8.000 waren es auf der Demonstration „Leipzig für Alle“ – natürlich nicht. Noch nicht, wenn in Leipzig angesichts der verbliebenen rund zwei Prozent Wohnungsleerstand nicht nachhaltig umgesteuert wird. Runde 1.000 kamen am 20. April ab 16 Uhr bei der ersten Demo, um ihrem Unmut über eine inganggesetzte Spekulations- und Mietschraube in Leipzig Luft zu verschaffen. Denn aus anfänglichen Geschichten um Entmietungsversuche im Jahre 2011 – ja, schon sehr lange her – ist ein System geworden, was vor allem junge und ältere Menschen in Leipzig ganz systematisch an die Wand drückt. Wenn diese dann in der eigenen Wohnung steht, werden die ersten wirklich rebellisch.

Kein Wunder, denn die Zahlen sind bekannt: Leipzig fehlen bereits zirka 40.000 bezahlbare Wohnungen und der Lohnanstieg entwickelte sich eben nicht so dynamisch wie im Westdeutschland der Wirtschaftswunderjahre. Der Druck steigt also rascher, wie so oft eher über die Hinterhöfe und kleinen Einkommen. Letztere sind in Leipzig kein Randphänomen – die Menschen der zweitärmsten Stadt Deutschlands (nach Dortmund, dem Einkommen nach) haben angesichts eines Durchschnittseinkommens pro Kopf von 1.400 Euro nichts zu verschenken.

Und spätestens wenn die Miete in den unteren Verdiensten am Essenseinkauf andockt, ist Schluss mit der eigenen Freiheit in Freiheit.

Der Demozug im Durchlauf des Tages. Video L-IZ.de

Angesichts des freundlich-ausweichenden Lächelns so mancher Passanten während des Zuges vom Augustusplatz durch die Leipziger Innenstadt, am Bahnhof vorbei Richtung Eisenbahnstraße, sind die Demonstranten gefühlt früh dran mit ihren Warnungen für die Umstehenden. Über (Miet)Geld zu sprechen ist noch immer mit Scham belegt, wo Schamlosigkeit Vergleichsperspektiven schafft.

Noch glauben viele Leipziger, gespeist aus den Erfahrungen bislang, dass sie ihre Mieten irgendwie individuell aushandeln werden. Während die Spekulation längst durch Leipzig rollt. Es ist die Spekulation darauf, dass sich am Ende noch genügend solvente Mieter finden, wenn der letzte Käufer eines Mietshauses aus der Spekulation versucht eine Miet- oder Eigentumsimmobilie zu machen.

Interview mit Anmelderin Irena Rudolph-Kokot (SPD, Leipzig nimmt Platz) zum Start auf dem Augustusplatz. Audio: L-IZ.de

Ob die billige Geldwelle abreißt, wenn die Zinsen weltweit wieder steigen und erneut viele Kleininvestoren Geld in Leipziger Immobilien verlieren wie Ende der 90er Jahre? Wer weiß, doch das Problem der aktuell angeheizten Mieten ist für immer mehr Leipziger längst greifbar und wird sich weiter aufschaukeln.

Noch gibt es sicherlich auch viele vernünftige Vermieter in der Messestadt – das Wissen um nicht wirklich hohe Einkommen haben vor allem ortsansässige Firmen mit lokalen Geldflüssen. Während an der Eisenbahnstraße beispielsweise längst international Haus um Haus die Besitzer von Österreich über Japan in die USA und wieder zurück wechselt und dabei durch den weltweiten Geldüberschuss „Betongold“ werden soll, ist die LWB beauftragt, 5.000 neue Wohnungen zu bauen. Dass sie kaum reichen werden und wohl auch später kommen als nötig, verdrängen auch Stadtpolitiker ebenso gern, wie jene im Landtag und Bund.

Gier frisst bekanntlich Hirn

Solang jemand das Haus kauft, was jemand mit Gewinn verkaufen will, steht die Frage, wer am Ende in Leipzig der „gebissene Hund“ sein wird. Wer also die Mieten zahlen soll, die übrigbleiben, wenn Häuser ein ums andere Mal bis an meist westdeutsche Kleinstanleger teurer weiterverkauft wurden. Oder der Kleinstanleger zieht selbst nach Leipzig und zahlt die kommenden Sanierungen.

Juliane Nagel als Sprecherin des neuen Netzwerks im Leipziger Süden. Video L-IZ.de

Dass sich auch in der Leipziger Bau- und Vermieterszenerie längst auch Spreu vom Weizen trennt, wurde auf der Demonstration mehrfach laut. Neben reinen Spekulationskäufen derzeit rings um die Eisenbahnstraße fiel auffällig oft der Name der ortsansässigen „Stadtbau AG“, wenn es um Umwandlungen von Wohnungen zu Kurzzeitappartements und Entmietungskonzepte ging (siehe Audio). Dass sich die Baufirma aus Geldern rings um München speist, ist längst Leipziger Allgemeingut, die Debatten um ihre Verhandlungsführung am Bayerischen Bahnhof und am „Jahrtausendfeld“ Legende.

Ein Spieler mit sehr viel Geld und Zeit, ein mächtiger Käufer der Stadt Leipzig ebenso, was ihm ein lautes „Buhhh“ der Demonstranten am Firmensitz im Leipziger Zentrum einbrachte.

Die Leipziger Wohnungsbaugesellschaft (LWB) stand ebenso in der Kritik – hier jedoch unterlegt mit der Hoffnung, Stadt und Freistaat mögen endlich etwas tun, um über die städtische Unternehmung in Leipzig mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Und die Aufforderung, Sanierungen der LWB transparenter zu gestalten, damit die Mieter wirklich mitreden und -gestalten können. Am Beispiel Leipziger Süden wurde deutlich, dass hier noch Defizite schlummern (siehe Audio).

Fazit: Das an einem Tag, wo es eher um Kritik am Bestehenden ging, wenig Zeit für neue Konzepte blieb, ist verstehbar. Deshalb haben wir nach Konzepten gefragt (siehe Interviews). Am Samstag, 21. April und am Sonntag, 22. April, läuft das „Forum – Recht auf Stadt“ im Ostpassage-Theater an der Eisenbahnstraße genau zu diesem Thema.

Audios der Redebeiträge Betroffener

Schilderung Karl-Heine-Straße, Stadtbau AG durch eine Mieterin auf dem Augustusplatz. Audio: L-IZ.de

 

Schilderung aus dem Leipziger Süden, LWB-Sanierung, durch ein Mieter-Paar vor dem LWB-Gebäude. Audio: L-IZ.de

 

Schilderungen aus dem Leipziger Osten von Leipzig am Rabet. Audio: L-IZ.de

 

Interview mit Franz Sodann (Linke) – Gründe & Konzepte?

Interview mit Franz Sodann (Linke, Landtagsabgeordenter in Sachsen). Audio: L-IZ.de

Leserbrief „Nachgedacht“ zu: Leipzig für Alle? Eine Demonstrations-Doku vom 20. April 2018 + Antwort d. Redaktion

Leserbrief „Nachgedacht“ zu: Leipzig für Alle? Eine Demonstrations-Doku vom 20. April 2018 + Antwort d. Redaktion

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