In Vorbereitung auf das 1.000. Jahr der Ersterwähnung von Leipzig veranstaltet die Stadt seit vier Jahren immer im Herbst einen Tag der Geschichte. Immer steht ein Schwerpunktthema im Mittelpunkt. Mal war's die Universität, mal waren es die Schulen. Am 6. November 2011 war es die Wirtschaft. Klingt alles trocken. Megathemen sind auf den ersten Blick immer trocken. Im Detail aber merkt man bald: Es könnte spannend werden.

Könnte. Wenn Forscher Lust haben, sich in die Archive zu knien und tausende Meter an Akten zu wälzen. Man darf den Schreibern, Archivaren, Buchhaltern – all diesen grauen Federfüchsen der Jahrhunderte – dankbar sein. Das, was sie niederschrieben, sind die papiergewordenen Zeitschichten, aus denen wir heute ein plastisches Bild der Vergangenheit gewinnen können. Und was auf den ersten Blick wie gestelztes Bürokratendeutsch aussieht, entpuppt sich beim zweiten Hinsehen als ein mit Emotionen, Konflikten, Absichten und Politik aufgeladener Text.

Doch dieser Band mit den Vorträgen zum Tag der Stadtgeschichte und einigen Aufsätzen, die in dem knappen Zeitrahmen gar nicht gehalten werden konnten, zeigt auch, was man eigentlich über Leipzigs Wirtschaftsgeschichte weiß: wenig bis nichts. Was schon bei der Diskussion um die königlichen Privilegien für die drei Leipziger Jahrmärkte durch Maximilian I. beginnt, die selbst die heutige Messegesellschaft vollmundig als Erhebung zur Reichsmesse verkauft und gar als Verleihung eines solchen Messeprivilegs.

Aber Manfred Straubes Beitrag in diesem Buch ist nicht ohne Grund emotional aufgeladen. Denn der so zum Marketing erhobene Ruhm ist zwar schön, kleistert aber die tatsächlichen geschichtlichen Entwicklungen zu. Denn hinter dem Kampf der Leipziger um die Ausweitung und Bestätigung ihres Stapelrechtes steckt nicht nur der Konkurrenzkampf gegen die Jahrmärkte in Halle, Magdeburg und Erfurt (die von ihren Fürsten genauso protegiert wurden wie der Leipziger Messplatz durch die Wettiner), es steckt auch die eigentliche wirtschaftliche Neusortierung des 15. Jahrhunderts dahinter.Auch für Leipzig, das zwar an einer Handelsstraßenkreuzung günstig gelegen war, aber um 1458, als Kurfürst Friedrich II. von Sachsen die Neujahrsmesse bestätigte, gerade erst begann, sich als wichtigste Handelsstadt in Mitteldeutschland zu etablieren. Ein Vorgang, der eng mit der Politik der Wettiner verknüpft war, die mit der Stärkung ihrer Macht zwischen Elbe und Thüringer Wald auch die Warenströme innerhalb Mitteleuropas veränderten. Bis dahin war Frankfurt am Main die wichtigste deutsche Messe – und konnte sich trotzdem nicht mit anderen europäischen Messplätzen wie etwa Lyon messen.

Aber mit der Festigung der Machtstrukturen gerade in Sachsen veränderten sich Handelswege, gewann Osteuropa ein völlig neues Gewicht. Und über wenige Jahrzehnte begannen sich die Schwerpunkte im mitteleuropäischen Handelsnetz zu verschieben. Und Städte wie Merseburg, Halle, Magdeburg und Erfurt waren ernsthafte Konkurrenten in diesem Ringen, das keineswegs entschieden war. Die Händler hatten die Wahl. Bis sich Leipzig mit den erkämpften Privilegien sein Stapelrecht sicherte. Das für die Händler fortan eine Stapelpflicht war: Sie mussten ihre Waren in Leipzig anbieten. Und die konkurrierenden Städte durften ihre Jahrmärkte nicht mehr in Konkurrenz zu den drei Leipziger Jahrmärkten ausrichten.

Noch eins drauf setzt Enno Bünz mit seinem Beitrag zur Faktorei der Fugger, die genau in dieser Zeit in Leipzig existierte. Sie kamen nicht wegen der Messen nach Leipzig. Doch sie richteten ihre Faktorei in der Leipziger Kupfergasse augenscheinlich ein, weil hier schon all die Strukturen entstanden waren, die zu einem erfolgreichen Messplatz gehörten. Von der Logistik bis hin zu den Handelsbeziehungen.

