Wenn es um den Konflikt zwischen Isrealis und Palästinensern in Gaza geht, dann sind die Fronten in Deutschland schroff und unversöhnlich, werden alte Feindbilder wieder virulent und aus einer Isrealkritik wird immer wieder ein offen geäußerter Antisemitismus, unter dem auch die in Deutschland lebenden Juden leiden.

Eine aufklaffende Unfähigkeit zur Differenzierung, an der auch die Medien nicht ganz unschuldig sind. Es gibt viel zu wenige Journalistinnen wie Sabine Adler, die über den Konflikt nicht nur vom Hörensagen berichten, sondern selbst hinfahren in das so heftig kritisierte Israel.

Und mit den Leuten reden. Was sie auch deshalb kann, weil sie schon seit Jahren Kontakte zu einer ganzen Familie hat, die in Israel lebt. Eine große Familie mit Mitgliedern, die völlig unterschiedlich ticken. Eigentlich so wie bei uns.

Auch in Deutschland müsste jemand nur losgehen und eine große verzweigte Familie befragen und würde mitkriegen, wie zerrissen, gefleckt, bunt und seltsam dieses Land und seine Leute sind. Aber das wird selbst in deutschen Medien negiert. Es wird so getan, als wäre alles klar, gäbe es nur Schwarz und Weiß und nichts dazwischen.

Und weil man über das eigene Land so dumm denkt, projiziert man dieses Denken auch auf andere. Besonders dann, wenn sich das kritisierte Land gleich mal (und scheinbar automatisch) als Sündenbock anbietet.

Also packte Sabine Adler ihren Koffer und flog hin, verabredete sich unter anderem mit Ruth Goldmann, einer Holocaust-Überlebenden, mit der sie schon vorher enge Kontakte pflegte. Und knüpfte dann Gespräche mit Kindern und Enkeln, Neffen und Nichten an.

Und ließ sie alle zu Wort kommen, erzählen, wie sie zu Israel stehen, zum Gaza-Konflikt, zur Netanjahu-Regierung, zur Siedlungspolitik, zur Kritik aus dem Westen und der Bedrohung durch die aggressiven Nachbarn. Sie fragt, hört zu. Aber sie lässt ihre Gesprächspartner gelten, die tatsächlich die unterschiedlichsten Sichtweisen auf das haben, was am 7. Oktober 2023 geschah und danach.

Ein Ereignis mit Vorgeschichte

Schnell wird klar, dass es das monolithische Israel, wie es meist gezeichnet wird, so nicht gibt. Dass sich dieses Land verändert hat und auch seine Bewohner unterschiedlich kritisch auf das schauen, was da gerade geschieht. Aber es wird auch deutlich, wie sehr der Gaza-Konflikt seinen jahrelangen Vorlauf hat.

Bis hinein in einen am Ende missglückten Versuch, den Frieden zu stärken, der 2005 mit dem Rückzug der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen begann, der unter der Regierung Ariel Scharons eingeleitet wurde und Israel und Palästina einer Zwei-Staaten-Lösung näherbringen sollte.

Doch dabei ist so viel schiefgegangen, dass man in vielen Beiträgen spürt, wie sich auch bei liberal und weltoffen eingestellten Israelis die Ratlosigkeit darüber breitmacht, ob es für den Konflikt überhaupt eine friedliche Lösung geben kann.

Denn 2005 war auch der Moment, in dem die Hamas im Gaza-Streifen nach und nach die Oberhand gewann, die ersten (und einzigen) Wahlen gewann und das Land im Grunde in eine autoritäre Diktatur verwandelte. Und die nächsten Jahre – mit Unterstützung von Ländern wie Iran – aufrüstete und untertunnelte.

Und im Grunde die eigene Bevölkerung in Geiselhaft nahm. Denn neue Wahlen gab es nicht. Dafür zunehmend gewalttätige Propaganda (bis in die Schulbücher hinein), die dann in den Überfall vom 7. Oktober mündete.

