Im Jenin des Westjordanlandes empfängt uns am Sonntag ein Verkehrsgewirr arabischer Dimension. Wenn man an leere Straßen und die wohltuende Ruhe einer europäischen Stadt an diesem „Relaxing-Day“ für das säkulare „Abendland“ gewohnt ist – hier ist es anders an diesem 7. Oktober. Sheren lenkt uns unbeeindruckt und zielsicher zum ersten großen Anlaufpunkt dieser Stadt, die unter palästinensischer Autonomie steht. Es ist das „Café Delicato“, in dem ich einen lange gewünschten Termin habe. Ich treffe Ismail Khatib.

Einen 52jähriger Palästinenser, den ich 2009 bereits in Leipzig kennenlernte, als er auf „Promotion-Tour“ für den Film „Das Herz von Jenin“ in Deutschland unterwegs war. Ein Held für mich, der bescheiden und warmherzig das Café inmitten der Stadt betritt. Ismail verlor seinen 12jährigen Sohn Ahmed im November 2005 in Jenin. Nachdem ein israelischer Scharfschütze den spielenden Jungen aufgrund einer Spielzeugwaffe für einen Attentäter hielt, tötete er ihn mit einem einzigen Schuss auf dem „Pferdeplatz“, einem Kreisverkehr in den Nebenstraßen der Stadt.

Die Ärzte im Krankenhaus von Haifa erklärten den Jungen für tot, aber Ismail wurde gefragt, ob er lebenswichtige Organe an kranke israelische Kinder spenden würde. Der Vater – „Man suchte damals nach mir“ – aktiv im Widerstand, Teilnehmer an den Aufständen der Palästinenser (Intifada) gegen das israelische Besatzungsregime – entscheidet sich für eine große und mutige Geste.

Er setzt ein Zeichen der Versöhnung, legt die Waffe, die Steine aus der Hand und sagt Ja zu einer Organspende für israelische Kinder. Im Dokumentarfilm, der 2007 entstand, wird das „Herz von Jenin“, was Ismail Khatib beschreibt und charakterisiert, auf rührende Weise dargestellt. „These crazy arabs, they only want to kill us.“ äußert sich der jüdisch-orthodoxe Yaakov Levinson, Vater der kleinen Menuha, die dringend auf eine Niere wartet. Überrascht ist er, als der Spender plötzlich vor seiner Wohnungstür steht.

Denn Ismail Khatib hatte nur einen Wunsch geäußert: Dass die Organe an israelische Kinder gehen sollten und dass er sie nach der Transplantation eventuell besuchen kann. Das Treffen in Jerusalem verläuft steif seinerzeit, zeigt die tiefen Gräben, die beide Völker im „Gelobten Land“ überwinden müssten, um zu einem dauerhaften und friedlichen Miteinander zu gelangen. „Wären wir uns früher begegnet, vielleicht hätten wir Freunde werden können“, verabschiedete sich Levinson höflich-bemüht.

Der Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ hatte Ende 2009 Premiere in den deutschen Kinos. Der Mann sollte den Friedensnobelpreis erhalten, äußerten viele Zuschauer.

Ismail Khatib in Jenin 2018

An dieser Stelle geschah das Unglück. Foto: Heiko Temper
An dieser Stelle geschah das Unglück. Foto: Heiko Temper

Mittlerweile im Bart etwas ergraut, hat Ismail nichts von seiner menschlich-warmen Ausstrahlung verloren. In seinen gutmütigen, manchmal etwas müden Augen meine ich eine Botschaft zu lesen, die so einfach wie kompliziert zu sein scheint. „Ich versuche mit offenem Blick, offenem Wesen ruhig und klar um mich zu schauen. Ich mache weniger Worte um etwas, ich tue das, was notwendig und wichtig ist. Gerecht und versöhnend zu handeln.“

Ich frage ihn nach der Situation der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Hat sich in den fast 15 Jahren nach Ahmeds Tod irgendetwas positiv verändert? „Das Herz von Jenin“ bekam 2010 einen Preis für den „Besten Dokumentarfilm“, im gleichen Jahr ging der „Hessische Friedenspreis“ aus den Händen des Ministerpräsidenten Volker Bouffier an Ismail Khatib: einzigartig, da dieser bis dahin nur an öffentlich bekannte und renommierte Persönlichkeiten verliehen wurde.

