Zum 30. Geburtstag von Grünau hat Pro Leipzig ein Fotolesebuch von Maya Kristin Schönfelder und Harald Kirschner veröffentlicht, zum 35. erschien Antje Stumpes "Paradise lost?" Das war 2011. Und bestimmt gibt's 2016 auch wieder was. Und 2021. Und so weiter. Mit wechselnder Beleuchtung und natürlichen Verschiebungen. Das war 2011 schon spürbar, als Antje Stumpe ihr Buch "Paradise lost?" veröffentlichte, für das sie jetzt den Rössing-Preis bekommt.

Tatsächlich sind die Bilder und Interviews sogar schon 2009 entstanden, zu einer Zeit, in der sich abzeichnete, dass Grünau nach der heißen Phase des “Stadtumbaus” so langsam zur Ruhe kommen würde. Stadtumbau hieß seit 2003 vor allem: Abriss. Abriss der unrentablen Punkthochhäuser, Abriss der zu engen Innenhofbebauung, Abriss der “Eiger-Nordwand” und ganzer Blöcke vor allem in den Wohnkomplexen 7 und 8. Über 7.000 Wohnungen wurden so “vom Markt genommen”. Einerseits war es für die betroffenen Wohnungsgesellschaften eine gewisse Erleichterung. Denn so lange die Bevölkerungszahlen in Grünau sanken, waren die sich zunehmend leerenden Wohnblöcke auch ein Kostenfaktor.

Andererseits war die Diskussion heftig, denn jede Wohnungsgesellschaft hat natürlich andere Interessen. Und praktisch alle hatten seit Anfang der 1990er Jahre kräftig investiert, um die simple DDR-Platte attraktiv zu machen. Manche Wohnlagen – wie im WK 8, die aus Sicht der Stadt unwirtschaftlich erschienen, waren wieder von den dort Wohnenden begehrt, weil sie besonders viel Grün und Ruhe boten. Deswegen verkündete die Stadt auch nie einen Komplettabriss von Wohnquartieren, sondern einigte sich mit den Wohnungsgenossenschaften auf die Definition eines Stadtumbaugürtels. Und wo ein Block abgerissen wurde, wurde zumeist versucht, eine Nachnutzung zu finden – als kleiner Park, als Spielplatz, als Kleingartenanlagen.Das war 2009 alles schon zu besichtigen. Das Grünau, das die 1979 geborene Autorin und Fotografin Antje Stumpe im Rahmen ihres Diplom-Projektes an der Burg Giebichenstein besuchte, war ein Grünau in der Mauser. Es war zwar immernoch geprägt von den Wohnblöcken der 1970er und 1980er, die hier auf grüner Au für 85.000 Bewohner hochgezogen worden waren, doch jetzt lebten nur noch halb so viele Menschen hier und an das einstige “Schlammhausen” erinnerte nichts mehr. Der Ort, den Antje Stumpe in ihrer Kindheit erlebt hatte, hatte sein Gesicht völlig gewandelt. Trotzdem versuchte sie, Grünau doch ein wenig mit Kinderaugen zu begegnen. Das tat sie vor allem auf fotografischem Weg.

Während sie im ersten Fototeil im Buch das so veränderte Grünau und ihre Gesprächspartner in ihrem Wohn- und Lebensumfeld professionell mit einer Arca Swiss und Farbfilm fotografierte (was man den Fotos nicht ansieht – sie wirken wie Digitalaufnahmen), wählte sie für den zweiten Bildteil eine chinesische Holga – oder auch nur ein Holga-Objektiv, das sie auf ihre Kamera schraubte. So genau erklärt sie das nicht. Die Holga hat sich irgendwie in Fotografenkreisen den Ruhm erworben, mit all ihren technischen Mängeln verstörend “verzerrte Wunschbilder” zu erzeugen, “welche Wach- und Tagträume assoziieren”, wie Stumpe im Nachwort schreibt. So bekommen vor allem die grünen Seiten des heutigen Grünau einen traumhaften, fast verwunschenen Eindruck. Der natürlich noch dadurch verstärkt wird, dass Stumpe sich auf Blumen, Gärten, Bäume und Jahreszeiten konzentriert hat und die gebaute Landschaft in den Hintergrund tritt.Den Mittelteil des Buches bilden 14 Interviews mit 19 Grünauerinnen und Grünauern mit einheitlichem Frageschema. Was aber nicht dazu führt, dass alle Dasselbe sagen, auch wenn Manches sich ähnelt. Auch weil die Autorin gezielt nach den Erinnerungen an “Schlammhausen” fragt und die Befragten mit dem Bild des “Paradieses” konfrontiert. Einem Doppel-Bild. Denn das Wohn-Paradies Grünau der 1980er ist natürlich ein anderes als das der 2000er Jahre. Die meisten der Befragten sind in Zeiten nach Grünau gezogen, als in Leipzigs Altstadtquartieren die Häuser reihenweise begannen, unbewohnbar zu werden. Sie zogen meist mit Kind und Kegel in die Neubauwohnungen, die einen Standard boten, den die meisten Leipziger damals sonst nicht kannten. Und sie sind da geblieben – auch als die Kinder auszogen, viele Grünauer der Arbeit in den Westen folgten und die ersten Wohnblöcke abgerissen wurden. Der Stadtumbau schuf neue Qualitäten, die die Einwohner durchaus zu schätzen wissen.

Um so erschrockener waren sie jedes Mal, wenn maßgebliche Zeitungen immer wieder die alten Stereotype von Wohnghetto und Slum erneuerten. Die Interviews in diesem Buch spiegeln diesen Frust noch und auch die Angst, Grünau würde nun der Stadtteil für die sozialen Absteiger werden, sozusagen der Abladeplatz für all die Problemfälle, die die Stadt Leipzig in ihren Innenstadtquartieren nicht mehr haben möchte. Eine Debatte, die ebenso durch die mit Tunnelblick geschriebenen Artikel einschlägiger Medien immer wieder erneuert wurde. Es gibt Medien, die können auf ihre gepflegten Vorurteile nicht verzichten. Für die ist die Welt ein Sammelsurium an Stereotypen, die es nur immer wieder zu bestätigen gilt. Sehr zum Ärger all derer, die Geld und Kraft und Zeit investieren, um Dinge zu ändern.

Dass das eine Menge mit dem oft genutzten Heimatbegriff zu tun hat, macht Antje Stumpe mit einem Zitat von Peter Sandmeyer deutlich: “Im Gegensatz zur erinnerten Heimat ist die wirkliche (…) anfällig für Veränderungen. (…) Heimat will Stillstand, den es nicht gibt. Das Leben will den Wechsel. Deswegen ist jede Heimat, kaum dass sie errungen wurde, immer auch schon verlorene Heimat.”

Deswegen also der Titel “Paradise lost” mit Fragezeichen. Man kann nie wieder in die Paradiese der Kindheit zurückkehren. Auch weil es in der Regel verklärte Erinnerungen sind. Aber man kann versuchen, ein Stück Welt wieder zu einem lebenswerten Paradies zu machen, lebbar für Ältere (Stichwort: Barrierefreiheit) genauso wie wieder für Jüngere (Stichwort: Angebote für Familien). Grünau steckt in so einem Transformationsprozess. Und je “voller” Leipzigs Innenstadtquartiere sind, umso mehr rückt auch Grünau wieder in den Blickpunkt der jungen Leipziger, die einen Ort zum Wohnen suchen.

Antje Stumpe “Paradise lost?”, Pro Leipzig, Leipzig 2011, 17 Euro

www.proleipzig.eu

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