Postkarten sind ein Faszinosum: Sie bewahren die Zeit. Sie haben die Zeit bewahrt. Ihr klassisches Zeitalter: das frühe 20. Jahrhundert. Ihr Lieblingsobjekt: die moderne, aufblühende Welt. - Nun sind schon mehrere große Bildbände mit Postkarten aus Leipzigs "goldener Zeit" erschienen. Andreas Martin hat einen klein wenig anderen Blick auf die kleinen bunten Bilder: Ist eine Straßenbahn mit drauf? Und wenn ja: Welche Farbe hat sie?

Im Lehmstedt Verlag hat er schon einen Bildband mit einer Straßenbahn-Rundfahrt um den Leipziger Promenadenring veröffentlicht. Ein Band, der nicht nur die historische Entwicklung des Straßenbahnverkehrs rund im die alte Innenstadt zeigte, sondern auch die baulichen Veränderungen, die sich parallel dazu vollzogen. Denn die Zeit des revolutionären Aufstiegs der Straßenbahn zum Transportmittel der modernen Großstadt ging auch in Leipzig einher mit dem Umbau der Stadt zu einer modernen Metropole. Mit all den Blickmarken, die man heute noch sieht – vom Neuen Rathaus bis zum Hauptbahnhof. Und mit jenen Blickmarken, die der Zweite Weltkrieg ausradierte – vom Neuen Theater bis zur Dauernden Gewerbeausstellung.

Schon in diesem ersten Band wurden die teils heftigen Veränderungen im Leipziger Stadtbild in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar.

Der jetzt vorgelegte Band verändert den Fokus – weg vom Stadtbild hin zur Veränderung im Straßenbahnbetrieb. Das ist zuweilen eine Arbeit mit der Lupe. Und bei etlichen Postkarten braucht man sie auch, um die kleine Straßenbahn im Bild zu entdecken. Denn die Postkarten wurden ja nur in Ausnahmefällen gemacht, um den Ruhm der Leipziger Bimmel zu verbreiten. Solche Motive gibt es auch – aber zumeist eher aus der humorigen Ecke. Was auch die Freunde der Straßenbahn nicht wirklich befriedigt, denn die wollen meist sehr genau wissen: Welche Linie ist da im Bild zu sehen? Welcher Wagentyp ist im Einsatz? Auf welcher Strecke fährt die Bahn durch die Stadt? Zu welcher Gesellschaft gehört sie? – Denn bevor aus der Großen Leipziger Straßenbahn 1938 die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) wurden, fuhren ja bis zu drei konkurrierende Unternehmen im Leipziger Netz.

Das erste schon seit 1872 – als Leipziger Pferde-Eisenbahn (LPE). Die ihrerseits auch einen Vorläufer hatte: die 1860 gegründete Omnibus-Gesellschaft Heuer. Es gab also vor den ersten Pferde-Straßenbahnen auch schon Pferde-Omnibusse in Leipzig. Aber die brauchten natürlich weder Gleise noch Oberleitungen. Und elektrisch fahren konnten die Busse auch erst später, als die LVB kurzzeitig auch einmal mit Oberleitungs-Bussen experimentierten – eine Idee, die heute wieder modern wird.Aber nachdem Werner Siemens 1881 in eindrucksvollen Tests gezeigt hatte, wie sinnvoll ein elektrischer Fahrbetrieb auf Gleisen ist, setzte sich die elektrische Straßenbahn sehr bald in den deutschen Großstädten durch. 1895 sattelte die LPE auf elektrischen Fahrbetrieb um und benannte sich ein Jahr später in Große Leipziger Straßenbahn (GLSt) um, auch um sich gegen die 1895 neu gegründete Konkurrenz, die Leipziger Elektrische Straßenbahn (LESt) abzusetzen. Seitdem war Konkurrenz auf Leipzigs Gleisen, was dazu führte, dass binnen kürzester Zeit das dichteste Gleisnetz in der Leipziger Straßenbahngeschichte entstand – denn die LESt durfte nicht fahren, wo die GLSt schon ihre Gleise hatte. Die GLSt hatte den Promenadenring für sich, die LESt durfte dafür durch die Innenstadt.

