Natürlich ist dieses Land verschwunden, weg und verschollen. Nur die Gespenster laufen noch herum mit blasser Grimasse. Oder geben sich albern wie in all den lustigen Mauerromanen, die es in die Hitlisten der meinungsbildenden Zeitungen schaffen. Aber dann tauchen doch wieder solche Bücher auf, die scheinbar nur das unmögliche Leben im Osten beschreiben. Und auf einmal weht wieder ein Hauch von Wirklichkeit aus den Seiten.

Da ist der Mangel, da sind die ruinösen Häuser, da ist das geschwollene Drumherumreden, das Zwischen-den-Zeilen-Verstecken. Man kann die ganze DDR zusammenstückeln aus einzelnen Puzzle-Teilen, die alle stimmen. Jedes für sich mal Grau, mal Schwarz, mal trübe Suppe. Als hätte die ganze Zeit ein Schleier über dem Land gelegen aus Ruß und Neonlicht und Watte. Und dann kommt eine, die dieses Land erlebt hat als Kind, als aufmüpfige Jugendliche, als rebellische Tochter und Ich-werde-trotzdem-Sängerin. Und das ganze unscharfe Gebilde gewinnt auf einmal Kontur, wird plastisch, der Leser wird hineingesogen in eine fassbare, komplexe Welt.

Und diese Welt kommt einem – wo man nun schon mehrere Bücher gelesen hat, die sich derart kritisch und sensibel dem Leben in der hingeschwundenen DDR widmen – immer plastischer vor. Wobei wohl das falsche Wort in diesem Satz das Wort “DDR” ist. Es verstellt die Wirklichkeit. Sperrig und wie aus Beton steht es seit 22 Jahren in der Landschaft, alle reden drüber, alle kennen die Attribute. Und viele genießen es auch, all die Millionen Leben hinter diesem Wort mit dem Staat gleichzusetzen. Der natürlich überall gegenwärtig war, hineingriff ins private Leben, Menschen missbrauchte, Privatsphären missachtete.

Aber heißt das auch, dass es keine eigenen Leben gab? – Der Widerspruch ist eklatant. Und er war es ja, der das Land 1989 in sich zusammenfallen ließ. Die DDR ist ja nicht mit Panzern und Granaten niedergeworfen worden. Es waren ihre Bürger selbst, die ihr jegliches Vertrauen entzogen haben, die jeder für sich wussten: Das ist nicht Meins. So will ich das nicht. Hier habe ich keine Zukunft. Und zu Hunderttausenden schrieben sie Ausreiseanträge, weil sie darauf hofften, da draußen in einem anderen Land ein ehrlicheres Leben führen zu können.
Judith Buntrock hat “Roman” unter den Titel geschrieben. Es liest sich aber wie selbst erlebt. Das hier sind nur scheinbar fiktive Gestalten. In dieser Geschichte steckt Herzblut. Es ist eine Lebensgeschichte – die Lebensgeschichte einer jungen Frau, die sehr wohl weiß, wie das Land funktioniert, in das sie hineingeboren wurde. Sie hat die magere Kindheit erlebt mit ihren Eltern, die ihr sauer Verdientes für einen “Trabant 600” ansparten. Im Hinterhof steht noch die Teppichklopfstange, die alten Häuser verkommen und alle träumen vom Umzug in eine der Neubauten, auch wenn die Stalinallee in Berlin wohl erst einmal für die Funktionäre gebaut wurde.

Es ist aber kein vorwurfsvolles Buch. Warum auch? Wer nicht weiß, wie selbstbewusst, fordernd und anpackend junge Frauen sein können, hier kann er’s nachlesen. Oder sie. Menschen wachsen an ihren Herausforderungen. Das klingt seltsam, wenn man den Scherbenhaufen sieht, der seit 1990 angerichtet wurde. Wo sind diese selbstbewussten Frauen geblieben, auf die selbst Bücher aus der westdeutschen Großverlagen 1990 ff. ein Hosianna gesungen haben? Die ach so begehrten Ost-Frauen? – Klar, zu Hunderttausenden gingen sie in den Westen. Der Liebe hinterher, der Sehnsucht oder der Arbeit.

Auch die Heldin des Buches geht zum Schluss, folgt ihrer Liebe, dem älteren Mann, der sie fasziniert, nachdem ihre Ehe mit dem ersten, einem eigenwilligen Musikanten, gescheitert ist. Kaputt ging mit gegenseitiger Enttäuschung und neuen Liebschaften. Es ist natürlich ein anderes Familienbild, als es sich neuerliche Hausfrauenministerinnen so denken. Ein irdischeres, ohne die falsche Romantik von Heim und Herd. Nicht leicht auszuhalten. Das stimmt. Frauen wie die Buchheldin sind fordernd, neugierig, wach und selbstbewusst. Sie wollen ihr eigenes Leben leben, nicht das, das sich andere für sie ausdenken. Und ganz bestimmt ist das Buch auch sehr subjektiv. Wie sollen Männer wissen, wie sie von Frauen gesehen werden?

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Mit Gregor hat sie zumindest ein sehr forderndes Exemplar erwischt, das seine alten Machoallüren nie ablegen wird. Auch so waren Männer in der DDR, auch solche, die sich feiern ließen: großmäulig für Gleichberechtigung – aber Kochen, Waschen und Kinder haben sie trotzdem den Frauen überlassen.

Aber Frauen kämpfen auch. Und dieses Gregor-Exemplar kann sich nicht beklagen. Auch wenn er sich in schwülstigen Briefen, die vielleicht nur für die Heldin liebevoll klingen, beklagt über ihre Kochkünste und ihr Nicht-Perfekt-Sein.

Wo bleibt die Westschokolade? – Sie spielt eigentlich keine Rolle. Das ist das Seltsame. Die Sehnsucht nach dem Westen wird nur aus der Westsicht wirklich von den vollen Regalen und diesem Überangebot des Süßen und Schmackhaften bedient. Es ist nicht das erste Buch, in dem das so deutlich wird, dass die Faszination des Westens nicht die Westschokolade war oder die tollen Klamotten oder der Intershop-Geruch. Die eigentliche Faszination war etwas, was fehlte: die Freiheit. Als Gegenentwurf zur heimisch erlebten Nötigung, Gängelei, dem Gefühl, dass sich nichts mehr bewegte, dass sich die Welt in eine zähe, ungenießbare Suppe verwandelte.

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Westschokolade
Judith Buntrock, Patchworldverlag, 20,00 Euro

Und Judith Buntrock schafft es, das zu erzählen. Bis zu dem Tag, an dem sie den Berliner Fernsehturm zum ersten Mal “von der anderen Seite” sieht. Da spürt sie schon, dass ein Stück Heimat zurückgeblieben ist. Ein Gefühl, das die Warenfluten in westdeutschen Supermärkten nicht ersetzen können. Und auch die “heißersehnte Westknete” nicht.

Es ist ein Buch vom Nicht-klein-kriegen-Lassen, vom “Nun reicht’s”-Sagen, das auch in neuerlichen Zeiten meistens weniger gern gesehen wird. Das Titelbild ist entsprechend bildhaft zu fassen: Es ist die Liebe und es ist die Sehnsucht, die Mauern überwinden. Wenn man so etwas den Politikern überließe, würde es nie geschehen.

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