Natürlich fehlt auch ein Buch, in dem die unterschiedlichsten Bewohner des Gaza-Streifens zu Wort kämen. Aber das gibt es schon deshalb nicht, weil eine sichere Reise von unabhängigen Journalist/-innen in das Gebiet bis heute nicht möglich ist.

Ein Land in seinen Konflikten

Aber natürlich wirft auch das Vorgehen der israelischen Armee Fragen über Fragen auf. Fragen, die sich nicht nur die Europäer in ihren Fernsehsesseln stellen, sondern auch die Israelis selbst, für die dieser Konflikt auch nicht erst mit dem 7. Oktober begann.

Das Land hat seit 1948 mehrere Kriege erlebt, in denen die Angreifer versuchten, die Existrenz eines jüdischen Staates auszuradieren. Mehrere Siedlungen, die Sabine Adler besucht, waren Schauplätze dieser Konflikte, wurden zeitweilig sogar ausgelöscht.

Mit Armeevertretern oder Politikern wollte sie freilich nicht sprechen, nicht schon wieder die üblichen öffentlichen Statements abfragen, hinter denen Kalkül steckt, aber nicht wirklich persönliche Betroffenheit.

Und viele ihrer Gesprächspartner/-innen waren selbst betroffen. Manche als Reservesoldaten, die sofort am 7. Oktober wieder zur Armee gerufen wurden und ihre Einsätze in Gaza hatten. Manche als Helfer im Hinterland.

Gerade die Frauen mussten bei der Abwesenheit der Männer die Familien allein managen, dafür sorgen, dass der Alltag weiterging. Und das unter oft erschwerten Bedingungen, denn Raketenalarme hielten Israel auch in den Folgemonaten in Schach. Die Raketen kamen aus dem Iran und aus dem Jemen. Anfangs auch aus dem Libanon, bevor auch dort die israelische Armee eingriff.

Stückweise baut sich ein Panorama jener politischen Welt auf, in der Israel nur deshalb bis heute überlebt hat, weil es immer bis an die Zähne bewaffnet war und die Mehrzahl der Israelis ganz selbstverständlich zur Armee ging, um dieses Land zu verteidigen. Nicht alle. Auch das wird thematisiert.

Denn längst wächst die Zahl ultraorthodoxer Juden im Land, die nicht bereit sind, mit der Waffe für dieses Land zu kämpfen. Mit einigen ihrer Gesprächspartner kann sie auch diesen Teil der israelischen Bevölkerung sichtbar machen, der längst selbst im Fokus der – israelischen – Debatten steht.

Genauso, wie auch Netanjahus Politik zur Diskussion steht. Denn die meisten Israelis haben sehr wohl gemerkt, dass der Premier in diesen Krieg gegangen ist ohne die geringste Vorstellung, was nach einem Sieg mit Gaza passieren sollte, während ihn die reaktionären Partner in seiner Regierung auch noch mit wilden Vorstellungen einer kompletten Besetzung von Gaza vor sich her treiben.

Eine Demokratie in Gefahr

Und nebenher läuft die ganze Zeit der Protest gegen die von Netanjahu geplanten Justizreformen, die die Unabhängigkeit der Justiz aushöhlen sollen und der Regierung mehr Zugriff auf die Richter geben soll. Noch hat man mit Israel eine Demokratie vor sich, in der die demokratischen Grundregeln gelten.

An denen übrigens auch die arabische Bevölkerung Israels partizipiert, die man oft einfach vergisst, wenn man aus Europa auf das kleine Land schaut. Und mehrere Gesprächspartner/-innen engagieren sich seit Jahren auch in Initiativen, die die Kommunikation mit den palästinensischen Nachbarn – trotz allem – aufrechterhalten wollen.

