Liegende Akte von vorn links, von rechts, mit angewinkelten Beinen, über Kopf, mal mit Bleistift und aquarelliert, mal getuscht, mal auf blauem Karton, mal auf Kontorpapier - Hubertus Giebe kann es nicht lassen. Der junge weibliche Körper fasziniert ihn immer wieder aufs Neue. Und man hätte auch verstanden, wenn Viktor Kalinke lauter erotische Gedichte dazugepackt hätte.

Hat er nicht. Nicht nur. Auch wenn es immer wieder um Liebe geht, Leidenschaft, Lebenslust und Reisen. In alle vier Himmelsrichtungen. Mit entsprechenden literarischen Anklängen, die die Kenner des Verlagsprogramms des Leipziger Literaturverlags schon kennen. Kalinke war da überall. Er ist ein reisender Verleger und ein bereister Autor. Er war in den sarmatischen Landschaften Bobrowskis und in der Sowjetunion, auch schon, bevor die russischen Mädchen alle zu verkleideten Nabokov-Lolitas wurden. Nymphchen. Dafür braucht ein neugieriger Autor natürlich nicht mehr nach Moskau zu fliegen, die kann er auch in Leipzig stolzieren sehen. In der Innenstadt etwa, “ein Ort / den ich meide”.In Kreisen zieht er um die Stadt, besucht Dresden, Chemnitz, Altenburg, hebt ab Richtung Hamburg, Prag, Montenegro. Er könnte auch überall die Autorinnen und Autoren zitieren, die er in seinem Verlag versammelt hat. Macht er natürlich nicht. Denn mehrere Seelen hat er in seiner Brust, ist nicht nur Verleger und Philosoph, sondern tatsächlich auch Dichter, hält die Dinge fest, die ihm wichtig sind, in sauberen Versen, Versen wie Tagebucheinträge. Manchmal steht der Ort drüber. Manchmal redet er Klartext.

Und spielt dabei mit dem Feuer. Stürzt sich in den Sex und in die Trauer, in Freundschaften und Verluste, gesteht sich Melancholie, Eifersucht und Verlustangst zu. Und die Dimension der Zeit. Liebe ist nicht vorbehaltlos. Kann es gar nicht sein in diesen Zeiten. Teppiche erzählen die Geschichte der Herkunft, der Erniedrigungen des Krieges, der eigenen Jugend und des Wissens darum, dass der Schein durchaus trügen kann.

Und wie ist es mit der Trauer? Wie macht man das, wenn der eigene Vater eingestandenermaßen nicht trauern kann und der Großvater – unbetrauert – irgendwie verschwand in den russischen Weiten des letzten Krieges? – Kalinkes Gedichte sind immer ein bisschen philosophisch, nachdenklich sowieso. Im Gewinn steckt der Verlust, in der Liebe die Skepsis. Und die Sammlung liest sich zwar, wie in einem Ton komponiert, doch der Themenbogen macht eher ein halbes Leben aus. Die Freude an der Liebeslust kontrastiert mit der Vergänglichkeit. In der Zweisamkeit sieht der beobachtende Liebhaber schon die Einsamkeit der Geliebten.Ein Motiv, das sich mit dem Umblättern häuft. “um das übersehene Glück zu sehen : stürze ich / ins spürbare Unglück”. Zum Gefühl des Sieges gehört die notwendige Niederlage, zur Lust des Jungseins das Gefühl fürs Vergehen. “wir werden älter / & die Rebellen in der Wüste immer jünger …” Und die Beziehungen werden immer unsicherer, je länger einer so lebt, liebt und liest. Am Ende kommt gar ein Finanzbeamter namens Frank Kafka auf Hausbesuch und stellt nüchtern nach Inspektion aller Gegebenheiten fest: “wann er schläft & mit wem / ist nicht zweifelsfrei feststellbar : das Amt sollte / ihn genauer im Blick behalten …”

Klar. Das Spiel mit den Brüchen liebt er auch. Hinter jeder Wendung kann auch eine hübsche poetische oder buchhalterische Überraschung stecken: “…: natürlich // nicht ihn : nur seinen Geldverkehr : gezeichnet Frank K.”.

Mit Hubertus Giebe hat er sich einen Partner in diese Liebes- und Lebensodyssee geholt, dessen Zeichnungen junger, lebenshungriger Frauen wie ein Grundton sind. Klar. Es geht ja um nichts anderes, als um diese hingestreckten Schönen und die Freude mit ihnen. Auch die danach, wenn sie sich wieder angezogen haben. Was ja bei manchen Mädchen nichts heißen will. Sie bleiben so unfassbar und begehrlich. Und marionettenhaft. Das fällt auf. Die Frauenkörper in Giebes Zeichnungen sind plastisch, wie zum Anfassen und Erkunden hingebreitet. Doch die Gesichter sind fast immer abgewandt, in den Schatten getaucht oder wie die Gesichter von Puppen. Der Körper ist da, die Gedanken der Schönen aber sind wohl schon längst über alle Berge.

“die Schuhe : gazellenfarben / verraten : daß du dich eines Tages / in rasende Dunkelheit verwandelst”.

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Welcher König hat hier gehaust
Viktor Kalinke, Leipziger Literaturverlag 2012, 29,95 Euro

Und dann verwandelt sich die Begeisterung in Melancholie und was eben so klar und einfach war in ein Rätsel. “ich will dich / nicht wiedersehen – wenn ich die Trauer // durchwandert habe : auf der anderen / Seite des Berges : ist nichts zu sehen / von dir : gletscherhaftes Schweigen”.

Und was bleibt? – “Zwei Frauen, drei Kinder. Daoist. Lebt als Dichter, Übersetzer und Verleger in Leipzig.” So steht’s am Ende dieses Buches in der kurzen Biographie. Man darf tatsächlich traurig sein in Deutschland, ohne zum Trauerkloß werden zu müssen.

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