1900 bekamen beide noch zusätzliche Konkurrenz: die Leipziger Außenbahn-Aktiengesellschaft (LAAG), die im Grunde damals schon das Prinzip der modernen Stadtbahn für sich entdeckte und mit ihren Linien die ganzen attraktiven Reiseziele außerhalb des alten Stadtgebietes ansteuerte. Manchmal so weit, dass die Straßenbahnfahrer auch noch einen Eisenbahnerschein nach preußischem Muster brauchten, weil z.B. die Tram nach Schkeuditz als Kleinbahn galt.

Und da ein Mann wie Martin, Verkehrshistoriker und Ansichtskartensammler zugleich, den Blick für die Straßenbahn im Stadtbild hat, nimmt er den Leser jetzt natürlich mit auf eine Reise in eine verblüffende Stadt. Denn wenn man erst mal sucht, findet man die Straßenbahn dann natürlich an Orten, an denen man sich die heutigen Straßenbahnriesen bei bestem Willen nicht mehr vorstellen kann. Selbst die zum Teil abenteuerlich sich windenden Gleise sieht man – im Thomasgässchen, auf dem Neumarkt, in der Reichsstraße. Die Gleise auf dem Brühl waren ja selbst in DDR-Zeiten noch zu sehen – und bis 1964 in Betrieb.

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Vor dem Hauptbahnhof wimmeln die sich überschneidenden Gleise geradezu, mitten auf dem Platz sind die Endhaltestellen der wichtigsten Außenbahnen zu sehen. Dafür fehlen – und das fällt in der 100-jährigen Distanz tatsächlich auf – die Blechlawinen der Automobile. Was selbst die opulenten Ampelanlagen der Gegenwart damals noch überflüssig machte. Und zumindest ganz bildhaft zeigt, dass eine Halbmillionenstadt nicht am Verkehr ersticken muss, wenn die wichtigste Verkehrsart der ÖPNV ist. Erst in den 1930er Jahren beginnt tatsächlich das Automobil, den Raum zu verschlingen – Parkplatz in Anspruch zu nehmen und sich an Überwegen zu stauen. Was neue verkehrstechnische Lösungen erzwang, die heute auch als tiefer Eingriff in alte Stadtstrukturen zu erleben sind.

Etwa an jener einst sogar beschaulichen Kreuzung am Schulplatz, Wagnerplatz, Ranstädter Steinweg, aus der in DDR-Zeiten nicht nur das Alte Theater eliminiert wurde, sondern eine gigantische Kreuzung mit Fußgängerbrücke wurde.

Die Bündelung der drei alten Straßenbahngesellschaften begann 1917, als GLSt und LESt fusionierten, 1919 wurde die Straßenbahn zu einem Kommunalunternehmen. Die Zeit, in der ein Straßenbahnbetrieb privatwirtschaftlich rentabel war, war zu Ende. Und damit auch die Zeit der wie fahrende Wohnzimmer aussehenden gemütlichen Holzkastenbahnen. Ab da wurden die Straßenbahnen größer und die Zahl der Gleistrassen begann zu schrumpfen, wurde gebündelt und rationalisiert, was dann auch zum Verlust der Schaffner auf den Wagen führte.

Es ist also auch eine Reise in eine ÖPNV-Zeit, die es so nicht wieder geben wird. Eine kleine Frage, die sich auftut und auch in den vielen informativen Texten zu Stadtbild und Straßenbahnlinien nicht beantwortet wird: Wer fuhr damals eigentlich mit der “Bimmel”? Und wann? Was kostete es und wer konnte es sich leisten? – Die Bilder, auf denen das fahrende Publikum zu sehen ist, zeigen im Grunde gut gekleidetes Bürgertum, Damen und Herren in Ausgehgarderobe.

