Thomas Nabert, Geschรคftsfรผhrer von Pro Leipzig, versprach nicht zu viel bei der Buchpremiere am 13. Dezember: Der Autor konnte dieses Thema nur ganz, ganz kurz anreiรŸen. 90, 95 Prozent dessen, was Michael Liebmann รผber das legendรคre Brandvorwerk herausbekommen hat, konnten nicht einmal angedeutet werden. In einjรคhriger Archivrecherche hat Liebmann Material fรผr ein Buch gesammelt, das MaรŸstรคbe setzt. Selbst fรผr Pro Leipzig.

Denn dort befasst man sich zwar seit รผber 20 Jahren intensiv mit Leipziger Stadtteilgeschichte, hat รผber 250 Titel verรถffentlicht. Aber so tiefgrรผndig hat sich auch bei Pro Leipzig noch niemand mit einem einzigen Ortsteil beschรคftigt. Schon gar nicht mit so einem. Eigentlich erinnert heute nur noch die BrandvorwerkstraรŸe an das legendรคre Vorwerk, das vor etwas mehr als 100 Jahren endgรผltig aus dem Stadtbild verschwand. Da und dort haben nur einige Legenden รผberlebt, die sich um diesen einst beliebten Ausflugsort der Leipziger ranken. Aber selbst eine Kurzbefragung des 2008 wieder in seine geliebte Sรผdvorstadt zurรผckgekehrten Autors unter den Passanten im Ort zeigte: Nicht einmal jeder zehnte kann รผberhaupt noch etwas mit dem Begriff anfangen.

Was Liebmann dann bei seinen Recherchen in alten Ratsakten herausfand, ist mehr als die Geschichte eines โ€œvergessenen Ortesโ€, wie es auf dem Titel steht. Immerhin stecken hier mindestens 2.500 Jahre Siedlungsgeschichte. Als hier vor 130 Jahren das Neubaugeschehen in Schwung kam, stieรŸen Bauarbeiter auf einen Grabfund aus der Eisenzeit. Eher ein Zufallsfund, denn eine systematische Untersuchung des Baugrundes auf alte Siedlungsspuren hin gab es Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht. Deswegen klafft dann ein gewaltiges Loch bis zu den ersten Spuren in den Leipziger Akten. Der slawische Weiler Lusitz taucht dann als eines der Gรผter 1241 erstmals auf, die dem neu gegrรผndeten Nonnenkloster St. Georg gestiftet wurden. Was dann einen GroรŸteil seiner verwickelten Geschichte bis 1863 erklรคrt.

Nach der Sรคkularisierung des Klosters mit der Reformation fiel die Gemarkung wieder an den sรคchsischen Landesherrn, Leipzig konnte sie fรผr sich erwerben โ€“ รคnderte aber an den Rechtsverhรคltnissen nichts. Oder wollte es nicht. Das slawische Dorf war irgendwann im 15. Jahrhundert wรผst gefallen, also auch keine eigenstรคndige Gemeinde. Wer das Vorwerk (oder Teile desselben) kรผnftig erwarb, wurde damit lediglich belehnt. Was den Besitzern รผber Jahrhunderte viel Gestaltungsspielraum gab.Der erste, der die Chancen des Gutes sah, war der stรคdtische Schuldschreiber Valentin Berger, der im Grunde die Arbeit des zustรคndigen Ratsherren Dr. Ludwig Fachs beim Erwerb der Klostergรผter durch die Stadt รผbernommen hatte. Er war ab 1543 auch fรผr die Verwaltungsgeschรคfte zustรคndig und erarbeitete sich dadurch augenscheinlich den Spitznamen โ€œSpieรŸโ€, was zumindest einige Spaziergรคnger im Leipziger Auwald stutzig machen dรผrfte โ€“ denn auf ihn gehen Flurnamen wie SpieรŸgraben, SpieรŸteich und SpieรŸbrรผcke zurรผck. Auf รคlteren Karten findet man sie alle noch.

