Fast erwartete man, dass der Hallenser Psychologe Hans-Joachim Maaz hereinkommt und das Plädoyer hält auf die vier Herren im Podium, von denen einer - krankheitsbedingt - fehlte. Elmar Brähler, der sich Ende März in den Ruhestand verabschiedete, musste sich zu seiner letzten Pressekonferenz zur großen "Mitte"-Studie entschuldigen lassen. Und Hans-Joachim Maaz kam nicht. Leider.

Seine Forschungen haben vor nun fast 23 Jahren begonnen, auch die breitere Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, dass gesellschaftliche Verwerfungen nicht nur ökonomische oder gar politische Wurzeln haben, sondern auch ein fast unsichtbares Element: die psychische Bedürftigkeit der Massen. Da kann das Häuflein der Reformer tun, was es will – die wirklichen gesellschaftlichen Entwicklungen werden nicht von vernunftbegabten Strategen dirigiert, sondern von Ängsten, Hoffnungen, Nöten, Komplexen. 1990 erschien das Furore machende Buch von Maaz “Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR”, in dem er seinen ostdeutschen Landsleuten den Spiegel vorhielt. Er schöpfte dabei aus seiner langjährigen Arbeit als Psychiater in Halle. Er hatte den Leidenden des Ostens zuhören können. Er wusste, was sie quälte, deprimierte, verängstigte und umtrieb.

Und noch während die üblichen Sittenwächter West das Buch und seinen Inhalt benutzten, um mit Häme über die nun neu vereinigten Brüder und Schwestern im Osten herzuziehen, arbeitete Maaz schon am nächsten Buch, das zeigte, dass die so stolzen Westpäckchen-Schicker genauso Getriebene ihrer Gefühle und Verletzungen sind. Was nicht wahrgenommen und rational verarbeitet wird, wirkt unterbewusst weiter. Das hatte einst Freud herausgearbeitet. Doch was das für die modernen Gesellschaften, die sich gern als so aufgeklärt, gebildet und rational verstehen, bedeutet, das wurde auch vielen Soziologen und Psychologen erst in den letzten Jahrzehnten so recht bewusst. Adorno und seine Kollegen gehören zu diesem Erkenntnisprozess.

Seit 2002 machen die “Mitte”-Studien der Forschungsgruppe um Elmar Brähler deutschlandweit von sich Reden. Sie beruhen auf Befragungen von jeweils über 2.000 repräsentativ ausgewählten Personen in Ost- und Westdeutschland. Zum Einsatz kommen immer wieder dieselben Fragebögen, die die “Dimensionen” rechtsextremen Denkens erfassen, die eben nicht nur die Verherrlichung des NS-Regimes oder die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur umfassen. Das würde nicht einmal ansatzweise erklären, warum Deutschland 1933 sehenden Auges und mit jubelnden Massen auf den Straßen in den Faschismus raste. Einige dieser “Dimensionen” reichten damals und reichen heute weit in die Gesellschaft hinein. In die sogenannte “Mitte”, auf die Politiker immer so gern verweisen, weil sie ganz bestimmt nicht mit den immer beschworenen “Extremismen” zu tun haben wollen.

Was sie übersehen ist: Die Mitte ist nicht weniger extrem als die Ränder der Gesellschaft. Und wenn sie erst einmal, von Verunsicherung und Ängsten getrieben, in Bewegung kommt, dann kommen die Gewichte der Gesellschaft ins Rutschen. Über 17.000 Datensätze haben die Leipziger Forscher seit 2002 gesammelt. Sie konnten nachweisen, dass einige Ressentiments tief in der Gesellschaft verankert sind. Sie leben und gedeihen an den Stammtischen. Das reicht vom latenten Chauvinismus und der postulierten Forderung nach einer stärkeren Rolle der Nation über die latente Ausländerfeindlichkeit bis zu Aspekten des Antisemitismus und des Sozialdarwinismus.

