute den Eindruck, dass hier vor allem “Nestbeschmutzer” verfolgt werden sollen, die mit ihrem öffentlichen Protest gegen unerträglich gewordene Neonazi-Aufmärsche den heiligen Frieden stören.

“Die Mügelner Situation ist nicht typisch für ‘die Mügelner’, sondern zeigt, welche Bedingungen zur Entwicklung rassistischer Hegemonien führen, in denen sich die extreme Rechte ausbreiten kann”, stellt Britta Schellenberg nach ihrem umfassenden Studium der Akten und Medienberichte zum “Fall Mügeln” fest. “Die Grundlage bilden rassistische Vorurteilsstrukturen, aggressiv geprägte Lebenswelten und autoritäre Problembearbeitungsstrukturen. In einem Konfliktfall wie in Mügeln treten Wahrnehmungsdefizite durch offiziöse Fehlkategorisierungen hinzu. Es geht hier um die Deutungsangebote des Extremismusbegriffs, durch den die eigentlichen Probleme wie Ungleichwertigkeitsvorstellungen, Rassismus und Neonazismus im Diskurs verschwinden.”
Eine Frage kann sie natürlich in diesem Zusammenhang nicht klären: Ist das von den sächsischen Verantwortlichen bewusst so gewollt? Oder beschreibt es ihre Denk- und Wahrnehmungshorizonte? Beides würde die Tragik des sächsischen Regierungsmodells benennen, das im Kern immer ein Versuch der Uminterpretation der Wirklichkeit ist. Schellenberg spricht ganz bewusst von Narration, die schon in den Vernehmungsprotokollen der Polizei beginnt: Wenn man einen rassistischen Hintergrund der Gewaltorgie nicht wahrhaben will, dann muss man die ganze Geschichte umerzählen. Am Ende – und so klingt es auch in etlichen offiziösen Stellungnahmen an – waren die Inder schuld an allem. Und bei den Gewalttätern handelte es sich dann nur noch um ein paar Jugendliche, die aneinander geraten sind.

Alles friedlich in Sachsens kleinen Städten.

Und das Landesamt für Verfassungsschutz, das eigentlich dazu da ist, die Gesellschaft vor solchen gesellschaftszerstörenden Tendenzen zu warnen? – Ein Totalausfall.

“Allerdings wirft die Antwort des Staatsministers des Innern auf die Anfrage ‘Ausbreitung des Rechtsradikalismus in Mügeln und im Landkreis Nordsachsen’ vom August 2013 grundsätzliche Fragen zu Sinn und Wirken des ‘Verfassungsschutzes’ auf”, schreibt Schellenberg. “Seiner Aufgabe, Staatsregierung, Landtag und Öffentlichkeit über Bedrohungen zu informieren als auch vor der Ausbreitung und Aggressivität ‘der Demokratiefeinde’ zu schützen, ist er im Fall Mügeln auch nicht ansatzweise nachgekommen.”

Es ist wie beim Fallkomplex “NSU”. Der Schutz der rechtsradikalen Zuträger, der so genannten V-Männer, ist dem Verfassungsschutz so wichtig, dass er ein Preisgeben seiner Informationen regelrecht verweigert. “Der Staatsregierung liegen zu der Kleinen Anfrage auch Erkenntnisse vor, deren Mitteilung überwiegende Belange des Geheimschutzes (Art. 51 Abs. 2 SächsVerf) entgegenstehen. Es handelt sich dabei um Informationen, die (…) als Verschlusssache eingestuft wurden. Die Einstufung erfolgte zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) Sachsen und zum Schutz nachrichtendienstlicher Zugänge. Die Informationen sind durch nachrichtendienstliche Mittel (§ 5 Abs. 1 SächsVSG) erlangt worden (…)”, zitiert Schellenberg eine solche Antwort der Staatsregierung zum Thema.

“Die interessierte Betrachterin stellt sich die Frage: Was hat der Verfassungsschutz zur Aufklärung des Vorfalls in Mügeln, gegen die Entwicklung der rassistischen Hegemonie vor Ort und die Ausbreitung der extremen Rechten in Mügeln eigentlich beigetragen?”, fragt sich die Autorin der Studie. “Und weiter: Was nützen eigentlich Erkenntnisse des ‘Verfassungsschutzes’, wenn weder Parlament noch Öffentlichkeit informiert werden und sich deshalb von der Wirklichkeit abweichende Narrative vor Ort entwickeln können?”

Ja, sichtlich nichts. Sie unterstützen eher die Haltung der Lokalpolitiker, die höchst besorgt sind, ihre Gemeinde könnte irgendwie ins Zwielicht geraten. Das Ergebnis ist ein ideales Umfeld für genau jene rechtsextremen Strukturen, die dann selbst so viel Angst verbreiten, dass sie eine ganze Region zum Schweigen und Weggucken bringen können.

“Die Studie macht deutlich, wie wichtig ein unabhängiges Monitoring bei rassistischen Übergriffen ist”, meint Jennerjahn. “Dies wird unter anderem durch die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, den RAA Sachsen, geleistet. Das Wissen der Opferberatung müssen ermittelnde Behörden und die unterschiedlichen politischen Ebenen aber auch wahrnehmen wollen, damit solche Ereignisse aufgearbeitet werden können und eine Stärkung von Zivilgesellschaft und Demokratie daraus erwachsen kann.”

Tatsächlich beginnt die Aufklärung schon früher. Und tatsächlich stehen auch Bürgermeister und Stadtparlamente in der Pflicht. Sie sind es, die auch öffentlich Grenzen ziehen müssen.

Was in Mügeln bis heute schwer fällt. Britta Schellenberg zitiert die Chronik, die die Stadt auf ihrer Website bis heute bereit hält. Und der Leser staunt nicht nur, wie dicht die Datenlage aus der NS-Zeit von 1933 bis 1945 ist. Er staunt auch, dass der Propaganda-Ton der Nazis dort unkommentiert zitiert wird. Ein kritischer Kommentar zu dem, was da einfach übernommen wurde, ist ebenso wenig zu finden.

Mit solchen Dingen fängt es an. Im Kleinen. Das sollte man mittlerweile auch in Mügeln begriffen haben.

Zur Information auf der Website der sächsischen Heinrich-Böll-Stiftung: www.weiterdenken.de/web/publikationen-1501.html

Direkt zur Studie: www.weiterdenken.de/downloads/Muegeln_Download.pdf

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