Da waren tatsächlich die Krawalleros am Werk, als sie am Freitag, 17. Oktober, zum Generalangriff bliesen gegen einen fahrscheinlosen ÖPNV, als wenn der Mitteldeutsche Verkehrsverbund (MDV) in der Sitzung des Fachausschusses Stadtentwicklung und Bau am Dienstag, 14. Oktober, genau das als alleiniges Allheilmittel für die Finanzprobleme bei LVB & Co. vorgeschlagen hätte. Hat er aber nicht.

Was eigentlich auch die Ausschussmitglieder wussten, von denen sich einige am Freitag gleich mit hochgekrempelten Ärmeln in die Schlacht warfen. So kann man Ideen auch zerreden, zertreten in aller Öffentlichkeit. Selbst wenn die Idee “Fahrscheinloser ÖPNV” in dem von MDV-Geschäftsführer Steffen Lehmann vorgestellten Papier nur auf einer Seite – Seite 95 – kurz erwähnt und erörtert wird. All die Punkte, die der LVZ-Beitrag am 17. Oktober aufzählte, als würde jetzt nur noch entschieden werden müssen, zu welcher blutigen Lösung gegriffen wird, sind Gedankenspiele des MDV. Wenn er sie so den Kommunalparlamenten vorschlägt, wie es im LVZ-Beitrag anklang, dann hat er den Sturm der Entrüstung tatsächlich verdient.

Denn Grundlage dieser vagen Ideen ist erst einmal nur ein Bericht, den das Berliner Ingenieurbüro ETC Transport Consultants GmbH vorgelegt hat. Und zwar erst im August 2014. Länger hat der MDV das Papier gar nicht in der Hand, mit dem die Berliner Ingenieure versuchen, die Kostensteigerungen im MDV bis 2025 zu ermitteln. Daraus schon Vorschläge abzuleiten, ist noch viel zu früh. Vor allem, weil das Papier es in sich hat. Das geht schon bei den Prämissen los.

Bis 2025 gehen die ETC-Rechner davon aus, dass die Kosten für alle im MDV versammelten Verkehrsunternehmen von 520 Millionen Euro im Jahr 2013 auf 745 Millionen Euro steigen.

Und das ist der erste Punkt, an dem alle, die das Papier überhaupt lesen, stutzen sollten. Denn der Prognose haben sie nicht die tatsächlichen Kostensteigerungen der letzten zehn Jahre zugrunde gelegt – eine solche Analyse taucht nicht mal auf! – sie haben nur einfach zugrunde gelegt, dass es bis 2025 eine jährliche Kostenindexsteigerung von 3 Prozent geben soll.

Eine “schonungslose Darstellung der Finanzlage des ÖPNV” sieht anders aus. Dazu gehört nicht einfach nur eine Erfassung aller Betriebszahlen von 2013, sondern auch eine Analyse der Entwicklungen davor. Die fehlt komplett. Die 3 Prozent Kostensteigerung sind schlichtweg aus der Luft gegriffen.

Einfach nur mal die Zahlen der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) zum Vergleich: 2004 hatten die LVB Aufwendungen von 201,5 Millionen Euro, 2013 waren es 214,5 Millionen Euro – und da stecken auch noch Sonderposten drin. Die Kostensteigerung lag also bei 0,7 Prozent.

Das war keine “gesunde” Kostensteigerung, keine Frage. Da haben Umschichtungen beim Personal genauso zur Kostendämpfung beigetragen wie das Heben von Synergieeffekten im Konzern – aber auch der massive Verzicht auf Investitionen. Ulf Middelberg, Geschäftsführer der LVB, hat die Finanzierungslücke selbst auf 20 Millionen Euro pro Jahr geschätzt.Und da ist man schon in zwei Feldern, die man trennen muss: Die Finanzierung des laufenden Betriebes und die Finanzierung der Investitionen. Dass die Gleise und Fahrzeuge derart verschleißen, hat zuallererst einmal etwas mit den drastisch zurückgegangenen Förderungen und Zuschüssen der öffentlichen Hand zu tun. Leipzig mit seiner Sparpolitik ist nicht ganz unschuldig daran – die Überweisungen aus dem Verkehrsleistungsfinanzierungsvertrag an die LVB sanken von über 60 Millionen Euro auf aktuell 45 Millionen Euro. Linksfraktion und Grüne mahnten in den Haushaltsverhandlungen für 2014 an, diese Zuschüsse wieder zu erhöhen. Die Stadtratsmehrheit stimmte dem nicht zu.