Genau wissend, dass die zunehmende Feindschaft auf beiden Seiten genau da ihre Wurzeln hat: In der Unfähigkeit miteinander zu reden und gemeinsame Lösungen zu finden.

Eine Unfähigkeit, die gerade in den letzten Jahren gewachsen ist – in Gaza mit dem Triumph der Hamas, in Israel mit den zunehmend nationalistischer auftretenden Regierungen um Benjamin Netanjahu. Und das gefährdet auch die Zukunft Israels, weil das auch im Land selbst die Gräben vertieft, auch das wird thematisiert.

Die Menschen, die Sabine Adler trifft, machen sich nicht nur Sorgen um sich selbst und ihre Angehörigen. Sie sorgen sich auch um die Zukunft ihres Landes. Freundschaften zerbrechen, Extremisten schüren den Hass, Siedler treiben den Bau immer neuer Siedlungen auf palästinensischem Land voran. Darunter echte Extremisten, deren Tonfall sich nicht viel von dem der Hamas unterscheidet.

Es sind tatsächlich schon Parallelwelten, die auch die israelische Gesellschaft zu sprengen drohen. „Was könnte den Hass stoppen?“, fragt Sabine Adler. Nicht nur sich, sondern auch ihre Gesprächspartner. Unter denen auch etliche sind, die genau dieses Miteinander-Sprechen wieder üben, Menschen mit unterschiedlichsten Sichtweisen wieder an einen Tisch holen, Gesprächskreise bauen, in denen vor allem eines gilt: einander zuzuhören.

Bereit zu Rede und Antwort

Manchmal fühlt man sich direkt an deutsch-deutsche Gesprächsunfähigkeiten erinnert. So fremd ist uns Israel ganz und gar nicht mit seinen ganzen politischen Verwerfungen. Man lernt im Grunde eine Gesellschaft kennen, die sich selbst heftig streitet über Gegenwart und mögliche Zukunft.

„Inmitten des Gaza-Krieges liegen die Nerven bei vielen blank“, schreibt Sabine Adler. „Die Emotionen schlagen häufig stärker aus als in normalen Zeiten. Sich in dieser schwierigen Situation dennoch kritische Fragen zu stellen, verkraftet in Israel nicht jeder. Bei vielen herrscht der Eindruck vor, dass sich die ganze Welt von dem Land abgewendet hat. Umso erstaunlicher war es, dass die meisten Gesprächspartner genau aus diesem Grund bereit waren, Rede und Antwort zu stehen.“

Auch jene, die fundamentalistische Positionen vertraten. Aber sie alle waren bereit, ihre Haltung zu erklären, begreifbar zu machen für die Journalistin aus Deutschland. Denn natürlich ist es so: Jeder Mensch hat seine ganz persönliche Beziehung zu seinem Land und dem, was darin gerade vorgeht.

Und gleichzeitig muss sich jede und jeder positionieren zum Krieg: Geht man zur Armee und kämpft für das Land? Verweigert man sich? Organisiert man Nachbarschaftshilfe oder – wie eine ältere Psychotherapeutin – echte psychische Hilfe nicht nur für traumatisierte Soldaten, sondern auch für die Opfer des 7. Oktober und ihre Angehörigen, die zuweilen fast vergessen scheinen.

Zumindest, wenn man sich so manche Demonstration in Deutschland anschaut. Doch manche der Gesprächspartner lebten ganz in der Nähe, als die jüdischen Siedlungen angegriffen wurden, hatten dort Freunde, Bekannte oder Verwandte.

Und wie es sich anfühlt, bei Raketenalarm in den Bunker zu müssen, wissen eigentlich alle Israelis. Aber der Überfall vom 7. Oktober hat alles noch einmal verschärft.

