Am Ende bleibt einem die Sprache weg. Nicht nach dem Lesen des Buches, das auf seine Weise eine ähnlich eindrucksvolle Fleißarbeit ist wie es 2012 die beiden Dokumentenbände zur Friedlichen Revolution und 2014 der Band zur „Redefreiheit“ waren. Aber dem Band liegt auch eine CD bei, die hörbar macht, wie die anderen sprachen, die Noch-Mächtigen im Jahr 1989. Natürlich ist es ein Grauen.

Auf der CD ist die Parteiversammlung am Morgen des 9. Oktober 1989 im Neuen Rathaus zu hören und die anschließende Einweisung der SED-Mitglieder für ihren Einsatz am Nachmittag. Eine Szene, die ja mittlerweile Legende ist: Um den Teilnehmern des montäglichen Friedensgebetes den Platz in der Nikolaikirche wegzunehmen, beorderte die SED über 1.000 Genossen in die Kirche nach dem Motto: Kirche voll, Demo fällt aus.

Aber selten haben sich die Funktionäre so geirrt. Und selten so lächerlich gemacht.

Doch das ist nicht das eigentlich Beklemmende an diesen Aufzeichnungen. Das Beklemmende ist, wie unverhüllt hier noch einmal das Denken der damaligen Funktionäre deutlich wird – und die beklommene Atmosphäre in der Parteigruppe des Rathauses. Eigentlich hätte die Ansprache von OBM Bernd Seidel nie mitgeschnitten werden sollen. Doch der Tontechniker Thomas Hauf sah wohl die Bedeutung dieses Momentes. Die ganze Stadt war in Aufregung, Gerüchte gingen um von frei geräumten Krankenhausbetten, gesammelten Blutkonserven, bereitgestellten Leichensäcken.

Erst am 7. Oktober war es zu gewalttätigen Vorfällen gekommen. Worüber Seidel übrigens in seiner Ansprache auch spricht. Und es ist genau dieser seitdem nicht mehr gehörte Ton, der daran erinnert, dass die Leipziger und die zur Kundgebung Anreisenden aus der halben Republik zu Recht Angst hatten. Denn auf Dialog mit den Demonstrierenden waren die Funktionäre nicht aus. In Seidels Rede werden die Teilnehmer von Friedensgebeten und Demonstrationen ziemlich eindeutig zu Feinden der DDR, des Sozialismus und – was frappierend an so manchen Ton der Gegenwart erinnert – zu Tagedieben und Schmarotzern erklärt, zu faul zum Arbeiten, Wohltaten in Anspruch nehmend, die ihnen nicht zuständen …

Thomas Hauf hat das alles mitgeschnitten und auch nachher, als die Genossen in einen Raum ohne Tontechnik wechselten, ein Mikrofon hinter die Gardine gestellt. Die Einweisung selbst hat ein Genosse Erwin vorgenommen, ein Mann mit schnarrender, befehlsgewohnter Stimme. Spätestens da fragt man sich beim Zuhören: Warum haben sich die SED-Genossen das eigentlich so bieten lassen? Oder trifft eine ganz andere Vermutung zu: Niemand war so in eine straffe, gefühllose Befehlshierarchie eingebunden wie die SED-Mitglieder? Und dabei auch noch so zerrüttet im eigenen Selbstbewusstsein, dass sie sich die ganze Zeit kumpelhaft mit Du anreden ließen und dabei tatsächlich zusammengeschissen wurden in übelstem Feldwebelton?

Eigentlich muss man die CD, deren Material erst vor kurzem überhaupt öffentlich wurde, vorher anhören, bevor man sich in das Buch einliest. Dann versteht man viele der Emotionen besser, die sich da ab dem 9. Oktober auf Leipzigs Plätzen zu artikulieren begannen. Auch die Wut auf die SED und ihren Machtapparat. Ebenso aber auch die Ratlosigkeit einiger SED-Mitglieder, die versuchten, sich am Mikrofon der Kundgebung zu artikulieren und gnadenlos ausgepfiffen wurden.

