Es gibt diese immerjunge Szene in Leipzig, welche entgegen des erklärten Orakels einer Boulevardzeitung und den finsteren Vorahnungen der Stadtverwaltung „unsichtbar“ sein und friedlich sichtbar werden kann. Im Vorfeld der „Parade der Unsichtbaren“ schwante der Stadt Leipzig offenbar Schlimmstes, der, der L-IZ vorliegende, abwehrende Schriftwechsel mit dem Anmelder der Demo spricht Bände. Man wollte lieber das Kätzchen, statt den oft besungenen Leipziger Löwen. Irgendwie in Ruhe ein StadtFestSpiel und 1.000 Jahre feiern, gediegen eben. Mit dem Smartphone in der Hand. Ohne Brüche der gloriosen Leipzig-Geschichte.

Doch Leipzig ist immer beides gewesen, ganz gleich, wie ruhig, „sicher“ und bequem es manche haben wollten. Gestern, Vorgestern und im Heute. Wachstumsstadt, Stadt von Wohlstand, durchaus Reichtum und Ort sozialer Widersprüche, Polizeigewalt und Zerreißproben bis hinein in persönliche Beziehungen. Eine aktive Stadtgesellschaft, manchmal wie ein Hexenkessel, nie stehend zu begreifen. In einem Raum mit einem großen Namen einer “Heldenstadt” und der Namen zurückligender Epochen. Und in der Frage, wie die heutigen Menschen immer neue Bewährungsproben auch im Jetzt meistern.

Dies vor allem wollte die „Parade der Unsichtbaren“ sichtbar machen, die Stadt hatte einen Sternmarsch und ein bilderstarkes Finish vor 25.000 Besuchern (Angabe der Stadt Leipzig) am 30. Mai im Rahmen der 1.000-Jahrfeier im Rennen. Ein Sternmarsch, welchem sich vor dem Erreichen der Innenstadt praktisch niemand anschloss. Und der in einer Art Riefenstahl-Dimension enden musste: Groß macht großen Eindruck, noch heute in der Stadt der Sportfeste und Massenveranstaltungen.

Auf der einen Seite sind Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht mal eben in die City strömen können und beim Mutzbraten scharfe Momente der fünf Titanick-Köpfe in der Reichsstraße einfangen. Interessante namentliche Ortswahl für den Sammelplatz der überdimensionalen Köpfe übrigens, angesichts der 1.000 Jahre. Die manche nicht zu sehen bekamen, weil sie vielleicht erst neulich aus anderen Ländern in Leipzig ankamen oder um ihr Existenzminimum kämpfen. Und sich eher feucht für die 3,5-Millionen Euro teuren Inszenierungen im Jubiläumsjahr interessieren.

Und auf der anderen Seite ein Innehalten, die Zeit beim Stadtbummel, bunte Motive von “Lipsia” auf dem Augustusplatz mit dem neusten Handy zu knipsen oder sich am Stand der Leipziger Messe vor dem Gewandhaus eine unglaublich dämliche Papierkrone zu besorgen. Wer so etwas aufsetzt, hat freiwillig aufgegeben.

Ohne Feuerwerk keine Party im Osten. Foto: Christian Modla
Ohne Feuerwerk keine Party im Osten. Foto: Christian Modla

Das musste jetzt auch mal sein

Wie stark der Kontrast zwischen der Rummelatmosphäre in der City und den Forderungen auf der Demonstration entlang der Eisenbahnstraße, vorbei am Wintergartenhochhaus, den Georgiring hinauf geriet, zeigen die Bilder junger Menschen, welche sich im Gegensatz zu den „Sternenmärschen“ der Stadt bei der „Parade der Unsichtbaren“ auch persönlich einfanden. Denn hinter den Köpfen, welche die verschiedenen Aspekte Leipzigs von Sport über Wissenschaft und Kultur darstellten, liefen praktisch keine Leipziger her. Auch wenn sich durchaus sympathische Menschen um Tanz und Event bemühten. Polizei und Helfer von „Fairnet“, dem Leipziger Messeveranstalter, machten den Marsch unter sich aus, auch an den Startpunkten fanden sich maximal jeweils 50 Leipziger ein.

Was den Wert der Vorführungen selbst nicht schmälerte. Und so wurde durch die Aktiven für das Publikum (vor)getanzt, in der Innenstadt traf man dann auf ein Stadtfest mit Karussell, Biergartenatmosphäre und Bratwurst. Bei der Parade fanden sich freiwillig 1.000 Menschen ein, um die Lebensverhältnisse in Leipzig auch angesichts der 1.000-Jahrfeier infrage zu stellen. Die Angst vor steigenden Mieten, den Wunsch auf ein Leben im Wagen statt in einer Wohnung und immer wieder erklang der Ruf nach weniger Polizei (Eisenbahnstraße), mehr sozialen Ausgleich in der Stadtgesellschaft und gegen eine Stadtentwicklung ohne die (aktiven) Bürger.

Vielleicht läuft eben gerade hier ein Trennstrich zwischen Konsument und Bürger

Entgegen den Befürchtungen des Ordnungsamtes vor Gewalt oder Behinderungen des Einmarsches der fünf Themenköpfe durch die Unsichtbaren lief alles reibungslos. Auch wenn vereinzelte Demonstrationsteilnehmer den Ordnungskräften und Polizisten über den Georgiring zuriefen, dass niemand „auf Eure Party kommt“ und es offenbar ohne ein bisschen Qualm dann für einige Menschen eben doch kein guter Tag war, trat nichts ein, was manche vorab noch in roter Farbe auf Papier und ins Netz geschrieben hatten.

Es kamen 25.000, sagt die Stadt Leipzig, zur Abschlussvorstellung auf dem Augustusplatz. Es fehlten wie immer die anderen. Die gerade keine Zeit, keine Lust, kein Geld oder keinen Ausweis hatten. Oder eben Hartz IV-Empfänger, Flüchtlinge, Niedriglohnbeschäftigte, Sozialfälle, chronisch Überarbeitete, Bafög-Bezieher oder sonst wie prekär lebende Menschen in Leipzig sind.

Die Attraktion der rollenden Motivschädel samt mechanischen Extras funktionierte als Hingucker, Stehenbleiber, Erinnerungsmotiv an einen Samstagabend in der Stadt. Ein Stadtfest eben und der Bierumsatz soll nach ersten Informationen auch gestimmt haben. Ein bisschen wie rheinischer Karneval ohne Verkleiden und im Impuls eher sedierend. In Leipzig immer unbedingt mit Feuerwerk am Schluss. Kam an, passte und sah gut aus. Der Untergrundpuls läuft längst woanders. Dort wohnen neue Löwen, die ihre eigene Figur ins Jubiläum getragen haben. Es war ein Gespenst.

Die Parade der Unsichtbaren am Georgiring

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