Träume und Wünsche sind Bestandsaufnahmen. Was bereits vorhanden ist, bildet den Rahmen für das Neue. Was nicht hier ist, wünschst du dir. Da sitzt du nun und bist gefragt, wovon du in dieser Stadt träumst. Weniger Baustellen. Jaja. Mehr Radwege, mehr Bäume – schon klar. Wenn du dich von deiner Metaebene im Traum in die Stadt begibst, in der du lebst, erfasst du es am besten.

In deinen Kindheitserinnerungen heißt es dann etwa, dass du diese oder jene Straße im Ballspiel gekannt hast. Die alte Frau mit ihren vollen Einkaufstaschen hatte immer eine Zuckerbrezel für dich. Opa hat immer nach Bier gerochen. Der vietnamesische Gemüsehändler hat dir Weintrauben geschenkt.

Wenn du nun aus deinem Traum aufwachst und tatsächlich rausgehst, findest du die Straße verändert. Dein Geburtshaus wurde abgerissen. Ein anderes Haus hat einen neuen Anstrich erhalten. Auf einer so stark befahrenen Straße spielt kein Kind mehr Ball. Auch die alte Frau und der biertrinkende Opa sind seit vielen Jahren nicht mehr hier.

Die Veränderung wird deutlicher. An Stelle deines Geburtshauses erhebt sich ein neues Haus, ein höheres und komfortableres. Hier ist das Klo nicht auf halber Treppe. Den Berliner Ofen ersetzt möglichst eine Fußbodenheizung. Da wohnt man viel zufriedener. Das sagen auch die alten Frauen von heute. Sie sind nachgerückt. Wie auch du.

Zweimal in der Woche fährst du eine alte Frau besuchen

Dann kaufst du für sie ein, erledigst einen Botengang. Ihr esst gemeinsam. Aber was für dich viel entscheidender ist – du hörst ihr zu. Von ihr hast du erfahren, dass deine Straße zwischen euren Kindheiten auch eine andere war, dass Häuser fielen, dass Ball gespielt wurde oder dass Hühner eingefangen wurden. Die Frau war auch eine andere. Sie zeigt dir oft Fotos. Dann lacht ihr laut über die Streiche, die sie den Nachbarn gemeinsam mit ihren Freunden gespielt hat.

Oft wird der Ton auch leiser, wenn sie erzählt, dass ihr Vater aus diesem riesigen Krieg nicht zurückgekehrt ist. Wie ihre Mutter drei Kinder allein zu guten Menschen gemacht hat. Von der Mehlsuppe erzählt sie dir. An sich kein besonderes Gericht. Jetzt wird ihr Blick geheimnisvoll. Es gab da eine ganz besondere Zutat ihrer Mutter. Du bist gespannt. Liebe. Liebe? Liebe. Na klar! Die Liebe in dieser Mehlsuppe ist das Nahrhafteste, wenn du in Trümmern hoffen musst, erzählt sie dir. Da steckt der Glaube an das Morgen drin.

Oft ist es schon dunkel, wenn sie dich an der Tür verabschiedet. Dann gehst du eure Straße entlang und siehst durch die Fenster im Erdgeschoss. Ob dem Mann vor seinem Fernseher auch zugehört wird? Wer hat ihm eine Mehlsuppe gekocht, als er klein war?

Wie du so überlegst, kommst du wieder zu den Träumen und Wünschen, nach denen du vor ein paar Tagen gefragt wurdest. Jetzt weißt du es! Du wünschst den Alten in dieser Stadt, dass ihnen zugehört wird. Du träumst davon, dass die Jungen in dieser Stadt mehr zuhören, öfter stehen bleiben und den Moment in sich aufnehmen können.

Das Zuhören beschränkt sich in deinem Traum auch nicht nur auf das Alter. Vielmehr geht es dir um ein Hinterfragen. Speziell in der heutigen Zeit hast du den Hass so vieler hinterfragt und dabei festgestellt, dass sie nicht verstehen, weil sie den von ihnen Gehassten nie zugehört haben. Also träumst du von einer noch offeneren, noch herzlicheren und noch empathischeren Stadt.

Einen Satz hat dir die alte Frau noch mitgegeben: Geht nie im Streit auseinander! Morgen kann alles vorbei sein.

Zur Reihe „Wenn Leipziger träumen“: Wie schon im Jahr 2017 und manchen Jahren zuvor, sind sie wieder unter uns – die Leipziger Träumer. Mal visionär oder fragend, mal ganz nah bei sich haben Menschen ihre Wünsche und Träume frei von redaktionellem Eingriff unsererseits aufgeschrieben. Für die Stadt in der sie leben, für sich und für alle Leser der L-IZ.de und der Leipziger Zeitung. Ein unverstellter Blick auch auf die, die im Alltag oft eher leisere Stimmen als haben oder bekanntere Namen, die sich zur Abwechslung mal ganz persönlich äußern wollen.

Dabei ist es logisch, dass jeder der bereits 2017 und in den folgenden Tagen auf der L-IZ.de veröffentlichten Träumer durch Beruf, das persönliche Umfeld und eigene Erlebnisse verschiedene Ansätze bei der Beantwortung der Frage nach einem besseren Miteinander, wichtigen Vorhaben und einer gemeinsamen Zukunft in unserer Gesellschaft haben muss. Vor allem aber: viele voller Hoffnung auf ein besseres Miteinander in unserer Stadt.

Alle Träume, welche bereits veröffentlicht sind, finden Sie unter dem Tag l-iz.de/tag/traeume.

Wenn Leipziger träumen: „Für Ideen für mehr soziale Gerechtigkeit endlich mal eine Mehrheit …“

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