Das ist das Novum an diesem Buch: Es versammelt erstmals alle Wortmeldungen, die von den Montagskundgebungen vor den großen Demonstrationen erhalten geblieben sind. Es sind nur Ausschnitte. Von den meisten Reden haben sich weder Manuskripte noch Tonaufzeichnungen erhalten. Ein Glücksfund ist ein Dokument aus dem ZDF-Archiv von der Demonstration am 20. November. Da war Bernd Seidel schon zurückgetreten, die Mauer war offen und auch die Montagsdemonstrationen hatten einen deutlichen Themenwechsel erfahren. Waren bis zum 9. November vor allem die Entmachtung der SED, die Forderung nach Reise- und Pressefreiheit und Herstellung der Demokratie die Hauptthemen gewesen, so stand ab jetzt die deutsche Frage auf der Tagesordnung. Und das mit einer zunehmenden Wucht, aber auch Aggression.

Einige der Redner von damals wurden von den Herausgebern des Buches noch einmal zu ihren Erinnerungen befragt. Und einige fühlen sich – wenn sie an das denken, was heute bei PEGIDA und LEGIDA geschieht – an die Stimmung der späten Montagsdemonstrationen im Winter 1990 erinnert, als es immer schwerer wurde, für differenzierte Positionen zu werben und jene Parteien, die bisher den Veränderungsprozess bestimmt und vorangetrieben hatten, zunehmend in die Defensive gerieten. Die Früchte der Revolution heimste am 18. März 1990 dann die „Allianz für Deutschland“ ein. Und das natürlich auch, weil gerade im Spätherbst und über den Jahreswechsel deutlich geworden war, wie marode die DDR-Wirtschaft tatsächlich war.

Eigentlich hatte es sogar Bernd Seidel am 9. Oktober genau so gesagt – und den stumm lauschenden Genossen auch noch so eine Art Wunder versprochen, die Genossen „an der Spitze“ seien dran und würden binnen Kürze Lösungen für die Probleme finden, man sei halt noch nicht gut genug gewesen und nicht fleißig genug. Und weil man als gelernter Stalinist gelernt hatte, erst mal Selbstkritik zu üben, beschrieb er durchaus anschaulich, dass auch in der Stadtverwaltung schon dieselbe Mentalität der getricksten Planerfüllung und Prämienvergabe herrschte. Eigentlich hätte er den Besen nehmen müssen und erst mal auskehren im eigenen Haus.

Gab es nach diesem 9. Oktober, als Seidel und sein „Genosse Erwin“ noch das Parteikollektiv zusammentrommeln, einschüchtern und zum Kircheneinsatz verdonnern konnten, überhaupt noch einmal so eine Kommandoaktion im Rathaus? Oder liefen die Genossen ab dem 16. Oktober dann doch lieber mit bei der Demo, warfen ihre alten Parteibücher weg und klopften bei den neuen Parteien an? Einige – das ist in ein paar wenigen Redeschnipseln zu lesen – versuchten ja genau das, was die SED auch vor dem 9. Oktober immer wieder als „Dialog“ versprochen hatte. Aber zu Recht betonen die Herausgeber: Das war nie als echter Dialog gemeint gewesen, bestenfalls als ein Ventil. Aber selbst das war nie ernst gemeint. Wer bis zum 9. Oktober tatsächlich den Dialog wünschte, musste bis dahin mit harten Sanktionen rechnen. Eingeschwenkt ist der herrschende Funktionärsapparat tatsächlich erst nach dem 9. Oktober. Verständlich, dass etwa Gunter Weißgerber, Mitgründer der SDP/SPD in Leipzig, jede Teilnahme an einem der dann tatsächlich organisierten Dialoge verweigerte.

