Der Prozess gegen den 77fachen Mörder Anders Behring Breivik wird nicht wegen Mordes geführt, sondern - so steht es seit Anfang März fest - wegen Terrorismus. Dadurch erhöht sich das maximale Strafmaß für den Mann, der am 22. Juli in Oslo eine Bombe detonieren ließ und danach auf der Insel Utoya 69 junge Menschen erschoss, von 21 auf 33 Jahre.

Noch nicht geklärt ist, ob die Psychiater den 33-Jährigen für haftunfähig erklären. Auch das wird im Prozess noch geklärt werden müssen. Es ist durchaus zu erwarten, dass er vom Gericht noch für geisteskrank erklärt werden wird.

Es ist einer der vielen Aspekte, die beim ersten Fall, den die Journalistin Ingrid Raagard, die sich speziell der Berichterstattung aus den skandinavischen Ländern verschrieben hat, in diesem Buch schildert, für Diskussionen sorgt – aber wohl auch einen tiefen Einblick ermöglicht in die Welt von Menschen, die in ihrer Gewalt keine Grenzen kennen. Mit dem Buch legt der Militzke Verlag ein ebenso aktuelles wie emotionales Buch vor wie 2010 “Der letzte Schultag” von Göran Schattauer, in dem die Amoktat von Winnenden akribisch nacherzählt wird.

Mit fundierter Kritik an der journalistischen Aufbereitung rund um den Tathergang. Eigentlich vernichtender Kritik. Doch ändern wird die Kritik nichts. Die Art Journalismus, die schon Minuten, nachdem die ersten Nachrichten von solchen Gewaltexzessen eintreffen, die Schlagzeilen bestimmt, ist durch Kritik nicht zu zähmen. Sie hämmert mit Alarm-Getön auf die Leser und Zuschauer ein, buhlt mit sensationeller Übersteigerung um Aufmerksamkeit und spekuliert schon wild drauflos, bevor die Polizei auch nur ein erstes Bild von der Lage und vom möglichen Täter hat.So war es auch am 22. Juli 2011, als der von bizarren Verschwörungstheorien getriebene Anders Breivik im Osloer Regierungsviertel eine Autobombe zur Explosion brachte, die nicht nur acht Menschen das Leben kostete, sondern fast 90 Prozent der Regierungsbüros auf Monate hinaus unbenutzbar machte. Ziel seiner Aktionen, so sollte es das kurz vor der Tat versandte 1.500-Manifest des Täters erklären, war nicht nur die freiheitliche und offene norwegische Gesellschaft, es war explizit die norwegische Sozialdemokratie.

Deswegen fuhr Breivik auch – in einer selbstgeschneiderten Polizeiuniform – auf Umwegen auf die Insel der sozialdemokratischen Jugend Norwegens (FAU), um dort den jungen Nachwuchs der Sozialdemokraten “auszurotten”. Wissend, dass Hilfe so schnell nicht kommen würde. Die Polizei war noch mit dem Attentat auf das Regierungsviertel beschäftigt, viele Einsatzkräfte im Urlaub.

Die Presse würde sich nach den Ereignissen und dem einstündigen Morden des Einzeltäters auf der Insel heftig mit dem Handeln der Behörden auseinander setzen. Doch mit einem von mythischen Rassetheorien getriebenen Mann, der sein ganzen Streben danach ausrichten würde, an einem Tag so viele Menschen wie möglich zu töten, konnten auch die norwegischen Ermittler nicht rechnen. Sein “Manifest”, das er noch vor der Abfahrt zum ersten Anschlag an über 1.000 Adressen im Internet versandte, entpuppte sich als wirres Konglomerat aus Verschwörungstheorien, die irgendwo bei den Kreuzzügen des Mittelalters ansetzten (und die Breivik auch nur wieder von seltsamen Nationalisten abgekupfert hatte) bis hin zu den Rassetheorien der modernen Nationalsozialisten – womit Breivik recht schnell auch noch zu einer Heldengestalt in diesem obskuren Milieu wurde. Dass der erst vor wenigen Tagen in Chemnitz eröffnete Laden der Kleidermarke “Thor Steinar” jüngst den Namen “Brevik” erhielt, spricht Bände. Man beziehe sich laut Aussagen der Ladenbetreiber zwar auf eine so benannte Ortschaft in Südnorwegen, aber die Namensgleichheit zum Attentäter Breivik lässt natürlich Raum für Vermutungen.

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Auch über die Denkwelten der Rechtsextremen in Deutschland, die längst beste Verbindungen zu den Chauvinisten anderer Länder unterhalten. Und nicht nur dorthin. Denn die Quellen, auf die sich Breivik bezog, gehören zum mal grauen, mal schwarzen näheren Umfeld der rechtsextremistischen Szene, zuweilen esoterisch eingefärbt, zuweilen in biederem Bürgerzwirn daherkommend.

