Wie geht es der Wirtschaftswissenschaft in einer der größten Wirtschaftskrisen, von der man in Deutschland noch wenig merkt? Die Ökonomik muss den Umgang mit Vielfalt erst wieder erlernen, findet der Leipziger Wirtschaftswissenschaftler Dr. Sebastian Thieme im L-IZ-Interview. Gemeinsam mit anderen fordert er ein Umdenken seiner Disziplin.

Herr Dr. Thieme, gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern fordern Sie eine Erneuerung der Ökonomie. Was genau muss sich aus Ihrer Sicht ändern?

Ganz allgemein geht es um ein Mehr an Pluralität in den Wirtschaftswissenschaften, wie wir es im Memorandum auch formuliert haben. Damit ist eine Offenheit gegenüber alternativen Sichtweisen gefordert, so dass ein echter pluralistischer Diskurs und eine redliche Streitkultur zu Stande kommen.

Diese Forderung bezieht sich auch auf den Umgang mit alternativen Sichtweisen und Erkenntnissen von außerhalb der Ökonomik. Über Letzteres schrieb Thomas Straubhaar kürzlich, dass Ökonomen ihr interdisziplinäres Engagement häufig nur in Fußnoten durch “ein paar rhetorische Alibireferenzen auf andere Disziplinen” vortäuschen.

Wo in der Ökonomik “Interdisziplinarität” drauf steht, ist also nicht immer Interdisziplinarität drin. Das ist nicht gerade die beste Voraussetzung für einen interdisziplinären Dialog. Insgesamt, so mein Eindruck, muss die Ökonomik den Umgang mit Vielfalt erst wieder erlernen.

An wen wenden Sie sich mit Ihrer Kritik?
Deshalb richtet sich das Memorandum an die etablierten Fachvertreter der Ökonomik und die Instanzen des Hochschulwesens. Letztere können zum Beispiel dafür Sorge tragen, dass die Bedeutung der bibliographischen Kriterien bei der Besetzung von Stellen relativiert wird, so dass auch jene Forscher eine faire Karrierechance bekommen, die es auf sich nehmen, außerhalb des Mainstreams zu forschen und kritische Fragen zu stellen. Gleichsam sollten heterodoxe sowie interdisziplinäre Inhalte in die ökonomische Lehre aufgenommen werden. Pluralität und Interdisziplinarität ließe sich außerdem bei der Vergabe von Fördermitteln stärker beachten.

Das klingt doch irgendwie paradox: Die wissenschaftlichen “Fürsprecher des Marktes” behindern die Vielfalt wissenschaftlicher Ansätze. Worauf führen Sie das zurück?

Sie haben Recht, es ist schon reichlich paradox, dass die “Fürsprechung des Marktes” offenbar dort endet, wo sich diese Fürsprecher der Kritik ausgesetzt sehen. Das ist natürlich inkonsistent.

Damit deutet sich bereits an, dass die Wirtschaftswissenschaft alles andere als eine neutrale Wissenschaft ist. Wir haben es dort – wie überall sonst in den Wissenschaften – mit Denkschulen zu tun, die ihre Positionen verteidigen, ausbauen und ihren Wirkungskreis ausweiten. In der Ökonomik verengt sich das zu einer Richtung hin und das ist einem redlich geführten Diskurs eher abträglich.

Liegt das alles nur am System?

Zudem spielen natürlich persönliche Einstellungen und Eitelkeiten eine Rolle. Begünstigt wird das durch unsere hierarchisch organisierte Hochschulstruktur, in der sich ein Großteil der Beschäftigten von einem Projekt zum nächsten hangelt und vom Gutdünken der Minderzahl an sicheren Stellen – Professoren – abhängt. Das fördert ein gewisses akademisches Standesdünkel.

Das wiederum bedingt die im Memorandum als festgesetzt kritisierten Karrierewege. Promovieren und Habilitieren gestaltet sich heute ziemlich schwierig, wenn Sie abseits des Mainstreams forschen wollen. Ganz zu schweigen von der Chance, dann noch als Professor berufen zu werden. Es steht zu befürchten, dass sich dieser Zustand weiter verschärft, denn die nachrückenden Köpfe sind eher jene, die sich der vorherrschenden Lehre entsprechend konform verhalten.

Der Mangel an Vielfalt trägt insoweit auch selbstverstärkende Züge und ist damit den inneren Zuständen und (Macht-)Strukturen der vorherrschenden Ökonomik geschuldet. Problematisch gestaltet es sich aber auch, dass Gesellschaft und Wissenschaftspolitik von diesen Zuständen bisher so wenig Notiz nehmen.

Sehen Sie in den Wirtschaftswissenschaften – mal abgesehen von Ihrer Initiative – irgendwo so etwas wie Krisenbewusstsein oder selbstkritisches Hinterfragen?

Einerseits, ja. Unter den Fachvertretern haben kürzlich zum Beispiel Thomas Straubhaar vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut und Dennis Snower vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel wieder etwas Bewegung in die Diskussion gebracht. Auf internationaler Ebene ist das Institute for New Economic Thinking zu nennen, das kürzlich in Berlin unter dem Titel “Paradigm Lost” tagte. Mitbegründet wurde es vom “Nobelpreisträger” Joseph E. Stiglitz, der sich auch seit langem kritisch äußert.

Darüber hinaus existieren kleinere Initiativen und Zusammenschlüsse, in Deutschland zum Beispiel der Arbeitskreis Real World Economics und die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik in Bremen. Auf internationaler Ebene müssen die Association For Heterodox Economics und die World Economics Associationen genannt sein. George DeMartino, der aus diesem Kreise stammt, hatte Anfang diesen Jahres in der American Economic Association – eine der größten Vereinigung von Wirtschaftswissenschaftlern – einen Ethik-Kodex für Volkswirte anregen können.

Teil 2 des Interviews demnächst an dieser Stelle.

Der Diplom-Volkswirt Sebastian Thieme ist Jahrgang 1978. Einer Beraufsausbildung in Leipzig folgte das Studium der Volkswirtschaftslehre an der hiesigen Universität. Thieme promovierte an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig über “Das Subsistenzrecht” und ist Fellow der Denkfabrik für Wirtschaftsethik “Menschliche Marktwirtschaft”. Von 2008 bis 2012 war Thieme Stipendiat der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

www.mem-wirtschaftsethik.de/memorandum-2012

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