Valentin Berger aber war freilich auch der Erste, der erleben durfte, wie argwรถhnisch der Lehnsherr, die Stadt Leipzig, auf seine Rechte in der Lusitzer Flur achtete. Bei ihm ging es um das Recht zur Schafhaltung. Und die Sturheit des Magistrats sorgte ziemlich schnell dafรผr, dass sein Abenteuer klรคglich zu Ende ging.

Da Michael Liebmann seine Fakten fast alle aus den alten Ratsakten hat, kommen natรผrlich die Streitfรคlle, mit denen sich der Rat befasste, besonders scharf ins Bild. Vieles, was die erfolgreichen Seiten des Vorwerkes zeigen kรถnnte, ist dort natรผrlich nicht รผberliefert. Nur da und dort lassen erwรคhnte Summen in den Streitfรคllen ahnen, dass die Lusitzer Flur eine fruchtbare war und kluge Besitzer damit durchaus richtig gutes Geld verdienen konnten. Oft genug waren es Leipziger Honoratioren, die hier eine gute Geldanlage sahen โ€“ manche freilich scheinen sich auch, ganz wie moderne Workaholics, vรถllig verausgabt zu haben und starben frรผh, so dass die Verwaltung des Gutes oft genug in den Hรคnden ihrer Witwen bzw. derer Vormรผnder lag. So gibt es auch ein eindrucksvolles Kapitel, in dem sich Liebmann mit der eingeschrรคnkten Macht der Bรผrgerfrauen in der Neuzeit beschรคftigt โ€“ und ebenfalls an etlichen Stellen รผberhaupt mit der Rolle der Frau und der wirtschaftlichen Grundlage des Konstrukts Ehe, die von modernen Familienministerinnen augenscheinlich nicht mal mehr begriffen wird.

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Sehr eindrucksvoll schildert er das am Schicksal der Sibylla Helena Thomas, deren Schicksal mit der Brandbรคckerei auf dem Brandvorwerk verbunden ist und fรผr die der frรผhe Tod ihres Mannes zum tragischen Verhรคngnis wurde. Depressionen und Trauer konnte sich eine Witwe im 18. Jahrhundert nicht wirklich leisten.

Auch wie das Vorwerk im 16. Jahrhundert zu seinem Namen Brandvorwerk kam, schildert Liebmann sehr eindrucksvoll, nimmt den Leser auch gleich noch mit in die Geschichte der Calvinistenunruhen in Leipzig. Nicht das einzige Kapitel, in dem er anschaulich zeigen kann, wie eng verquickt die Geschichte des Vorwerks mit der Geschichte von Stadt und Land war. Immerhin lag das Gut ja nicht nur fรผr die Georgsnonnen quasi vor der Haustรผr โ€“ die รผbrigens den ersten PleiรŸemรผhlgraben im 13. Jahrhundert bauten, weil ihnen die alte Lusitzer Mรผhle zu weit entfernt von der Stadt lag. Viel profitabler war dann die neue Mรผhle am PleiรŸegraben dicht am Nonnenkloster โ€“ die bekannte Nonnenmรผhle.

Selbst auf dieser Ebene kommen Stadt- und Vorwerksgeschichte immer wieder zusammen. Und das schon lange vor jenem 19. Jahrhundert, als auch das Land Sachsen feststellte, dass mittelalterliche Lehnverhรคltnisse in einem modernen Land nichts zu suchen hatten. Schon 1834 wurde Leipzig deshalb aufgefordert, seine Verhรคltnisse in den Vorwerken zu ordnen โ€“ neben dem Brandvorwerk betraf das unter anderem auch SchleuรŸig und das Pfaffendorf. Und wรคhrend SchleuรŸig ziemlich schnell einen eigenen Gemeindestatus erhielt, spielte der Rat der Stadt beim Brandvorwerk auf Zeit, verzรถgerte die Klรคrung am Ende praktisch um 30 Jahre, was die Bewohner des Vorwerks zwangslรคufig an den Rand ihrer wirtschaftlichen Existenz brachte. Was aber auch die Entwicklung der Stadt Leipzig im Sรผden lange verzรถgerte.Aber auch das arbeitet Liebmann genau heraus: dass es bei allen Konflikten zwischen Rat und Vorwerk praktisch immer um wirtschaftliche Fragen ging. Ein Gipfelpunkt dieser Auseinandersetzung war die Prozessflut, die die Leipziger Bรคckerinnung um 1843 gegen den Bรคckermeister Luis Dรผnkler anstrengte, weil sie ihn da drauรŸen auf dem Vorwerk als bedrohliche Konkurrenz zum eigenen Brรถtchen-Geschรคft sah.

