Die Lektüre des vor einigen Monaten veröffentlichten Buches „111 Gründe, RB Leipzig zu lieben“ lohnt sich. Nicht, weil es zahlreiche überzeugende Argumente liefert, sondern weil es kurz vor dem voraussichtlichen Aufstieg in die 1. Fußball-Bundesliga die bisherige Vereinsgeschichte in kompakter Form zusammenfasst.

Noch 15 Spiele muss RB Leipzig in dieser Saison in der 2. Fußball-Bundesliga bestreiten. Vieles spricht dafür, dass es 2016, nur sieben Jahre nach der Gründung des Vereins, in der obersten Spielklasse weitergeht. Die Leipziger haben acht Punkte Vorsprung vor Tabellenplatz 3, der nicht zum direkten Aufstieg berechtigt. Neben den Zweit- und Drittplatzierten Freiburg und Nürnberg gehörte RB Leipzig vor der Winterpause zu den formstärksten Teams. Der vor Saisonbeginn zum Aufstiegsfavoriten gekürte Club scheint seinen eigenen Ansprüchen und den Erwartungen – beziehungsweise Befürchtungen – der anderen gerecht zu werden.

Natürlich träumen viele Fans des Vereins von mehr als nur vom Aufstieg in die 1. Bundesliga: von erfolgreichen Duellen mit dem FC Bayern, vom Gewinn der Deutschen Meisterschaft, vom Sieg im DFB-Pokal und von glanzvollen Auftritten in der Champions League. Das Potential, all diese Träume wahr werden zu lassen, ist zweifellos vorhanden. Dennoch wäre bereits der Aufstieg in die 1. Bundesliga der entscheidende Meilenstein, der Verein und Stadt eine noch nie oder zumindest lange nicht mehr gekannte Aufmerksamkeit verschaffen würde. Tausende Fußballfans bekämen zudem erstmals in ihrem Leben die Gelegenheit, regelmäßig die besten Spieler des Landes live im Stadion bestaunen zu können.

Zu einem Zeitpunkt, an dem dieser entscheidende Schritt kaum mehr zu verhindern scheint, lohnt ein Blick auf ein Buch, das bereits Anfang der Saison veröffentlicht wurde: „111 Gründe, RB Leipzig zu lieben“, verfasst von dem Blogger Matthias Kämmerer. Es ist Teil einer Reihe, die nicht nur Liebeserklärungen an große, beliebte und kultige Clubs wie Bayern München, Borussia Dortmund, Union Berlin oder den FC St. Pauli enthält, sondern sich auch grauen Vereinen wie 1899 Hoffenheim und dem FC Ingolstadt 04 sowie mehreren internationalen und Ostvereinen widmet.

Nun dürfte es nicht allzu schwerfallen, 111 nachvollziehbare Gründe zusammenzubekommen, wenn ein Verein auf eine teilweise mehr als 100-jährige Geschichte zurückblickt und allerlei Anlässe für Tränen der Freude und der Trauer geliefert hat. Dass dies auch bei Rasenballsport Leipzig, der zu Beginn der Saison lediglich sechs Jahre auf dem Buckel hatte, gelingen könnte, schien zweifelhaft. Leider waren die Zweifel berechtigt.

An zahlreichen Stellen merkt man diesem Buch an, dass es irgendwann einmal – in ferner Zukunft – ein sinnvolles Projekt sein kann, zum jetzigen Zeitpunkt aber viel zu früh kommt. Am deutlichsten wird dies in den Kapiteln über vergangene und aktuelle Spieler und Trainer, die immerhin ein Viertel aller Gründe ausmachen. Zwar gibt es von beiden sehr viele, wirklich herausstechen, mit Ausnahme einiger echter Fanlieblinge wie Timo Röttger, Daniel Frahn und Stefan Kutschke sowie des zweifachen Aufstiegstrainers Alexander Zorniger, tun nur wenige.

