Es gibt mindestens acht Wagner-Verbände in Mitteldeutschland und mindestens 20 Orte, in denen sich Spuren Richard Wagners oder zumindest Erinnerungen und aktenkundige Nachweise finden lassen. Die ersten 36 Jahre seines Lebens und damit ungefähr die Hälfte brachte der komponierende Sachse in Mitteldeutschland zu. Von seiner Geburt in Leipzig 1813 bis zu seiner Flucht aus Dresden 1849. Erstaunlich dabei: Diese simple Tatsache galt es 2013 erst wiederzuentdecken.

Denn in der nationalen und internationalen Rezeption dominierte bislang immer der späte, der “fertige” Wagner, der Wagner des Rings und der Bayreuther Festspiele. Dass er eine ganze Herkunftsfamilie hatte und eine ganze Musikerkarriere, die er in Leipzig begann und in Dresden aufs Spiel setzte, kam bislang eher nur in den Biografien vor, fast beiläufig auch dort. Unterbewertet sowieso. Wie man so oft die jüngeren Jahre der Berühmten unterbewertet. Der Ruhm kam ja erst später. Auch wenn Richard Wagner 1849 schon ein bisschen berühmt war. Als Kapellmeister in Dresden war er durchaus kein unbeschriebenes Blatt. Und einige seiner Bühnenwerke hatte er schon vorher mit Erfolg aufgeführt. Nicht jedes. Er wollte ja mit dem Kopf durch die Wand, wollte das Musiktheater revolutionieren. Das kam nicht immer gut an. Nicht nur beim Leipziger Publikum.

Die erste Hälfte seines Lebens ist logischerweise eine Zeit der Suche. Für diesen opulenten Band haben sich gleich zwei Dutzend Autorinnen und Autoren zusammengetan und sind den Spuren Wagners in Mitteldeutschland gefolgt. Das Leipziger Kapitel wird logischerweise relativ kurz. Das Wichtigste dazu haben schon Ursula Oehme und Harald Otto in ihren Büchern zum jungen Wagner zusammengetragen. Die Einschränkung “vielleicht”, fügen wir an dieser Stelle ein. Denn diese scharfe Bühnenbeleuchtung für Richards frühe Jahre zeigt auch, dass hier ein ganzes Forschungsfeld Jahrzehnte lang unbeackert geblieben ist. Man hat immer den “fertigen” Wagner gefeiert. Oder verabscheut.Wagner selbst ging in seiner Autobiografie durchaus auch auf die Freunde seiner Jugend – wie den so wichtigen Guido Theodor Apel – und seine Lebensstationen ein. Ohne Bad Lauchstädt, wo er seine erste Kapellmeisterstelle antrat, hätte er Minna Planer nie kennen gelernt – seine erste Ehefrau, die ihm bis zu ihrem Tod 1866 treu blieb und in den prekärsten Jahren seines Lebens begleitete. So eine Frau muss einer erst mal finden. Neben Bad Lauchstädt gehören Weißenfels, Bernburg und Magdeburg zu diesen frühen Wirkungsstätten. Nicht immer sind die Originalorte noch zu finden. Oft haben die Bombenteppiche des 2. Weltkrieges – wie in Magdeburg – tabula rasa gemacht. Aber die Wagner-Verbände vor Ort sammeln ja fleißig, was immer sich finden lässt, versuchen alte Akten und Zeitungsnotizen abzugleichen.

Wie in Eisleben, wo Richard nach dem frühen Tod seines Stiefvaters Ludwig Geyer ein Jahr lang bei dessen Bruder Karl unterkam. Aber in welchem Haus? Wo wohnte der Goldschmied? Und welche Schule besuchte der Junge? Auch das so ein kleiner Blick ins Dunkel: Tatsächlich ist der junge Richard ja von einer Schule zur anderen gesprungen, hat sich nirgendwo richtig eingewöhnen können. Sein Nicht-Anpassen-Wollen in Leipzig ist nur wieder das Ergebnis einer geflickten Schulkarriere.

Es gibt Orte in Mitteldeutschland, die sind mit schönen Wagner-Erinnerungen eng verknüpft – das Gut Ermlitz mit Wagners Besuchen bei seinem Freund Apel, Graupa mit seinen Erholungsaufenthalten als Dresdner Kapellmeister, Bad Kösen mit seinem Besuch bei seinem Freund Heinrich Laube, der – als führender Vertreter des “Jungen Deutschland” – aus Leipzig und Sachsen ausgewiesen worden war. Wagner besuchte ihn 1835 in Kösen.

