Was macht man eigentlich mit all den wissenschaftlichen Arbeiten, die man da rund um sein Studium geschrieben hat? Sie sind doch in der Regel nicht ganz uninteressant, beschäftigen sich mit durchaus exotischen Themen, wenn man - wie Ellen Müller-Pons - so etwas studiert hat wie Romanistik mit dem Schwerpunkt in Lateinamerikastudien, Cultural Studies, Linguistik und Translatorik. Als professionelle Übersetzerin braucht man das schon.

Sonst werden ja die Übersetzungen Pfusch. Was zwar manche Leser nicht merken, weil sie auch schon vom täglichen Medienrummel her das Gefühl haben, dass die Welt sowieso ein einziger Brei ist, wo alles allem gleicht und man sowieso nicht hinfahren muss, weil man das ja sowieso schon kennt.

Man nimmt die Verschiedenheit der Kulturen, Sprachen und Gesellschaften nicht mehr wirklich wahr, weil es auch die von ihrer Qualität so überzeugten Großmedien nicht mehr tun. Man betrachtet die Welt als ein Dorado der Hotel-Ressorts und Sandstrände mit willigen exotischen Schönheiten an der Bar. Und wenn dann mal Unruhen, Bürgerkriege, Anschläge in 30-Sekunden-Schnipseln gezeigt werden, dann ist das eben das übliche Toben der ewiggestrigen Machthaber, die sich gegen die Segnungen der westlichen Kultur sträuben. Die Welt kann ja so einfach sein. Wenn man sie mit den Augen der westlichen Arroganz betrachtet.

Wer sich freilich etwas intensiver dem Studium der Kulturen und Sprachen widmet, der merkt bald, dass man es tatsächlich nicht mit dem Immergleichen zu tun hat, dass selbst in Kulturen, die einem so aus der Ferne ganz vertraut vorkommen, die historischen, kulturellen und sprachlichen Wurzeln zuweilen verblüffend fremd sind. Mal ganz abgesehen davon, dass das eigentlich schon gleich vor der eigenen Haustür beginnt. In Spanien zum Beispiel, das – neben Süd- und Mittelamerika – zu den Erkundungsfeldern von Müller-Pons gehört.
In diesem Band hat sie fünf ihrer Aufsätze versammelt, mit denen sie eigentlich auch nur punktuell in diese reiche Welt der spanischsprachigen Literaturen hineinleuchtet. Das beginnt mit der gemeinsamen Herkunft der Literaturen, denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts orientierten sich auch die Autoren im spanischsprechenden Amerika vor allem an der spanischen Mutterliteratur, die für sich selbst längst erstarrt war und auch nicht mehr an den literarischen Strömungen der europäischen Moderne teil hatte. Was schon reihenweise Übersetzer verblüffte, die sich mit dem Wirken des nikaraguanischen Dichters Ruben Dario und seiner Zeitgenossen beschäftigten.

Die Erneuerung der spanischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging von Lateinamerika aus und war ein Prozess heftigster Abwehr und heftigster Liebe und Faszination.

Und es war nicht die einzige geistige Auseinandersetzung Europas mit der Kultur (Süd-)Amerikas. Die erste war ja die spanische Konquista und die wilde, von der katholischen Kirche betriebene Vernichtung fast aller literarischen Aufzeichnungen der Maya und der Inka. Auch dazu hat Müller-Pons einen Aufsatz geschrieben, der insbesondere die Quellenlage zur Maya-Schriftkultur beschreibt und die finstere Rolle, die die spanischen Missionare dabei spielten. Dass ein solcher Vernichter ganzer Bibliotheken dann – wie Diego de Landa – doch noch dazu beitrug, wenigstens das Alphabet der Maya zu überliefern, gehört zu den dunklen Scherzen dieser Geschichte.