Hat sich seine großherzige Tat irgendwie „bezahlt“ gemacht, frage ich. „1 Shekel gleich 25 Cent habe er damals als Entschädigung von der israelischen Regierung bekommen.“ Das meinte ich nicht, sage ich, das Missverständnis ist klar. „Gibt es irgendwelche Anzeichen der Verbesserung, eines Fortschrittes im Nahostkonflikt?“

Nein, es sei schlimmer geworden, seit der amerikanische Präsident … Immer wieder Trump. Als wir nach dem Gespräch am „Pferdeplatz“ vorbeikommen, weil wir Ahmed auf dem Friedhof besuchen wollen, bitte ich ihn kurz anzuhalten. Ein Foto mit ihm. Eines, welches zeigt, dass es auch in schmerzlichen Situationen wichtig ist, nicht Menschen zu bekämpfen, sondern Haltungen und Ideologien, welche unmenschliche Handlungen zur Folge haben. Ich kann mich nur bemühen, darauf zu lächeln, es gelingt mir dennoch nicht.

Der folgende Besuch am Grab seines Sohnes geht still und leise vorüber. Kahle, helle Steine bedecken das Erdreich mit den sterblichen Überresten der Menschen, ein ungewohntes Bild, wenn man bewachsene Gräber auf den heimatlichen Friedhöfen gewohnt ist. Ismail wirkt gefasst, nachdenklich, sein Blick geht weit weg und ist doch da.

Nochmaliges Fragen

Wie war das damals, Ende 2005, als Ahmed ums Leben kam? Er sei zu diesem Zeitpunkt gerade gesucht worden von der israelischen Polizei, musste sich verstecken, kämpfte bei den Al-Aqsa-Brigaden, mit der Waffe in der Hand, saß mehrfach in israelischen Gefängnissen. „Die Soldaten sind nicht schuld“, sagt er mir. Schuld sei eine Regierung, die Menschen dazu bringt, anderen Menschen Unrecht und Leid zuzufügen, sie unter Umständen im Namen einer Politik, einer Ideologie, der „richtigen“ Religion zu töten.

Ich bin mittlerweile in seinem Haus, sitze am Tisch im Garten und rauche gemeinsam mit ihm eine Zigarette beim arabischen Kaffee. Es war keine Entscheidung, die er bereut habe, sagt Ismail, er würde wieder so handeln wie damals. Dem „Feind“ die Kinder zu retten sei deswegen selbstverständlich für ihn, weil Kinder nichts für den Streit der Erwachsenen-Welt könnten. Weil sie nicht verstehen können, warum zwei Völker in ihrem Land nicht friedlich, gerecht und frei zusammen leben und sich achten können. Wir umarmen uns zum Schluss lange, versprechen einander in Kontakt zu bleiben. Uns wiederzusehen, wenn er im Dezember wahrscheinlich wieder in Deutschland sein wird.

Wieder um Leben zu retten und für die Organspende an Kinder zu werben.

Am Checkpoint

Ungewohnte Bilder für Europäer. Der Checkpoint in Jenin am 7.10.2018. Foto: Jens-Uwe Jopp
Ungewohnte Bilder für Europäer. Der Checkpoint in Jenin am 7.10.2018. Foto: Jens-Uwe Jopp

Beseelt vom Treffen mit Ismail Khatib macht sich unsere Reisegruppe bereit für die Rückfahrt ins israelische Kernland Richtung Südwesten nach Netanja. Uns stehe nur noch der Checkpoint bei der Ausfahrt aus dem Westjordanland bevor, grinst mir mein arabischer Begleiter Salam zu. Gegen 16 Uhr langen wir dort an. Blutjunge israelische Sicherheitsmädchen in leuchtendem Gelb – ich schätze sie auf 18 oder 19 Jahre – empfangen uns mit barscher Stimme und bestimmendem Gestus – Name, Passport, Alter, Beruf.