Einige Aspekte sind innerhalb der Jahrgangsgruppen unterschiedlich verteilt. Und die Zusammenfassung der Ergebnisse ermöglichte den Forschern nun auch, die Rolle gesellschaftlicher Umbrüche bei der Entstehung solcher Weltbilder neu zu verstehen. Mit der überraschenden Erkenntnis, dass nicht die prekäre Wirtschaftssituation selbst diese soziopathologischen Einstellungen hervorbringt, sondern ein Bruch in der Sozialisierung. Es sind die in autoritären Erziehungsmustern Herangewachsenen, die mit der Demontage der autoritativen Gewalten nicht zurechtkommen, weil sie um die Früchte ihrer Sozialisation gebracht werden – sie können nicht mehr in die Stiefel der strengen autoritären Erzieher treten. Was zu Frustration und Verunsicherung führt. Freiere Gesellschaften brauchen keinen neuen Untertanen und grimmige Überväter.
Was erstaunlicherweise neben Abwehr, Verachtung und Hass auch Ängste schürt. Die Verunsicherten flüchten sich in einen neuen autoritären Schutz – eine als homogen gedachte Gruppe, die sich abgrenzt und als überlegen definiert. Da ist man schon mittendrin in den Strickmustern der Mitte. Auf diesem Nährboden gedeihen auch Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Homophobie in allen Formen. Was nicht immer zu einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild wird. Aber die Studie zeigt auch, wie ökonomische Krisen bestimmte Haltungen aus diesem Denkkosmos verstärken.

Aber das eigentlich Frappierende an der Studie ist eigentlich, dass damit eben nicht nur der Rechtsextremismus und seine Grundlagen beleuchtet und beziffert werden. Denn indem Elmar Brähler, Oliver Decker und ihre Kollegen hier ein paar Ur-Ängste der modernen Gesellschaft beleuchten, zeichnen sie auch ein Psychogramm dieser Moderne. Auf einmal erscheint der deutsche NS-Faschismus nicht mehr als “Sündenfall aus heiterem Himmel”, sondern als Ergebnis einer tiefen psychischem Erschütterung, die in der Weimarer Republik nicht gelöst, sondern immer weiter verschärft wurde.

Und auch die erstaunlich friedliche Entwicklung nach 1945 erscheint in einem anderen Licht, obwohl ja die meisten der glühenden Nazis und ihrer Mitläufer ja noch da waren und die neue Gesellschaft bildeten. Es war nicht nur ihre Re-Sozialisation in den neuen demokratischen Strukturen, die die Konflikte abschwächte. Brähler und seine Kollegen haben dafür den Begriff “narzisstische Plombe” geprägt. Es war nicht die westdeutsche Demokratie, die von den Bundesbürgern frenetisch bejubelt wurde, sondern sie fanden ihre Akzeptanz in einem ökonomischen Aufschwung, an dem auf einmal alle partizipierten. Sie nannten es “das Wirtschaftswunder”.

Doch was da wie ein “Wunder” auch der Rückkehr unter die großen Industrienationen gefeiert wurde, war zuallererst eine Ersatzbefriedigung. “Die Demokratie scheint ihre Integrationskraft weniger aus der demokratischen Teilnahme an ihr als aus der ökonomischen Teilhabe zu ziehen”, schreiben Johannes Kiess, Oliver Decker und Elmar Brähler dazu. Und eigentlich genügt nur ein Schritt, um zu sehen, dass es nach 1990 im Osten Deutschlands genauso war: Mit Begeisterung stürzten die Ostdeutschen in die deutsche Einheit in der deutlich geäußerten Heilserwartung, jetzt würden auch sie der ökonomischen Teilhabe, der konsumierenden Beglückung teilhaftig. Der Unterschied war: Sie bekamen die erwartete narzisstische Plombe nicht, die Heilserwartung wurde enttäuscht.

Das Wort Heilserwartung fällt hier nicht ohne Grund. Denn mittlerweile können die Leipziger Forscher auch nachweisen, dass die moderne Industriegesellschaft so rational und säkular nicht ist, wie viele glauben. Kirchenaustritte sind noch kein Beleg für das Verschwinden von Religion. Die selbst ja bekanntlich auch ein Heil(s)mittel war und ist. Ohne die Schaffung der modernen monotheistischen Religionen ist die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaftsformation nicht denkbar. Und wer’s nicht vermutet hätte, darf jetzt wieder nachlesen – bei Friedrich Engels und Karl Marx, die eben nicht in erster Linie Propheten waren, sondern gnadenlose Analytiker ihrer Gesellschaft. Sie waren es, die mit aller Schärfe die Gewalt der Entstehung der modernen Industriegesellschaft beschrieben haben. Und es ist Marx, der die Religion als “Opium des Volkes” beschreibt – wohl wissend um ihren lindernden, tröstenden Charakter. Denn die Kirche öffnete da ihre Türen und weckte Hoffnung auf ein besseres Später, wo die Gegenwart kläglich und eigentlich nicht auszuhalten war. Wenn man sich auf Erden schon abschindete, dann erwarb man sich dadurch wenigstens das versprochene Himmelsreich.