Prozessakten ergeben, wenn man sie wie Michael Liebmann liest, ein erstaunliches Bild der Zeit. Und auch die groรŸe Wende im Jahr 1863 ist in Prozess- und Planungsakten รผberliefert. Denn da hatten moderne Unternehmertypen wie Bernhard Hรผffer die Mรถglichkeiten des Ortes fรผr sich entdeckt und machten Druck. In der Leipziger Stadtgeschichte ist Hรผffer im Grunde mit Carl Heine auf einer Stufe zu sehen. Was Heine fรผr den Leipziger Westen war, war Hรผffer fรผr den Leipziger Sรผden (in SchleuรŸig kooperierten die beiden sogar). Hรผffer brachte die Stadt 1863 mit einem eigenen StraรŸenplan fรผr das Brandvorwerk unter Druck, den die sturen Ratsherren nicht mehr ignorieren konnten, denn mittlerweile war die Bautรคtigkeit der wachsenden Stadt auch in die Petersvorstadt vorgedrungen und hatte die gerade erst 1856 wieder einmal festgenagelte Stadtgrenze in Hรถhe der heutigen KรถrnerstraรŸe erreicht. Das Brandvorwerk hatte man absichtlich extra drauรŸen gelassen, dafรผr extra noch ein neues Zollhaus am Ausgang der Zeitzer StraรŸe errichtet โ€“ da drin findet man heute das โ€œKillywillyโ€. Was Liebmann natรผrlich auch erzรคhlt. Denn vom Brandvorwerk aus begann so tatsรคchlich auch die Entwicklung der Sรผdvorstadt, deren westlicher Teil komplett auf einstiger Lusitzer Flur liegt.

Mit einem 1866 verabschiedeten Generalbebauungsplan รผbernahm die Stadt dann tatsรคchlich die Regie bei dieser Entwicklung. Doch die wirklichen Motoren auch beim Bau der Sรผdvorstadt waren weiterhin private Unternehmen. Und es war auch das Ringen der Stadt um grรผne Inseln im entstehenden Hรคusermeer, die den Sรผdvorstรคdtern am Ende โ€“ neben den grรผnen Plรคtzen โ€“ auch vier prรคchtige breite Allen verschafften. Die man heute kaum mehr erkennt, weil auf dem fรผr Reiter vorgesehenen Mittelstreifen die Autos parken.

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Brandvorwerk
Michael Liebmann, Pro Leipzig 2012, 17,00 Euro

Liebmann hat eigentlich mit dieser ganz persรถnlichen Recherche zu einem Thema, das ihm einfach wichtig war, ein Buch vorgelegt, das vorbildlich sein kรถnnte fรผr weitere Projekte. Bis hin zu allen Publikationen, die (vielleicht) zum Stadtjubilรคum 2015 zustande kommen. Denn wie kein anderer hat er darauf verzichtet, das eh schon Bekannte aus der Sekundรคr- und Tertiรคrliteratur einfach abzuschreiben. Er hat sich mit den Originalquellen beschรคftigt, hat auch die Mitarbeiter der diversen Archive auf Trab gehalten. Aber wer sonst sollte das tun, wenn nicht so ein neugieriger Mensch aus der Sรผdvorstadt, der sich mit Hรถrensagen einfach nicht zufrieden geben will?

Das Buch setzt MaรŸstรคbe. Und auch wenn es so sehr viele Bilder zum alten Brandvorwerk nicht gibt, ist es sein Geld locker wert. Wer sich auf dieses faktenreiche Geschichtsbuch einlรคsst, merkt es bald selbst: Hier wird ihm wirklich was geboten.

Und Kaffee und Kuchen bekommt man ja selbst am historischen Ort noch. Da, wo bis ins 19. Jahrhundert die alte Brandbรคckerei stand, lรคdt heute das Cafรฉ Grundmann ein.

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