Einige Orte sind direkt mit Wagners Flucht 1849 verknüpft – Chemnitz etwa, wo er kurz bei seiner Schwester Clara und seinem Schwager Heinrich Wolfram unterschlüpfte, Altenburg und Magdala in Thüringen, die nächsten Stationen seiner Flucht. Zum Unterschlupf in Magdala verhalf ihm seinerzeit schon Friedrich Liszt, der ihm auch bei der Flucht in die Schweiz helfen sollte und dessen Tochter Cosima Richard Wagner später heiraten würde. Bei dieser Tour durch Mitteldeutschland lernt der Leser auch einige der faszinierenden kleinen Stadttheater kennen, die zu Wagners Zeit allesamt noch Hoftheater waren – Zeichen für die Theaterbegeisterung all der kleinen Bindestrich-Fürsten, die nach 1815 unbehelligt weiterregieren durften. Berühmt sind die teilweise aufwändig restaurierten Theaterchen in Bad Lauchstädt, Bernburg, Meiningen und Weimar.

Manche haben im Lauf der Zeit eigene Wagner-Inszenierungs-Traditionen entwickelt.Die Artikel sind nicht chronologisch nach Wagners Lebensstationen geordnet – das würde etwa im Fall Dresden und Leipzig immer tüchtig hin und her gehen. Auch sind einige Stationen eher drin, weil sie indirekt mit dem furiosen Kapellmeister zu tun haben. So wie Oederan, der Geburtsort von Minna Planer. Oder Müglenz, das als Herkunftsort der Familie Wagner wichtig ist. Oder Weißenfels, der Geburtsort von Wagners Mutter Johanne Rosine Pätz. Die Herausgeber haben die 20 Orte nach den drei Bundesländern geordnet, in denen sie heute liegen. Mit großen Fotos unterlegte Vorschaltseiten versuchen zu erfassen, welche Rolle das jeweilige Bundesland, seine Landschaft und Kultur für Wagner und sein Werk gespielt haben könnten. Mittlerweile sind sich ja einige Forscher sicher, dass die Rheinlandschaft des “Rings” wohl eher die Elblandschaft der Sächsischen Schweiz ist, genauso wie die Sächsische Schweiz wohl das Vorbild für Karl Mays Wilden Westen wurde.

Die Beiträge wurden jeweils von Autoren vor Ort verfasst, die teilweise natürlich nur noch aus Akten und Kirchenbüchern zitieren können. Etliches, was selbst den Krieg überlebt hatte, ging in den Abrisszeiten der DDR zu Grunde – so wie das Geburtshaus von Johanne Rosine Wagner in Weißenfels noch 1982. Wagners eigenes Geburtshaus haben ja die Leipziger schon 1886 abgerissen.

Der reich bebilderte Band ist im Grunde eine Reise-Einladung für Wagner-Freunde, die zumindest einen Eindruck bekommen wollen von der Landschaft, den Lebens- und Wirkungsstätten des jungen Wagner. Da und dort geben die erzählten Geschichten auch einen kleinen Einblick in die Bürgerwelt, in der Wagner lebte, der erst im höheren Alter so etwas wie Wohlstand kennen lernte. Den Reichtum der Familie Apel in Ermlitz betrachtete er nur mit gewaltigem Staunen. Auch das gehört zu dieser zwiespältigen Gestalt eines Mannes, der die Musik revolutionieren wollte, es aber immer auch mit Leute zu tun bekam, die schon in arrivierter Stellung waren. Manchmal von Geburt – wie Guido Theodor Apel – manchmal durch eigene Taten und Erfolge – wie Felix Mendelssohn oder Wagners Schwager Heinrich Brockhaus.

Der rebellische Geist wurde nicht einfach in den Leipziger Unruhen von 1830 geboren. Der hängt auch mit den erlebten eigenen prekären Lebensumständen zusammen. Und schon die Flucht 1849, bei der ihm auch ein paar hochgestellte Persönlichkeiten halfen, zeigte, dass Wagner nie wirklich das politisch “gefährliche Individuum” war, als das ihn der Steckbrief vom 16. Mai 1849 zeigt. Mancher wird zum “Aufrührer” und ist doch nur ein romantischer Schwarmgeist.

Es überrascht nicht, dass Vieles in diesem Buch auch sehr romantisch wirkt – von Wagners erster Begegnung mit Minna bis hin zur Flucht als “Prof. Werther aus Berlin”. Damit ist Wagner im Grunde typisch für sein Jahrhundert, das auch den Aufruhr lieber ins Reich der Märchen und Mythen verbannte. Die Nibelungen waren ja auch deshalb so beliebt, weil alles so schön lang, lang her war. Damit traf Wagner das Gemüt seiner braven Zeitgenossen. Die sächsischen Landschaften mit ihren Nebeln über der Elbe im Hintergrund – ist das nicht schön?

Wunderschön.

Ursula Oehme, Thomas Krakow “Richard Wagner in Mitteldeutschland”, Passage-Verlag, Leipzig 2013, 29 Euro

www.passageverlag.de

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