Doch was passiert, wenn dieses Heilsversprechen nicht mehr funktioniert, wenn eine auf Profitmaximierung angelegte Gesellschaft auch Gott und Kirche wegrationalisiert? Wodurch wird sie attraktiv? Und attraktiv liest sich ja das alles nicht, was die klugen Autoren über die frühkapitalistische Gesellschaft schreiben, eher fürchterlich, grausam, zum Weglaufen wie bei Charles Dickens. Der Trost kommt durch einen Betrug zustande, zitieren die Autoren wieder Dr. Marx: Die neue Gesellschaft verspricht die Erfüllung schon auf Erden – durch die Teilhabe am Konsum. Die Waren und Produkte werden aufgeladen mit dem Versprechen eines vollkommenen Lebens schon auf Erden. So funktioniert Werbung bis heute. Die ganze schöne Warenwelt wird dargeboten als Himmelsreich – der Konsum wird zur neuen Religion, die Möglichkeit, sich alles kaufen und leisten zu können wird zur Erfüllung des versprochenen Heils. Die Ware wird zum Fetisch.

Das hat Dr. Marx zu seiner Zeit einfach so nebenbei mit hingeschrieben, als er versuchte herauszukriegen, was diese neue so fürchterliche Gesellschaft so attraktiv machte. Das gilt bis heute. Bis dahin, dass immer mehr Bereiche der Gesellschaft derart in Ware verwandelt werden – und immer wieder ist das verknüpft mit dem Versprechen neuen Heils.

Das im Heute freilich in eine Krise kommt. Denn wer so im immer mehr gesteigerten Konsum, in immer wilderen Heilsversprechen die Ressourcen der Welt plündert, kommt an deren Grenzen. Hinter dem so lange gefeierten “Wachstum” gähnt die völlige Erschöpfung. Deswegen hat sich ja auch der Bundestag zu einer Enquete-Kommission aufgerafft, die neue Wege zu einer Gesellschaft sucht, die auch ohne dieses exzessive Wachstum auskommt.

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Rechtsextremismus der Mitte
Oliver Decker; Elmar Brähler; Johannes Kiess, Psychosozial-Verlag 2013, 19,90 Euro

Ausgang offen. Lösung: sehr schwer. Denn jede Krise zeigt ja, was passiert, wenn die “narzisstische Plombe” nicht mehr hält, wenn sich die sogenannte “Mitte” ihres Wohlstands und ihrer Teilhabe am Konsum nicht mehr so sicher ist. Dann wachsen die Ängste und Vorurteile. Mitten aus der Gesellschaft heraus. Dann fangen auf einmal auch Leute, denen man Vernunft zugetraut hatte, von einem “starken Mann” an zu schwafeln, einem “eisernen Besen”, dann bekommen Populisten, die mit neuen Heilsversprechen durchs Land ziehen, unverhofften Zulauf, dann verwandelt sich eine scheinbar noch rationale Gesellschaft in etwas ganz Seltsames.

Man kann sich nur wünschen, dass alle, die derzeit zu den politischen Entscheidern im Land zählen, dieses Buch lesen und sich ernsthafte Gedanken darüber machen. Die Sehnsucht der Menschen nach einem wie auch immer gearteten Himmelreich, nach Trost und Sicherheit, ist nicht kleiner geworden, sie hat sich nur verlagert – in den Bereich der Konsumwelt.

Und auch wenn wir über das Thema Medienkonsum schon geschrieben haben – im Buch steht dazu noch eine Menge mehr. Deswegen gibt es dazu gleich noch einen eigenen Artikel.

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