Aber welche Spreizungen die Rechnung ergibt, wenn man einfach mal mit 3 Prozent Kostensteigerung jedes Jahr kalkuliert, oder die Raten der vergangenen 10 Jahre zu Grunde legt, wird offensichtlich. Mit ihrer 3-Prozent-Rechnerei kommen die ETC-Rechner auf die besagten 745 Millionen Euro, die in ihrem Papier stehen, und die von ihnen beschworene Finanzierungslücke von 130 Millionen Euro pro Jahr.

Wer aber die tatsächliche Kostensteigerung der vergangenen zehn Jahre von 0,7 Prozent zugrunde legt, der kommt 2025 auf einen Aufwand von 565 Millionen Euro – die beschworene Finanzierungslücke löst sich in Luft auf. Sie ist schlichtweg unsinnig. Die ETC-Rechner versuchen, die Steigerungen ein bisschen zu begründen mit Tarifentwicklungen und besonders hohen Steigerungsraten für Energie. Letzteres stimmt zwar für die letzten Jahre – aber jetzt schon zeichnet sich für Strom eine Entspannung bei den Marktpreisen ab. Die Energiewende ist nicht der so gern beschworene Preistreiber, sondern sorgt langfristig für stabile Preise. Der “Peak Oil” spielt im ETC-Papier noch eine Rolle – aber auch der wird nicht diese Rolle spielen, wenn es den Verkehrsbetrieben gelingt, ihren Bus-Park durch neue Elektro- und Hybrid-Busse zu ersetzen.

Die tatsächliche Steigerung des Betriebsaufwands ist nicht das Thema. Die Fahrgäste im MDV würden kein Problem damit haben, wenn die Tarife jedes Jahr um 0,7 oder 1 Prozent angehoben würden. Werden sie aber nicht. Die Anhebungen bewegten sich in den letzten Jahren bei 3 bis 5 Prozent, was nicht nur deutlich über der durchschnittlichen Inflationsrate von 1,5 Prozent lag, sondern auch deutlich über der Einkommenssteigerung.

Das Grundproblem der ÖPNV-Finanzierung sind nicht die Tarifeinnahmen. Es sind die neoliberalen Träume diverser Verwaltungen und Regierungen, die gerade in Zeiten, in denen der ÖPNV als eigentlich nachhaltige Verkehrsart gestärkt werden sollte, in der Realität die Zuschüsse und Förderungen drastisch reduziert haben.

Diese Problemdiskussion findet im ETC-Papier nur beiläufig statt, schon fast aus der Defensiv-Haltung: Es sei ja gar nicht zu erwarten, dass Bund, Länder und Kommunen ihre Zuschüsse auch nur beizubehalten gedenken. Eine Stelle, an der deutlich wird, wie sich das Privatisierungsdenken des Neoliberalismus schon tief hinein ins politische Denken gefressen hat. Die Kosten für die Versorgungsstrukturen, die der Allgemeinheit zugute kommen, sollen immer weiter privatisiert werden.

Das steckt dann auch hinter den vagen Vorschlägen, die der MDV vorgelegt hat – eine Grundsteuererhöhung um 1,1 Prozent, ein Parkaufschlag von 10 Cent auf jedes Parkticket oder das besagte Bürgerticket, gern auch als “Fahrscheinloser ÖPNV” bezeichnet, bei dem quasi alle Stadtbewohner eine ÖPNV-Abgabe zahlen, mit der der ÖPNV dann komplett finanziert wäre. Zu recht gehen die ETC-Experten darauf ein, dass so ein Projekt mit immensem bürokratischem Aufwand verbunden wäre und dafür eine Bundesregelung die beste Voraussetzung wäre.Ein Problem im MDV sind auch die Bevölkerungsbewegungen: Während die Landkreise Einwohner verlieren und Buslinien dort immer schwerer zu refinanzieren sind, steigen zumindest in Leipzig die Einwohnerzahlen. Aber die Prognosen, die ETC verwendet, sind mittlerweile höchst zweifelhaft. Nicht nur in Sachsen hat sich der gesamte Bevölkerungsrückgang deutlich verlangsamt – auch in Thüringen und Sachsen-Anhalt ist das der Fall. Es ist nicht wirklich belastbar, die Bevölkerung im MDV-Gebiet von über 1,8 Millionen auf 1,6 Millionen abschmelzen zu sehen bis 2025.

