Sie hätten sich begegnen können. Doch sie haben sich zeitlebens verfehlt: die beiden größten Komponisten aus Mitteldeutschland. Beide 1685 geboren, fast gleich alt, Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel. Das Denkmal des einen steht in Leipzig, das des andere in Halle, auch wenn Händel seine große Karriere in England hinlegte und – wie Hagen Kunze es ausdrückt – „vielleicht der erst Popstar der Musikgeschichte“ wurde.

Beide Komponisten stehen für die gewaltigen Veränderungen, die die europäische Musik zu Beginn des 18. Jahrhunderts durchmachte. Doch während Bach in Leipzig mit seiner Musik auf einiges Unverständnis stieß und im 19. Jahrhundert erst wieder richtig „wiederentdeckt“ werden musste, traf Händel in England auf eine völlig andere Welt.

Denn so falsch ist Kunzes Bezeichnung mit „Popstar“ nicht. Denn Popstars gibt es erst in einer Gesellschaft, in der sich Musiker vermarkten können und Musik zum Geschäft werden kann. Das war praktisch nur im damaligen England schon möglich, in Ansätzen vielleicht in Hamburg, wo Händel als junger Mann am Opernhaus seine ersten Erfolge feierte.

Konkurrenz und Geschäft

Und vielleicht war es sogar von Vorteil, dass er nicht – wie Bach – in eine traditionelle Musikerfamilie hineingeboren wurde, sondern sein musikalisches Talent sogar gegen den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters, des Wundarztes Georg Händel, durchsetzen musste, der für seinen Sohn lieber eine Juristenlaufbahn gesehen hätte. Doch sein musikalisches Talent fiel schon in der Schule auf. Und seine Begeisterung für die italienische Oper sorgte letztlich dafür, dass der junge Mann alles auf eine Karte setzte und seinen Erfolg als Komponist und Musiker suchte.

Und das – wie Hagen Kunze erzählt – auf beeindruckende Weise schon in Hamburg, wo er mit seiner Art, Opern quasi aus dem Handgelenk zu Papier zu bringen, sogar gestandene Komponisten wie den Impresario Reinhard Keiser und Johann Mattheson beeindruckte und erschreckte.

Er war ihnen quasi über Nacht zum Konkurrenten geworden. Doch statt sich in Hamburg auf einen unfruchtbaren Dauerstreit einzulassen, ging der junge Händel lieber nach Italien – und schaffte es dort ganz offensichtlich, auch das dortige Publikum zu beeindrucken und sich einen Namen zu machen. Wobei Kunze berechtigterweise anmerkt, dass einige der besten Anekdoten aus Händels Leben so vielleicht nicht stattgefunden haben, wie sie sein erster Biograf John Mainwaring in „Memoirs of the Life of the late George Frederic Handel“ erzählt.

Dass schon ein Jahr nach Händels Tod und seiner feierlichen Beisetzung in der Westminster Abbey eine solche Biografie erschien, ist – so Kunze – höchst bemerkenswert. Denn für ihren Ruhm mussten die Musiker damals in der Regel noch selber sorgen.

Aber auch das gehört ganz offensichtlich zu dem Neuen, das auf dem englischen Musikmarkt damals sichtbar wurde. Nicht mehr nur Könige und Feldherren rückten für die kaufkräftige Öffentlichkeit ins Rampenlicht, sondern auch Männer, die mit ihrem Talent schafften, die Menschen zu begeistern. Und was Händel an Opern und später an Oratorien schuf, war sogar genau darauf berechnet, das Publikum in seinen Bann zu ziehen, gut zu unterhalten und die Häuser zu füllen.

Das neue Zeitalter des geschäftstüchtigen Bürgertums brauchte auch Unterhaltung. Und zwar immer neue. Die Zeit der großen Opern in London ging ziemlich schnell vorbei. Doch mit seinen Oratorien gelang es Händel noch einmal, das (zahlende) Publikum so zu verzaubern, wie es heutige Musical-Komponisten und Pop-Gruppen mit ihren Bühnenwerken schaffen.

Kein Pop ohne zahlendes Publikum

Kunze stellt dann auch die Frage, welchem Land dieser Händel denn nun gehört. Aber das ist wieder so eine Frage fürs Feuilleton. So wie Bachs Musik ist auch Händels Musik heute weltweit verbreitet und beliebt. Seine bekanntesten Stücke – von der „Wassermusik“ bis zum „Messiah“ sind echte Dauerläufer. Und dass er mit dem Hannoveraner Königshaus nach England ging, war letztlich eine logische Entwicklung.

Denn in Deutschland gab es damals keine Stadt, die einem Händel ein solches Betätigungsfeld bieten konnte. Und auch nicht die Marktbedingungen für seine Musik. Und noch etwas fehlte, was ja erst die „Wiederentdeckung“ Bachs notwendig machte: Die öffentliche Neugier auf die Persönlichkeiten hinter den großen Kompositionen. So wie auch die Maler bis ins frühe 16. Jahrhundert meist hinter ihrem Werk „verschwanden“, so interessierte an den Kompositionen großer Komponisten lange Zeit nicht mehr als der Name.

Dass auch der Mann, der das alles komponierte, interessieren könnte, das war erst eine „Entdeckung“ des 18. Jahrhunderts. Die viel zitierte Aufklärung war auch mit einem veränderten Blick auf die Schöpfer von großer Kunst verbunden. Denn sie änderte auch den Blick auf das selbst gestaltete, selbst verantwortete Leben.

Ein moderner Individualismus hat hier seine Ursprünge. Alles hängt mit allem zusammen – der Kunstmarkt mit der Popularität von Musik, die bürgerlichen Freiheiten mit der Wahrnehmung des bürgerlichen Schöpfertums. Und dafür steht exemplarisch dieser Georg Friedrich Händel, den Hagen Kunze nun mit einem Porträt für die Mini-Reihe des Buchverlags für die Frau gewürdigt hat.

Hagen Kunze „Georg Friedrich Händel“ Buchverlag für die Frau, Leipzig 2025, 6 Euro.

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