Kann man das machen? Die kompletten Lebenserinnerungen eines Stralsunder Pfarrers aus dem 18. Jahrhundert heute noch veröffentlichen? Und das nicht als wissenschaftlichen Sonderdruck, sondern in liebevoll gemachten Einzelbänden - mit doppeltem Leseband, weil der Leser auch immer wieder schnell in den Anmerkungsteil schauen möchte? - Probieren wir's mal, sagte sich Verleger Mark Lehmstedt 2007. Da kam Band 1 heraus.

Er umfasste die Kindheit und die Studienjahre des 1720 in Stralsund geborenen Johann Christian Müller, Sohn eines Schmiedes, der alles tat, seinem Sohn eine Bildungskarriere zu finanzieren, die den jungen Mann nach Leipzig und Jena führte. Nach Leipzig auch wegen einer Sache, die heute manchem wirklich fremd ist: der Lebensart wegen. Denn Leipzig galt – man lese beim wenig später in Leipzig studierenden Johann Wolfgang Goethe nach – als Klein-Paris. Nicht dessen wegen, was heute allerlei Leute glauben, die die entsprechende Szene in Auerbachs Keller nicht kennen oder missverstehen. Sondern des Bemühens der tonangebenden Leipziger Bürger wegen, französische Kultur, Mode und Sitten nachzuleben. Das erste, was der junge Goethe machte, nachdem er das sah, war, sich einen neuen Rock nach Leipziger sprich französischer Mode schneidern zu lassen – in Blau und Gelb übrigens.

Ganz so weit ging Müller nicht, der in Leipzig durchaus haushalten musste, denn wirklich reichlich unterstützen konnte ihn sein Vater nicht. Außerdem war Müller durch das streng protestantische Elternhaus geprägt. Er hatte also auch immer ein bisschen Distanz zum lustigen Treiben seiner Kommilitonen – das trotzdem thematisiert wird. Ein Duckmäuser war dieser Müller nicht: Er wollte schon genau wissen, was da alles vor sich ging – sparte aber nie an einer Wertung. Besonders scharf sind seine Kommentare zu jenen Zeitgenossen, die weder haushalten noch eine sinnvolle Ordnung in ihr Leben bringen konnten.Dass ihm der Studienabschluss nicht gleich eine Pfarre eintragen würde, das wusste er wohl. Das war normal für seine Zeit. Auch berühmtere Zeitgenossen mussten, bis sie endlich eine bezahlte Anstellung bekamen, oft als Hofmeister versuchen, über die Runden zu kommen. Unter welch bedrückenden Verhältnissen das oft geschah, hat Jakob Michael Reinhold Lenz in seiner Tragikomödie “Der Hofmeister” ja eindrucksvoll gezeigt.

In ihrem ausführlichen Nachwort geht Katrin Löffler, die diesen zweiten Müller-Band zusammen mit Nadine Sobirai herausgegeben hat, auf das Thema Hofmeister besonders ein. Denn im 18. Jahrhundert gehörte dieser Informator in vielen adligen und bürgerlichen Häusern noch zum normalen Bildungsweg der Söhne, da und dort wohl auch der Töchter. Denn die Söhne aus “gutem Hause” besuchten in der Regel keine öffentlichen Schulen, sondern wurden zu Hause unterrichtet. Von einem oder mehreren Hauslehrern. Der Hofmeister lebte in der Regel auch mit im Haus und war zugleich auch für die Erziehung der jungen Leute zuständig. Deswegen spielt Leipzig im Leben von Johann Christian Müller so eine große Rolle: Die Bildung in Lebensart in der mondänen Bürgerstadt war als eine wichtige Voraussetzung für seine Hofmeisterzeit gedacht. Denn wenn er hier punkten konnte, standen ihm auch die einflussreicheren Häuser in seiner Heimat offen.
Genau so kam es auch.

Auch wenn er 1746, als er seine erste Stellung als Hofmeister antrat, nicht ahnen konnte, dass fast zehn Jahre Wartezeit vor ihm liegen würden, in denen die Hoffnungen auf eine Pfarrstelle immer wieder enttäuscht werden würden.

