LeserclubAls hätte es Don Leone darauf angelegt, seine Trophäe noch einmal für die ganze Stadt sichtbar herumzufahren, an all den netten kleinen Cafés vorbei, die fast alle ihm gehörten, hieß es hier „Ciaou, Bella!“ und „Buon giorno!“ dort. Und immer wieder „Festhalten, caro mio!“, wenn er seiner Vespa die Sporen gab. Ein tollkühner Reiter. Grund genug für ein Halleluja?

Na ja, sagte das eine Ich im windzerzausten Herrn L. Ein bisschen Leben wäre noch ganz schön. Aber warum nicht mit Pauken und Trompeten, fragte das andere Ich. Dann wäre die Geschichte zu schnell zu Ende und eigentlich sinnlos. Alle Geschichten sind sinnlos, sagte das skeptische Ich. Das heute mindestens zwei Tassen Kaffee zu wenig getrunken und vom Espresso nichts abbekommen hatte. Na und? Geht es nicht um den bestmöglichen Abgang von der Bühne? Abflug, meinst du. Ein Warnschild zu spät, ein schlingerndes Rad, ein Geschoss in den blauen Himmel und dann – Sphärenmusik? Ich wusste doch, dass du ein unverbesserlicher Romantiker bist …

„Festhalten, caro mio!“

Ein Warnschild, das vorüberrauschte. Ein schlingernder Motorroller. Spritzender Kies und ein fluchender Bauarbeiter: „Verfluchte Saubande!“ Spritzende Steine, Blechscheppern und ein Knattern, als wolle das Maschinchen jetzt einfach abheben. Aber die Stoßdämpfer waren gut gepflegt. Und weil sich zwischen Kieslader und Baugrube ein schmaler Streifen Asphalt hielt – zumindest noch ein Sekündchen fürs Standbild – kamen sie durch, gab Don Leone seinem Rollerchen noch einmal Gas, um den wütenden Männern hinter dem Kipper auszuweichen und die nächste Absperrung zu umkurven.

Das war knapp, sagte das skeptische Ich. Ich lebe noch, sagte der Draufgänger in Herrn L. Vielleicht war es auch der Espresso, der ihn ein paar Meterchen über dem Asphalt schweben ließ, die beiden zusammengeduckten Gestalten unter sich im Gegenlicht, der lange, schlingernde Schatten dahinter. Und natürlich dieses unverwechselbare Geknatter im Ohr.

Und wenn er dich jetzt wirklich loswerden will? So spektakulär? Das glaubst du ja selber nicht. Gerade deshalb. Der Bursche hat den Teufel im Leib.

So fuhr er tatsächlich. Er vertraute seinem geölten Maschinchen. Und vor allem schien er darauf zu vertrauen, dass Hühner, Ziegen und Gänse freiwillig von der Straße stoben, wenn sie das heranzischende Geräusch der Vespa vernahmen. Können auch Hunde, Katzen und ein paar Senioren gewesen sein, die noch immer glaubten, die Zeit würde Rücksicht nehmen auf ihren 100. Geburtstag.

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Gedenken wir heute des von uns allen geliebten Herrn Müller, der uns mit so vielen heiteren Anekdoten unterhielt und unseren Mitarbeitern eine tägliche Freude und Bereicherung war in einem arbeitsreichen Alltag und dessen 100. Namenstag wir erst vor kurzem in trauter Runde feiern konnten, freundlich unterstützt von der Emsige Hände GmbH, dem Blumenfachgeschäft Fleißiges Lieschen und der Cafeteria Mama Leone, die dem Jubilar die schönste Torte auf Erden zum Jubiläum kredenzte. (Unsere Zeitung berichtete).

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Mehr nicht?

Mehr nicht. Willst du nicht selbst so geliebt in die ewigen Abgründe gehen? Mit einer Torte von Don Leone? Oder lieber einer kleinen Herrenriege im Smoking, die an deinem Grab „O sole mio“ singt? Auf italienisch? Oder katalanisch?

„Festhalten, caro mio!“

Es war die Stelle in der abendlichen Lagebesprechung, als die diensthabenden Polizisten darüber rätselten, wie ein mit Äpfelkisten beladener Lastkraftwagen in der engen Kurve kurz vorm Rathaus nicht nur von etwas undefinierbar Rotem überholt werden konnte, sondern dabei auch noch in Schieflage geraten und umstürzen konnte, so dass eine ganze Kreuzung für drei Stunden gesperrt werden musste, weil die umherstiebenden Äpfel auch noch einige andere Verkehrsteilnehmer aus der Bahn geworfen hatten. Nur die Ursache des Schlamassels war nicht einmal auf den grobkörnigen Aufnahmen der Überwachungskamera zu identifizieren.

„Für mich sieht das nach einer roten Harley aus …“

„Ich würde eher auf so einen hochgezüchteten Rennwagen tippen …“

„Aber der Fahrer sagt, es war eher klein und hat getuckert …“

„Ein Rasenmäher?“

„Oder eins von diesen Dingern, mit denen die jungen Bengels rumfahren …“

„Hat denn keiner was gesehen? Die Leute in der Pizzeria! Das ist doch direkt vor deren Nase passiert …“

„Die sagen, es war blau und sah eher wie eine Luxuskarre aus.“

„Die Oma sagt, es hat sich angehört wie eine Nähmaschine …“

„Hat die es denn nicht gesehen?“

„Die Ohren sind noch gut. Aber die Brille ist eher so Flaschenboden, wenn du verstehst …“

„Und welche Farbe?“

„Sie hat gemeint: Lila.“

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Sie ahnen es also: Die Polizei würde vor einem Rätsel stehen. Und Don Leone würde sich am Abend was anhören müssen von seiner Mama.

Und Herr L.?

Der würde sich später mit einiger Unschärfe an diese Fahrt erinnern und sich vor allem den Geruch süßer, reifer Äpfel merken. Und nur schemenhaft würde er sich noch an die Situation erinnern, als Don Leone ihn doch etwas lebhafter aufforderte, nun endlich loszulassen. Man sei angekommen. „Ist auch gar nichts passiert, mein Lieber.“ Die Erde würde noch ein Weilchen schlingern. Und ein paar Äpfel in L.s Manteltaschen würden nicht erklären können, wo sie hergekommen waren.

„Ja, noch ein Schrittchen. Sind gute Pflastersteine, Herr L.“

Das wollte er schon gern glauben. Nur das andere Ich zweifelte daran ein wenig, denn sie benahmen sich nicht so. Aber das war eh sein etwas schüchternes Ich, das lieber noch einmal nach Nase, Stirn und Ohren tastete, ob noch alle da waren.

„Kein Blut, ich schwöre“, sagte Don Leone. „Wir sind gefahren wie Englein im Himmel. Sanft wie der Heilige Vater im Papa Mobil.“

Trotzdem schaute der kleine, stolze Gastronom seinem Gast lieber ein Momentchen tiefer in die Augen. Was man nach so viel Espresso nicht unbedingt tun sollte. Da grasten brav ein paar Schäfchen. Und das nicht ganz so mutige Ich von Herrn L. hatte sich vorsichtshalber ins Gras einer quietschgrünen Wiese gesetzt, um sich bei der Lektüre von „Krieg und Frieden“ ein klein wenig zu erholen. Es war nichts passiert. Gar nichts. Nur drinnen in der Stadt, drei, vier Kreuzungen weiter schien es eine ziemlich laute Aufregung um ein paar Äpfel zu geben.

Die ganze Serie „Und was passiert jetzt?“

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