Und so nebenbei lernt man auch noch über diese Zeit, dass Leipzig Frankfurt noch ein Privileg abjagte: Leipzig wurde zu jenem Ort, an dem fortan die Wechselkurse zwischen den Dutzenden deutschen Währungen bestimmt wurden. Jedes Fürstentum hatte ja im Grunde seine eigene Währung. Aber das Verhältnis dieser Währungen zueinander wurde dort bestimmt, wo die größten Warenumschläge stattfanden. Und das war gegen Ende des 15. Jahrhunderts Leipzig.

Die Messe taucht in den Beiträgen zu diesem Buch immer wieder auf, denn sie ist – anders als alle anderen Wirtschaftsbereiche – relativ gut erforscht. Noch besser erforscht sind die Buchstadt und die Buchmessen, auch wenn es da bis heute genauso märchenhafte Vorstellungen gibt über Ursachen, Ruhm und Niedergang. Thomas Keiderling hat das in seinem Buch “Aufstieg und Niedergang der Buchstadt Leipzig” schon sehr detailliert aufgearbeitet. Natürlich ist er auch in diesem Band mit einem Beitrag zur Buchstadt vertreten.

In dem er wieder erklärt, wie wenig die “Buchstadt” eigentlich mit schönen Büchern und wohlgesonnen Verlegern zu tun hat – wie viel aber mit modernen Transport- und Orderstrukturen, der zentralen Lage, einem klugen Lagermanagement und der Tatsache, dass sich die Leipziger Bücherlogistik seit dem 16. Jahrhundert in enger Symbiose mit dem Messeplatz Leipzig entwickelte. Es ist einer der vielen Punkte, an denen deutlich wird, wie sehr die diversen Arbeiten zur Leipziger Wirtschaftsgeschichte bislang nur Kleckerkram waren, wie sehr der bisherigen Geschichtsschreibung auch das Denken in komplexen Zusammenhängen fehlte.Was die Historiker nicht unterscheidet von den Wirtschaftswissenschaftlern, die auch im Zeitalter des Internets gern so tun, als ließen sich einzelne Wirtschaftssegmente handhaben, als wirtschaftete man im luftleeren Raum.

Die Leipziger Forscher werden das Manko zur Wirtschaftsgeschichte dieser Stadt bis zum Erscheinen der geplanten vierbändigen Ausgabe zur Stadtgeschichte nicht aufarbeiten können.

Schon dieser Auswahlband zeigt, wie groß die Löcher im Forschungsnetz sind, wie sporadisch die gesetzten Themen. Der Kampf um das Stapelrecht und die Etablierung eines dominierenden Messeplatzes ist ja nur ein Kapitel in diese Geschichte. Ganz kurz taucht am Rand das Thema Wechsler und Geldverleiher auf. Mit der Etablierung der großen Warenmesse wurde Leipzig auch zwangsläufig zu einem Zentrum des Finanzwesens. Die reichen Leipziger Handelsherren wurden selbst zu Geldgebern für Fürsten und Könige. Und die sächsischen Fürsten nutzten die Leipziger Messen, um ihre Schulden zu begleichen – was zu den Messen dann jedes Mal auch gewaltige Barmengen an Geld in die Stadt spülte.

Und wenn es ums Geld geht, dann werden Menschen unberechenbar. Auch das wird nur kurz angedeutet: Dass es auch in Leipzig wirtschaftliche Gründe waren, warum im frühen 15. Jahrhundert die Juden aus der Stadt verschwanden und mit ihrem reichsten Vertreter, dem Juden Abraham, geradezu schäbig umgegangen wurde. Es wird zwar gern geschrieben, es hätte keine Judenvertreibung aus Leipzig gegeben. Aber warum verschwanden die Juden im 15. Jahrhundert aus Leipzig und warum wurde selbst die Judenschule verkauft?

Das deutet eher auf einen großen weißen Fleck in der Forschung hin.

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Leipzigs Wirtschaft in Vergangenheit
und Gegenwart

Susanne Schötz, Leipziger Universitätsverlag 2012, 62,00 Euro

Aber das betrifft auch die Industrialisierung der Stadt im 19. Jahrhundert oder die Wirtschaft im NS-Reich – wozu es zwei beeindruckende Artikel zur Zwangsarbeit bei der HASAG und zur Rolle des Versteigerunghauses Klemm gibt, wo die Besitztümer der enteigneten, vertriebenen und ermordeten jüdischen Leipziger versteigert wurden. Ein Beitrag übrigens, der sehr plastisch zeigt, wie sich das NS-Regime, seine Funktionäre und etliche “Volksgenossen” an diesen Hinterlassenschaften bereicherten. Und da ist das große Kapitel “Arisierung” noch gar nicht aufgearbeitet.

In der Summe ein Sammelband, der sehr frappierend zeigt, wie wenig wir über die Wirtschaftsgeschichte einer Großstadt wie Leipzig wissen. Das ist Stoff, der die Forscher noch weit über das Jahr 2015 hinaus beschäftigen wird.

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