Über das Engagement des Stadtrats Konrad Riedel für Barrierefreiheit im Fußgängerdurchgang zum Hbf ("Melder" vom 17.11.2013): Ein jeder wird erfreut Zustimmung äußern, wenn es um Verbesserungen der Barrierefreiheit geht. Erst recht die Mitmenschen, welche Kinderwagen schieben, Rollstühle oder selbst auf Erleichterungen angewiesen sind. Das stellt schon ob der Fülle der zu verbessernden Punkte eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar, über Generationen hinweg. Daran gibts es nichts zu rütteln, keine Abstriche zu machen.

So dachte ich auch, denn die baulichen Erleichterungen der Barrierefreiheit kommen auch allen anderen Menschen in ihrem Streben nach Bequemlichkeit entgegen. Und besonders deutlich sind die Veränderungen im Öffentlichen Verkehr spürbar. Niederflurstraßenbahnen gehören zum Alltag, dank der schon zahlreichen errichteten Bahnsteige hilft das auch den 99% nicht bedürftigen Fahrgästen, Ein und Aussteigen geht schneller. Über die kurzen flachen Rampen und vorbildgerecht abgesenkte Gehweg-Bordsteine kommen alle Rollinutzer und Kinderwagen leicht voran, selbst Blinde können sich mit dem Langstock orientieren.

Diese schon erlebbaren Maßstäbe müssen europaweit bei Neubauten angewendet werden, also auch bei der Eisenbahn, welche durch die völlige Neuordnung des hiesigen S-Bahn-Netzes per Rosskur modernisiert wird. Da fällt es baulich auf, wenn in einer neu gebauten Zuwegung plötzliche diese Freiheit fehlt. Der Eifer Riedels, diese einzufordern, scheint gut zu sein.

Ist es jedoch nicht. Denn der Aktionismus ist eine klassische Nebelkerze, um tatsächliche Probleme zu verhüllen. Denn der neue Durchgang ist der sechste von fünf Zugängen, welche bereits barrierefrei sind. Die Forderung negiert auch die baulichen Zwänge, eine brauchbare Lösung würde immens Geld kosten und konstruktiv eher Schabernack gleichen als einem massentauglichen und umsetzbaren Ergebnis. Es bedarf auch keiner 18.000 Euro Gutachten, um zu erkennen, dass mitten in der Unterführung weder die Unterfahrt noch die Überfahrt eines Aufzuges Platz findet (das ist notwendiger technischer Bauraum, oben ist aber die Ringfahrbahn), auch das Mitnutzen eines der angrenzen Ladenlokale ändert daran nichts, auf der Westseite wäre man im Luftraum der Tunnelstation, östlich im verdämmten ehemaligen Bauwerk oder im Abwassersammler.

Auch Rampenlösungen würden skurril wirken. Eine Rampe wäre nach den Vorschriften der Barrierefreiheit knapp 40 m lang. Allenfalls diese kann wie eine Schnecke aufgewickelt in einem der vorgesehenen Ladenlokale gebaut werden. Die ECE als Besitzer wird sich freuen, dafür Mietausfall ersetzende Gelder der Öffentlichen Hände kassieren zu dürfen.
So bleiben die Versionen Schieberille oder Treppenlift. Treppenlifte sind funktional für seltenen Gebrauch tauglich, erfordern i.d.R. eine Begleitperson oder einen technischen Assistenten. Lediglich eine Schieberille oder Abschrägung auf der Treppe selbst erscheint machbar. Das hilft bei Kinderwagen und Rollkoffern. Barrierefrei ist es jedoch nicht.

Und während Herr Riedel enormes Buhei um einen sechsten von fünf barrierefreien Zugängen pflegt, mit technischen Realisierungsmöglichkeiten unter ferner liefen, gerät nebenan das Gesamtsystem der S-Bahn ins Wanken: Die neuen S-Bahn-Fahrzeuge sind nach der zwingenden europäischen Norm TSI PRM mit Schiebetritten ausgestattet, um (barrierefrei) den Spalt am Bahnsteig zu überbrücken. So eine Lösung ist technisch nur bei schönem Wetter funktional, andere S-Bahn-Betriebe (Stuttgart) haben deswegen bereits Totalstillstand erlebt und dürfen auf Landesgeheiß ohne diese Tritte fahren. Dafür dürfen sie fahren. Hier in Mitteldeutschland will man davon nichts wissen, der ZVNL (so die mündliche Aussage des Vorsitzenden) sieht darin keinen Handlungsbedarf. Herr Riedel: DAS ist ein Problem, welches Ihre Energie benötigt! Hier droht ein ganzes System zusammen zu brechen.

Auch die umgebauten und neuen Stationen der S-Bahn brauchen ihn. In Lindenau gibt es an der Lützner Straße Zugänge per Rampe, damit alle mit Rollen auch den Bahnsteig erreichen können. Der andere an der Demmeringstraße ist nur per Stufe erreichbar, dito die Unterführung dort sowieso. Dafür ist an der Lützner Straße die Rampe auf absehbare Zeit in der Baustellengrube zu Ende, mithin nicht nutzbar. Auch hier: Herr Riedel – Ihr Einsatz.

Ein Abstecher zum S-Bf. Möckern wäre hilfreich: Vom stadtwärtigen Bahnsteig gelangt man nur nach Süden barrierefrei, wer zur Bimmel umsteigen will, hat 600 m Umweg in Kauf zu nehmen. Gleiches gilt auch an anderen Stationen, wo Umwege, grausames Ambiente dort und vergessene Wegeleitung die Barrierefreiheit zur Theorie abstempeln.

Und selbst außerhalb dieser Welt aus Zugängen, Bahnsteigkanten und müffelnden Aufzügen hört der Bedarf nicht auf, ohne Stufen, ohne Barrieren voran zu kommen. Herr Riedel: Versuchen Sie mal in einem beliebigen Gründerzeitviertel mittels Kinderwagen die abgesenkten Borde an den Einmündungen zu nutzen. Sie werden hilflos scheitern und merken, dass die Lücken zwischen den illegal dort parkenden PKWs einfach nicht reichen. Auch das Queren einer Straße, mithin der natürlichste Fall von Mobilität, wird unmöglich gemacht durch die Dominanz motorisierter Fortbewegung. Auf Sie warten also tausende Betätigungsfelder, die ganz viel Energie und Durchhaltevermögen kosten (Schleußig zeigt es exemplarisch). Da zahlt es sich nicht aus, die raren Kräfte und Kapazitäten an einem Luxusproblem im Einkaufszentrum Hbf zu verschleißen.

Zum Melder vom 17. November 2013 auf L-IZ.de
Konrad Riedel (CDU): Auf die lange Bank schieben und dann aussitzen – typisch für die Stadtverwaltung, aber nicht mehr hinzunehmen

Zum Artikel vom 9. Oktober 2013 auf L-IZ.de
Fehlende Barrierefreiheit auf der Verteilerebene: Stadt sucht mit ECE und Behindertenverband nach einer Lösung

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