Da ist natürlich eine Fahrt bis direkt vors Alte Rathaus oder das Neue Theater geradezu prestigeträchtig. Da braucht man dann wirklich nicht mit dem Auto vorzufahren.Bis in die 1920er Jahre war auf den wirklich breiten Leipziger Straßen auch noch genug Platz für Droschken und Pferdefuhrwerke aller Art. Und Fußgänger konnten die Straße ohne Probleme an fast jeder Stelle überqueren. Da und dort sieht man sogar Reiter wie 1904 auf dem Blücherplatz, den man heute als solchen gar nicht mehr erkennt, weil ihn die Verkehrstrassen westlich vom Hauptbahnhof völlig füllen. Er heißt auch anders. Aber das ist bei vielen Straßen und Plätzen nicht nur im Umfeld der Innenstadt so.

Martin geht mit seiner Spurensuche nach der alten Straßenbahn natürlich auch in die Außenbezirke. Viele Häuserlandschaften erkennt man wieder, weil sie heute in restaurierter Schönheit fast genauso aussehen. An anderen Orten fühlt man sich völlig fremd, weil hier der Bombenhagel des 2. Weltkrieges nichts übrig gelassen hat und die Städtebauer der DDR auf die alten Strukturen keine Rücksicht nahmen – die Windmühlenstraße ist dafür ein genauso typisches Beispiel wie der Westplatz, den man heute als städtischen Platz nicht einmal mehr erkennt. Was auch mit daran liegt, dass die Städtebauer der 1990er Jahre nicht wirklich rücksichtsvoller waren als die der 1970er.

Vieles, was heute nur als vielbefahrene Trasse erlebbar ist, strahlt zumindest auf den alten Postkarten eine beeindruckende Idylle aus – ob das ein Gasthaus an der Dresdner Straße ist oder selbst das Ensemble des Buchhändlerhauses an der Hospitalstraße, der heutigen Prager Straße. Und da Andreas Martin den alten Postkarten vom Beginn des 20. Jahrhunderts auch etliche aus der DDR-Zeit gegenüber stellte, kann der Leser bildhaft nachvollziehen, wie radikal viele Straßenräume Mitte des 20. Jahrhunderts umgebaut und vor allem aufgeweitet wurden. Oder einfach zweitgenutzt wurden, weil das Geld für einen Wiederaufbau einiger Stadtquartiere nicht reichte – man denke nur an den Königsplatz und das Markthallenviertel, die zu einer Riesenparkplatzfläche wurden.

Und immer wieder beim Umblättern natürlich das Irritiertsein, weil die alte Ansicht mit heutigen Sehgewohnheiten nicht deckungsgleich ist: Eine Straßenbahn in der Harkortstraße? – Eine in der Mozartstraße auf dem Weg mitten durchs Musikviertel? – Unvorstellbar heute. Die Gleise in der August-Bebel-Straße wurden gerade erst entfernt. Aber rund 100 Jahre lang fuhr hier die Straßenbahn von Gohlis nach Connewitz, die durch die Buslinie 89 nicht wirklich ersetzt wurde.

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Die Leipziger Straßenbahn
Andreas Martin, Lehmstedt Verlag 2013, 19,90 Euro

Aber auch das wird sichtbar: Wie sehr die ursprüngliche Struktur des Leipziger Straßenbahnnetzes auf diese leichte Erreichbarkeit der dichten Innenstadt ausgerichtet war und dass in diesem kompakten Raum das System “Stadtbahn” auch heute keinen Sinn macht. Weswegen die LVB ja seit kurzer Zeit wieder dabei sind, das Haltestellennetz im Innenstadtbereich zu verdichten. Es ist ein anderes Verständnis von Stadtverkehr, das hier in manchen alten Ansichten spürbar wird: Warum fährt keine Straßenbahn mehr durchs Musikviertel und durch die Marschnerstraße weiter zum Sportforum? 1910 fuhr sie durch die Sebastian-Bach-Straße weiter Richtung Plagwitz.

Es ist ein großes Bilderbuch – nicht nur für Straßenbahnfreunde, sondern auch für Leipzig-Weiter-Denker. Und für Freunde der Leipziger Stadtentwicklung sowieso.

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