Daniel Frahn bedankt sich bei den Fans. Foto: Alexander Böhm
Nach fünf Jahren im Verein nahm Daniel Frahn vor dieser Saison Abschied. Foto: Alexander Böhm

Auch finden sich zahlreiche Gründe, die in fast identischem Wortlaut in den Büchern über die anderen Fußballvereine auftauchen könnten, seien es das soziale Engagement von Fans und Verein, die Möglichkeit, (Förder-)Mitglied zu werden, die Turbulenz einer Transferphase, die Fancommunity, die große Erwartungshaltung, der Fanverband oder die namhaften Testspielgegner.

Gelegentlich wirken die genannten Gründe jedoch nicht nur trivial, sondern regelrecht fragwürdig. Warum man RB Leipzig dafür lieben sollte, dass Ralf Rangnick vor Saisonbeginn das Traineramt übernommen hat, sich der Verein mittlerweile auch im Mädchenfußball engagiert (was in Anbetracht seiner finanziellen Möglichkeiten und seiner vom Autor selbst genannten sozialen Ader eine Selbstverständlichkeit sein sollte) oder einst Spiele mit mindestens 100.000 Zuschauern in der Stadt stattfanden, erschließt sich beispielsweise nicht. Hinzu kommt, dass sich die Inhalte mancher Beiträge sehr ähneln, vor allem wenn es um die behauptete Professionalität des Clubs oder das Benehmen der Fans von RB Leipzig im Vergleich zu den Fans anderer Vereine sowie den Schlussfolgerungen, die der Autor daraus ableitet, geht.

Doch das Buch liefert auch überzeugende Argumente für den Rasenballsport, in dem Sinne, dass sie ihn von anderen Clubs unterscheidbar machen. Zum einen sind dies Dinge, die in seiner Struktur und seiner Vergangenheit begründet liegen: der einzigartige Hass, der ihm von Fans anderer Vereine entgegenschlägt, der Zuschauerrekord in einem Viertligaspiel, der gegen Lok Leipzig aufgestellt wurde, oder die Lage des Stadions im Herzen der Stadt.

Zum anderen sind es die außergewöhnlichen Momente, die die Beziehung zu einem Verein prägen können, die ihm eine Identität geben und an die man sich wohl bis ans Lebensende erinnern wird: das Tor in der Nachspielzeit von Coltorti, das selbst den härtesten Gegnern Anerkennung abringen konnte, die überfallartige Anstoßvariante unter Trainer Zorniger, die verbotene Choreographie der Red Aces sowie jene beiden schweren Hürden, die erfolgreich genommen werden konnten, für manche Fans aber existenzbedrohend für den gesamten Verein wirkten: das Nadelöhr Regionalliga, das erst im dritten Anlauf im denkwürdigen Relegationsrückspiel in Lotte überwunden werden konnte, sowie die Diskussionen um Lizenz, Logo und Mitbestimmung nach dem Aufstieg in die 2. Bundesliga.

Letztlich ist dem Autor eine durchaus interessante und lebendige Übersicht über die noch so kurze Vereinsgeschichte von Rasenballsport Leipzig gelungen – die nur leider unter einem irreführenden Titel läuft, weil das darin genannte Versprechen – 111 Gründe, den Verein zu lieben – unmöglich eingelöst werden kann. Der beste Grund ist dabei vielleicht das Buch an sich, zeigt es doch in bislang einzigartiger Weise, dass RB Leipzig derzeit der Club ist, der sich in seiner Gesamtheit deutlich von allen anderen unterscheidet – durch seine Struktur, die ausgelösten Kontroversen, aber auch die rasante Entwicklung seit Vereinsgründung auf sämtlichen Ebenen. Womöglich markiert der Aufstieg in die 1. Bundesliga auch den Zeitpunkt, an dem RB Leipzig endgültig in der Normalität des Profifußballs angekommen ist und die Differenzen zu den finanziellen Möglichkeiten anderer Vereine oder den Problemen in manch anderer Fanszene verblassen.

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