Die Quasi-Nichtexistenz der alten Schriftliteratur der Ureinwohner Mittel- und Südamerikas öffnete dann ja bekanntlich die Tür zur völligen Verklärung der “edlen Wilden” – oder zu ihrer gnadenlosen Verachtung aus der Perspektive des scheinbar siegreichen europäischen Eroberers. Was dann bis zu jener oben geschilderten Arroganz der Spanier gegenüber den “uneigenständigen” Literaturen Lateinamerikas führte.

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Aber mit Johann Gottfried Herder gab es schon vor 200 Jahren einen deutschen Aufklärer, der all die farbenprächtigen Schilderungen von Reisenden, Entdeckern und Eroberern größtenteils für Lügengespinste hielt oder eben für bunte, exotische Folien für eine Welt-Eroberung, in der die Besiegten von vornherein als unterentwickelt, kulturlos und wild interpretiert wurden. Herder durchforstete all diese Werke hin auf die Stellen, die zumindest einen nüchternen, weil nicht von Vorurteilen geprägten Blick verrieten – und setzte in mehreren Schriften sein eigenes Verständnis von einer Welt der Kulturen dagegen. Ganz konnte er den Stereotypen nicht entkommen, stellt Müller-Pons in ihrem Aufsatz dazu fest. Herder bereiste selbst ja nie die südlichen Gefilde. Aber seine kluge Analyse der bekannten Reisedarstellungen öffnete den Blick für das wirkliche Südamerika und bereitete den Weg für die Forschungen Alexander von Humboldts.

Auch der Umgang des heutigen Peru mit den alten indigenen Sprachen (und ihrer Vielfalt) ist Thema für einen Aufsatz. Genauso wie eine Sprachwurzel, die man eigentlich im spanischen Raum kaum noch vermutet: das Germanische. In diesem speziellen Fall das Gotische, das durch die Wanderung der Westgoten im 5. Jahrhundert auf die iberische Halbinsel kam. In alten Urkunden, Städte- und Familiennamen haben noch ein paar wenige gotische Sprachreste überdauert, so verwandelt, dass man schon eine linguistische Vorbildung braucht, um sie zu finden. Ellen Müller-Pons widmet sich vor allem den alten Ortsnamen, die noch von der einstigen Herrschaft der Westgoten und dem Zentrum ihres Herrschaftsgebietes erzählen.

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Von Macchu Piccu nach Iberien
Ellen Müller-Pons, Leipziger Literaturverlag 2013, 24,95 Euro

Aber auch das kann nur ein kleines Blitzlicht sein. Zur Erfassung des “reichen onomastischen Erbes” der Westgoten in Spanien braucht es ganz andere Forschungen. Es liegt – wie man sieht – auch in der Erforschung der europäischen Geschichte sehr Vieles brach, gerade in jenen Wissenschaftsdisziplinen, die von verantwortlichen Ministern gern als überflüssig, weil nicht praxisnah, eingeschätzt werden. Das Ergebnis dieser ganz modernen Ignoranz ist natürlich eine Welt voller weißer Flecken und falscher Kultur-Darstellungen. Und wohl auch falscher Politik, denn die verantwortlichen Politiker, die für die modernen politischen Holzeinschläge verantwortlich sind, informieren sich ja genau dort, wo sie sich am wohlsten fühlen: in einer Medienwelt der zu Schnipseln verarbeiteten Oberflächlichkeiten. Nur ja nicht mit der Komplexität fremder Kulturen beschäftigen und das Fremde gar als gleichwertig betrachten.

So wirklich weit weg sind wir von den Missionaren der spanischen Konquista nicht. Auch nicht in Bezug auf das heutige Lateinamerika, das so Mancher gern als primitiven Hinterhof der westlichen Welt betrachtet. Was es nicht ist. Und da Ellen Müller-Pons Übersetzerin ist, wird sie wohl auch in ihrer Arbeit ein wenig dabei helfen, den Reichtum der süd- und mittelamerikanischen Literaturen in unsere Gefilde zu übertragen.

www.l-lv.de

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