Dass sich Versorgungsstrukturen im MDV-Gebiet anpassen müssen, ist keine Frage. Ein Vorschlag im ETC-Papier lautet, nicht mehr die starren Verwaltungsstrukturen zur Grundlage für Verkehrsorganisation zu nehmen, sondern Versorgungsräume. Ein sehr richtiger, wichtiger – und überfälliger – Gedanke. Auch im Gebiet der LVB sorgen die völlig sinnlosen Tarifgrenzen für völlig überflüssige Barrieren und verhindern eine wirklich gute Vernetzung ins Umland.

Das ist übrigens leider die einzige Stelle, an der ETC tatsächlich einen Vorschlag für veränderte Strukturen macht: eine Kooperation der Verkehrsunternehmen.

Aber genau das war das ursprüngliche Anliegen des Leipziger Stadtratsauftrags, als der vom MDV ein zukunftsfähiges Finanzierungskonzept haben wollte.

Dass sich alles auf die völlig sinnlose Diskussion, wie man das bestehende System mit immer mehr Geld füllen kann, reduziert, zeigt das ganze Dilemma der derzeit herrschenden Denkweise.

Was noch dadurch befeuert wird, dass die eigentlichen Ursachen für die Finanzierungslücken weder analysiert noch diskutiert werden. Und diese Ursachen liegen zum größten Teil in den fehlenden Investitionsmitteln. Womit man an genau der Stelle ist, an der die gesamte deutsche Sparpolitik mittlerweile steht: Der Wettlauf um immer neue Steuersenkungen in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass dem Staat das Geld für nachhaltige Infrastrukturinvestitionen fehlt. Oder scheinbar fehlt, denn die Milliarden für so genannte “Großprojekte” wie BER oder Stuttgart 21 scheinen ja immer da zu sein, während sie für die Finanzierung des alltäglichen Grundbedarfs fehlen.

ETC kommt zwar für den gesamten MDV auf eine Finanzierungslücke bei Investitionen von ungefähr 20 Millionen Euro (zwischen 84 und 100 Millionen Euro sind da, 120 Millionen müssten es sein). Aber allein die Investitionslücke der LVB ist so hoch. Und sie ist deshalb so hoch, weil sich die öffentliche Hand hier jahrelang die Ausgaben lieber “ersparte”. Was für Leipzig in gewisser Weise stimmt: Die Zurückhaltung war zwingend, um die Stadtholding LVV wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen. Aber das kann nicht immer so weiter gehen.

Die Aufgabe für Leipzigs Stadträte heißt jetzt tatsächlich: Den wirklichen Zuschussbedarf der LVB zu ermitteln und die LVV so weit zu ertüchtigen, dass sie diese Summe auch jedes Jahr überweisen kann.

Denn diese Diskussion führt das ETC-Papier auch nicht: Wie steigen eigentlich die Einnahmen, wenn die LVB ihre Modernisierung tatsächlich vorantreiben kann und nicht nur Gleise, Haltestellen und Fuhrpark erneuert, sondern auch neue Angebote schafft (Stichworte: 10-Minuten-Takt am Wochenende und in den Abendstunden, neue Linien in Stadtgebieten mit Bevölkerungszuwachs, bessere Verbindungen ins Umland …).

Das ETC-Papier ist nicht mehr als eine Diskussionsgrundlage, in vielen Teilen nicht mal das. Die Grundlage für durchkalkulierte und sinnvolle Vorschläge ist es nicht. Dafür ist die Zahlenbasis schlicht nicht belastbar.

Vielleicht kann der MDV das auch nicht leisten. Aber das wäre ein Armutszeugnis. Jetzt einfach mit dem 132-Seiten-Papier von ETC zu operieren, führt völlig in die falsche Richtung. Wahrscheinlich sind es jetzt die kommunalen Verkehrsträger selbst, die Zahlen und Visionen vorlegen müssen. Und wenn die dann nicht zum Programm des MDV passen, muss man den MDV verlassen – oder den MDV umbauen, damit er zukunftsfähig wird.

www.mdv.de

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