Aber wer den Sammelband „Redefreiheit“ liest, der merkt, dass auch diese Übung in freier Rede notwendig war und die brennenden Themen der Stadt dort viel detaillierter zur Sprache kamen. Das ging natürlich in den 3- bis 4-Minuten-Beiträgen am Megaphon, später am Mikrofon vor dem Opernhaus, so nicht. Wer dort zu lang und zu ausschweifend wurde, wurde ausgebuht. Und wer den falschen Ansatz wählte – wie Vera Lengsfeld (damals noch Wonneberger) – wurde regelrecht weggebrüllt. Wobei ihr Pech war: Sie erlebte nur eine der späten Montagsdemos, als es den meisten Teilnehmern nicht mehr um Nuancen ging, sondern nur noch um den schnellstmöglichen Weg zur Deutschen Einheit. Wer da auf dem Balkon der Oper stand, der konnte im Grunde sehen, wie der Zug längst mit hohem Tempo in Bewegung war.

Aber man konnte auch was draus lernen, wie Gunter Weißgerber feststellt: Nicht die Politiker geben die Richtung vor, sondern das Volk. Das war im Oktober 1989 die Kraft gewesen, die tatsächlich erst die Veränderungen ermöglichte, die die SED binnen drei Monaten ihre Macht kostete und den Weg zu freien Wahlen aufstießen. (Deswegen heißt der Buchtitel eben auch: „Wir haben nur die Straße“.) Aber als der Zug erst einmal in Bewegung war, gab es niemanden mehr, der ihn hätte aufhalten können – auch wenn sich dann im Januar und Februar 1990 mahnende Stimmen mehrten. Aber selbst die klügsten Köpfe am Mikro wussten, dass es ohne schnelle Einheit nicht wirklich gelingen konnte. Dazu war die Wirtschaft zu heruntergewirtschaftet, dazu waren längst viel zu viele DDR-Bürger unterwegs und schon zu Beginn des Jahres 1990 wurde in allen Wirtschaftsbereichen sichtbar, dass das Land tief in der Krise steckte. Da wirkte Kohls 10-Punkte-Plan aus dem Spätherbst wie ein Heilsversprechen, das endgültig die Richtung vorgab.

Erst aus der Rückschau wird auch deutlicher sichtbar, was alles damals hätte noch ausgefochten werden müssen und was heute wieder als Demokratieverweigerung und Ruf nach autoritären Strukturen hörbar wird. Eben weil es in der DDR nie thematisiert wurde. Man hatte das alles „schon vor 40 Jahren“ (Bernd Seidel) hinter sich gelassen. Tatsächlich hat sich die allmächtige Arbeiterpartei über die eigenen Arbeiter immer fleißig in die Tasche gelogen und sich lieber auf die „Organe“ verlassen – die einschreitende VP (die Seidel benennt) und die anderen, die sich Seidel an diesem 9. Oktober nicht mal beim Namen zu nennen traut. Selbst über die Funktionsweise der eigenen Herrschaft logen sich die “Genossen” die Taschen voll. Und wunderten sich dann verblüfft, dass das Volk von dieser Schwindelei schlicht die Nase voll hatte und lieber das eigene Laufen und Sprechen übte.

Das ist in diesem Buch nachzulesen. Womit sich das Material, das man zu den Ursprüngen und Hintergründen der Friedlichen Revolution nun lesen kann, wieder um einen wichtigen Aspekt erweitert hat. Oder um zwei. Denn so unwichtig ist der Mitschnitt aus der Belehrung der SED-Genossen im Leipziger Rathaus ganz und gar nicht. Sehr lehrreich für Politiker, die schon wieder glauben, einfach alle Probleme aussitzen zu können, bis die Parteispitze mal geruht, etwas anderes zu entscheiden. Das geht systematisch schief. Oder in die Hose.

Achim Beier; Uwe Schwabe Wir haben nur die Straße, mit Audio-CD, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 19,95 Euro.

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