Ãœber 1.500 Seiten umfassen die in Stralsund aufbewahrten Lebenserinnerungen Müllers. Mit diesem zweiten Band daraus ist Katrin Löffler ungefähr bei der Hälfte angekommen. Aber der Stoff zeigt auch, dass es sich lohnt, denn mit der selben akribischen Aufmerksamkeit und Strenge, mit der Müller Kindheit und Studienzeit geschildert hat, schildert er hier seinen Aufenthalt in drei völlig unterschiedlichen Haushalten, seine Verhältnisse zur Familie, den Kampf um seine Würde und seine Position im Haus. Denn es gab durchaus einige Hausväter, die die Hofmeister beim Gesinde einordneten und entsprechend rücksichtslos behandelten.Ein Widerspruch in sich, was auch Zeitgenossen so sahen – unter ihnen der berühmte Freiherr von Knigge. Denn was soll das für eine Erziehung werden, wenn der Erzieher der Söhne wie ein Knecht behandelt wird? Welchen Respekt hat der dann noch und welche Achtung vor anderen Menschen lernen die jungen Leute dann? – Immer wieder musste sich Müller seine Position aufs Neue erkämpfen. Mal entstanden dadurch sehr enge, vertrauensvolle Beziehungen zu der Familie, in der er heimisch war – mal wurde sein Aufenthalt im Haus eines jähzornigen Mannes zu einer Leidensgeschichte, über deren abruptes Ende er am Ende nur noch froh ist.

Man staunt eigentlich sogar, wie spät er überhaupt Gefühle der Mutlosigkeit und Frustration in aller Deutlichkeit äußert. Denn während er weiter in der subalternen Stellung als Hofmeister aushalten muss, ziehen selbst jüngere Zunftkollegen an ihm vorbei und kommen in Amt und Würden. Das wird gerade zum Ende dieses Buches hin deutlicher erzählt, wie sehr die Besetzung von Pfründen und Ämtern auch im 18. Jahrhundert von Beziehungen, Wohlwollen und Einflussnahme abhängig war. Die entscheidenden Räte waren noch stärker als heutige Stadträte Kreise von wohlsituierten Bürgern, die über die Besetzung von Ämtern auch ihre persönliche Animositäten und Machtkämpfe austrugen. Einem Kandidaten wie Müller blieb da nur, alle Hoffnung auf Gott zu setzen, vor allem auch, weil er eines ganz bestimmt nicht wollte: eine Dorfpfarrei, auf der er von der Gunst des dortigen Adligen abhängig gewesen wäre. Von dieser Gunst hatte er nach seiner dritten Anstellung wirklich genug.

So nebenbei schildert er eben auch die Charaktere der Leute, mit denen er es zu tun bekam – es werden streckenweise echte Anekdoten und Sittenschilderungen. Es ist nicht nur der selbst sittenstrenge künftige Pfarrer, der hier spricht, sondern eben auch ein junger Mann, der mittlerweile gelernt hat, wie notwendig gute Sitte ist. Man ahnt so ein bisschen, warum Adolph Freiherr Knigge 1788 sei Buch “Ãœber den Umgang mit Menschen” veröffentlichen musste. Denn gerade in adligen und “gutbürgerlichen” Kreisen scheint es mit der Erziehung wirklich nicht weit her gewesen zu sein. Das Buch liest sich heute nur so seltsam, weil es wohl tatsächlich gewirkt hat. (Was nicht ausschließt, dass sich auch noch heute einige Adlige und Neureiche benehmen wie einige der schlimmsten Kandidaten, die Müller schildert).

 

Die beiden Lesebändchen helfen natürlich, das Buch schön langsam zu lesen. Es ist kein fesselnder Roman, sondern die sehr ausführliche Schilderung einer Lebenszeit, zu der auch der ältere Johann Christian Müller ein durchaus zwiespältiges Verhältnis hat. Manchmal sind es nur bestimmte Wendungen, die seine eigene Einschätzung sichtbar machen, manchmal wird er aber auch in sehr plastischen Szenen deutlich. Nebenbei lernt man auch etwas über das durchaus rustikale Landleben in Schwedisch-Pommern, über Bildungsinhalte und das durchaus sportliche Reisen mit Pferd und Kutsche. Auch der recht rabiate Umgang der Schweden mit ihren Deserteuren wird an einer Stelle erzählt. Und irgendwann wird dem Leser sehr deutlich bewusst, dass ein Leben ohne Fernseher, Radio und ähnliche Unterhaltungselektronik in einem ganz anderen Rhythmus fließt.

www.lehmstedt.de

 

Johann Christian Müller “Meines Lebens Vorfälle & Nebenumstände”, Band 2, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2013, 29,90 Euro

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