Damit befasst sich Ingrid Raagaard nicht näher. Die simple Schilderung der Ereignisse vom 22. Juli 2011 genügt vollauf, um die ganze Tragik für die Opfer nachzuzeichnen und – trotz der fehlenden Vorbereitung – die schnelle Einsatzbereitschaft nicht nur von Polizisten, Feuerwehrleuten, Sanitätern und Ärzten. Von einigen erzählt Raagaard auch die Biografien und die besonderen Verkettungen des Tages. Sie erzählt von den Urlaubern und Fischern, die mit ihren Booten Hunderte der flüchtenden Kinder und Jugendlichen retteten und von der Trauer, die auch Wochen nach der Tat noch in Oslo zu sehen und zu spüren ist.

Und sie lässt anklingen, dass Manches an Breiviks Verhalten durchaus in seiner Kindheit wurzeln könnte. Das fällt noch nicht so auf, wenn sie die Geschichte vom “Massaker” erzählt. Doch sie lässt dieser Geschichte aus Norwegen noch drei ältere Kriminalfälle aus Schweden und einen aus Dänemark folgen. Darunter den legendären Banküberfall vom 23. August 1973, in dessen Ergebnis der die Polizei begleitende Psychologe Nils Bejerot erstmals das so genannte “Stockholm-Syndrom” beschrieb. Das hier beobachtete Syndrom hängt wohl nicht nur mit der langen Phase des eng aufeinander Angewiesenseins von Geiseln und Tätern während der Geiselhaft zusammen, sondern gerade in diesem Fall auch mit der fast filmreifen Ausstrahlung des Mittäters Clark Olofsson, der zuvor schon eine Medienkarriere als Schwedens smartester Ganove hinter sich hatte.Heute unvorstellbar, meint Ingrid Raagaard. Die moderne Informationsgesellschaft hat – auch mit vielen blutigen Opfern – zumindest in Europa gelernt, Ganoven nicht mehr wie Bonnie und Clyde zu mystifizieren und zu Stars der Aufschlagseiten zu machen. Das gelingt nicht immer. Zu viele Medien sind nach wie vor noch an der ersten, möglichst blutigen Sensation interessiert, inszenieren die Tragödien als mediale Dramen und verzerren damit auch bewusst und oft mit Absicht die Sichtweise und die Informationsbasis für die Nutzer.

Mit “Der böse Mann in Uniform” schildert Raagaard den Fall eines der frühesten skandinavischen Massenmörder, des schwedischen Hilfspolizisten Tore Hedin, der zehn Menschen umbrachte, bevor er sich selbst ertränkte. Und wie in “Von Geiseln und Ganoven”, der Geschichte über die Geiselnahme von Stockholm, zeigt auch hier die Spurensuche, dass einige Ursachen für die Tat wohl in der Kindheit zu suchen sind. Was natürlich Fragen aufwirft, mit denen sich Ermittler immer wieder herumschlagen müssen: Warum werden manche Menschen mit einer solchen traumatisierenden Kindheit Mörder oder gar Massenmörder – und andere nicht?

Warum wird eine dänische Kinderärztin zur Mörderin, bloß weil sich ihr Geliebter nicht scheiden lässt? Und warum wird ein Junge mit einer Kindheit voller Vernachlässigung und Schläge zum Mörder, den die Polizei 15 Jahre lang nicht finden kann? Seine Geschwister aber nicht?

Beim Lesen der fünf Fallgeschichten fühlt man sich fast wie zu Hause, wenn man sich in der schwedischen Kriminalliteratur seit Sjöwall und Wahlöö heimisch weiß. Die beiden haben ja mit ihrer zehnbändigen Kriminalreihe die soziale und die psychologische Fallgeschichte zum Standard im Krimi-Genre gemacht. Von dieser Standardsetzung profitieren die Krimis aus Skandinavien bis heute. Und das Erstaunliche ist, dass auch der deutsche Krimi geradezu aufgeblüht ist, seit er sich diese Qualitäten des Skandinavien-Krimis angeeignet hat.

Was freilich nicht ausschließt, dass alles Wissen um die möglichen Gründe für kriminelle Exzesse nicht hilft, eben diese Exzesse zu verhindern. Gerade bei Breivik und auch beim durch Stockholm geisternden “Lasermann” wurde sichtbar, dass sogar genau diese aufgeklärte, offene Gesellschaft selbst das Ziel von Menschen ist, die ihre Angst vor eine freien, lebendigen Welt in Hass, Gewalt und zuweilen gezieltem Mord ausleben.

Die Mordserie des “NSU”-Trios gehört übrigens auch genau hier hin.

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Oslo/Utoya
Ingrid Raagaard, Militzke Verlag 2012, 17,99 Euro

Man ahnt, woher das kommt und dass gerade eine friedliebende Gesellschaft nicht gut beraten ist, diesen Menschen freie Hand zu lassen oder gar ihren eigenen Schutz – sprich: eine gut ausgestattete Polizei – zu demolieren. Es sind fünf durchaus erschütternde Geschichten. Nur eines kommt nicht auf, was in schlechten Krimis nur zu oft passiert: Sympathie mit den Tätern. Nicht mal mit dem schönen Clark Olofsson, den die jungen Frauen anhimmeln und der sich im späteren Verlauf seiner Ganovenkarriere als einer erweist, den nicht mal seine einstigen Kompagnons noch achten können. Er ist zum Drogenhändler geworden. Da spucken selbst die Bankräuber aus.

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