Dahinter stehen in einiger Entfernung respekteinflößend Soldaten mit Maschinenpistolen. Auf das Hochhalten des Fotoapparates wird von diesen mit abwehrenden Handbewegungen reagiert, man fragt uns auf Hebräisch, warum wir denn an so einem Ort Fotos machen wollten, das sei doch kein „schöner“ Ort. Warum er dann hier seinen Dienst tue, fragt ihn spitzbübisch Salam.

Sheren merkt an, nachdem unser Auto wie bei einem vermuteten Sprengstofftransport untersucht wurde, wir alle Taschen leeren mussten und unsere Rucksäcke durchleuchtet bekamen, ob das alles wirklich nötig sei, zumal es sich um interessierte Gäste aus Deutschland handelt, die man hier so lange festhält und an der Weiterreise hindert.

Das sei doch an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich sicher nicht anders, glauben die Soldaten hier. Als ich das übersetzt bekomme, kann ich nur gequält lächeln. Man bedeutet uns einzusteigen und weiterfahren zu können. Noch einmal der Blick über das gesamte Gelände des Checkpoints am Westjordanland. Wir scheinen immer noch Glück gehabt zu haben. Am Rande des Grenzüberganges sieht man einen vergitterten Laufgang, durch den Menschen gehen.

Das seien die Palästinenser, die eine begrenzte Arbeitserlaubnis für Israel haben, erklärt man uns. Warum durchqueren die nicht den ganz normalen Checkpoint, der auch für die Touristen und normalen Grenzgänger mit den Autos offensteht? Das erklärt man uns nicht.

Und weiter gehts, nun endlich “An die judäische Volksfront” in Teil 4

Zur Reihe „Israel intensiv“: Jens-Uwe Jopp war 14 Tage auf einer ungewöhnlichen Reise in Israel, welche ihn in viele verschiedene Teile des Landes führte. Ziel und ein Höhepunkt der Reise war dabei auch Ismail Khatib zu treffen. Sein Sohn Ahmed Khatib war 2005 irrtümlicherweise von israelischen Soldaten erschossen worden, sein Vater gab daraufhin die Organe zur Transplantation an jüdische Kinder frei. Diese Geste erregte ein weltweites Interesse, die Dokumentation „Das Herz von Jenin“ (Trailer im Video) zeigt die Geschichte. Ismail Khatib ist heute weltweit bekannt und hat eine Organspendeplattform „Search of Life“ ins Leben gerufen.

Hier ist der mehrteilige Bericht von Jens-Uwe Jopp über Erlebnisse und Stationen unter anderem in Tel Aviv (Jaffa), Haifa, Qalanzawe (20 km östlich von Netanja), See Genezareth und Tabgha, Jenin im Westjordanland, Bethlehem (Westjordanland), Totes Meer, Jerusalem, Akko (eine alte Kreuzfahrerhauptstadt am Mittelmeer), Kapernaum (die „Petrusstadt“), Nazareth, Massada und Caesarea.

Zum Autor: Jens-Uwe Jopp ist Lehrer am Schiller Gymnasium. Ein ungewöhnlicher Leipziger Pädagoge für Deutsch und Geschichte, denn viele Leser kennen ihn auch als Autor der LEIPZIGER ZEITUNG oder Organisator der „Schiller Akademie“, wo er und seine Schüler unter anderem bereits mit Friedrich Schorlemmer über aktuelle Zeitfragen diskutierten.

Am 13. November 2018, ab 16 Uhr, findet diese übrigens erneut statt, dann mit einer Diskussionsrunde mit Dr. Gregor Gysi und einem Livestream auf L-IZ.de.

Israel intensiv: Mit Sheren nach Jenin

Israel intensiv (2): Mit Sheren nach Jenin

 

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