Und das spürte auch Sabine Adler: „In diesem Kampf gibt es auf der einen wie auf der anderen Seite nur noch wenig Platz für Verständnis und Mitgefühl. Einige meiner israelischen Gesprächspartner sind an dem Punkt angelangt, an dem sie nur noch in den Kategorien ‘wir’ und ‘sie’ denken. Für sie grenzt es an Verrat, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen, seine Positionen zu verstehen.“

Und das lässt nichts Gutes ahnen, auch nicht für den Tag nach einem Friedensschluss, wie immer der dann aussehen kann.

Die Stimmen Israels

Ein bisschen Hoffnung hat Sabine Adler trotzdem mitgebracht: „Andere haben sich ihren differenzierten, kritischen Blick bewahrt, und manche sind sogar in diesen schweren Zeiten gewahr, dass für das Leben in diesem kleinen Land ein neues Miteinander nach dem Krieg schon jetzt dringend ausgehandelt werden muss. Sie wissen, anders als die Lautsprecher, dass das Recht des Stärkeren keinen Frieden schafft. Diese Gruppe ist kleiner, leiser, im Moment politisch schwächer, und doch ruhen auf ihr große Hoffnungen. Diese Menschen warten das Kriegsende nicht ab, sondern überlegen bereits, wie sie ihre israelische Gesellschaft verändern müssen, damit sie außer jüdisch auch demokratisch bleiben kann.“

Das ist der Aspekt, der in deutschen Debatten fast völlig zu verschwinden scheint: Dass viele der unheilvollen Entwicklungen im Konflikt mit den Palästinensern auch mit fatalen Entwicklungen in der israelischen Politik zusammenhängen. Entwicklungen, die überhaupt nicht gebannt sind.

„Die Hamas zu zerstören, ist keine rein physische Angelegenheit, weil mit ihr nicht zugleich die Ideologie verschwindet“, stellt Sabine Adler fest. „Hinzu kommt, dass die israelische Regierung im Windschatten des Gaza-Krieges Absichten verfolgt, die weit über den Kampf gegen die Hamas hinausgehen.“

Von der mit Sturheit verfolgten Justizreform ganz zu schweigen. Aber in den vielen Gesprächen, die Sabine Adler geführt hat, merkt man eben auch, dass die Kritik vieler Israelis an ihrer eigenen Regierung oft viel deutlicher ausfällt als die oft einfach nur generelle Kritik vieler Europäer an „Israel“, bei der man oft nicht weiß, wer damit eigentlich gemeint ist: Netanjahu? Oder seine reaktionären Koalitionspartner Ben-Gvir und Smotrich? Oder doch wieder ein imaginiertes Israel, bei dem alle Menschen mitgemeint sind, die in diesem Land leben?

Mit Sabine Adler lernt man im Grunde die Vielfalt heutiger israelischer Stimmen kennen, aus verschiedensten Milieus und politischen Lagern. Sie hört zu. Stellt manchmal auch Fragen, die den Gesprächspartnern nicht gemütlich gewesen sein dürften.

Aber man lernt dabei Menschen kennen, die trotzdem versuchen, ihre Haltung zu erklären. Und ihre manchmal komplizierte Beziehung zu einem Land, das seinen Bewohnern eben doch Heimat ist. Wenn auch eine, an der sie oft genug ihre eigenen Zweifel haben. Und ihre Befürchtungen, dass die Demokratie dabei ins Rutschen kommen könnte.

Endgültige Antworten hat natürlich niemand. Aber für die Leser des Buches sind Sabine Adlers Gespräche ein tiefer Einblick in eine Gesellschaft, die keineswegs homogen und konfliktfrei ist. Und in der sich Menschen oft genauso verbittert in ihre Positionen verrennen wie die Bewohner des ganz und gar nicht simplen Deutschlands.

Und die dennoch Wege suchen, mit diesen Konflikten umzugehen. Und eine Haltung zu finden zum Krieg, zu Gaza und einer möglichen Zukunft für eine zutiefst gefährdete Demokratie.

Sabine Adler Israel Ch. Links Verlag, Berlin 2025, 24 Euro.

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