2012 haben eine ganze Reihe Autoren geknobelt: Wie packt man 800 Jahre Geschichte in ein Buch, ohne Wichtiges wegzulassen? - Entstanden ist ein ganzes Dutzend Bücher über den Leipziger Thomanerchor, der zusammen mit Thomaskirche und Thomasschule "800 Jahre Thomana" feierte. Auch wenn so genau niemand weiß, wann im Thomaskloster tatsächlich der erste Knabenchor zusammengestellt wurde.

1254 wurde die Schule erstmals erwähnt. Da könnte der Chor schon bestanden haben, vielleicht sogar zwei Chöre. 1519, als in Leipzig die berühmte Disputation stattfand, da war der Chor längst eine Leipziger Institution und bot unter Thomaskantor Georg Rhau professionelle Glanzleistung – auch zu Auftakt und Ende der Disputation. Es ist wie bei so vielen alten Institutionen: Je näher man der Gegenwart kommt, umso deutlicher zeichnen sich die Konturen ab, um so dichter werden Schrift- und Bildmaterial. Die protestantische Zeit des Chores kann dann fast schon lückenlos nachgezeichnet werden mit einem ganzen Schwarm berühmter Kantoren. Johann Sebastian Bach war nur der Größte unter vielen Großen, die sich auch oft selbst als Komponisten betätigten. Das erwarteten auch die Stadtväter so, die den Chor 1539 in ihre Regie genommen hatten. Eigentlich eher die Schule, in der der Chor heimisch war. Aber wirklich abschaffen wollten die Stadtoberen den Chor nie. Höchstens reformieren, verbessern oder vereinnahmen.
Von Letzterem erzählt ja das 20. Jahrhundert, das Hagen Kunze in seinem kleinen Buch auch nicht weglässt. Im Gegenteil. Deutlicher noch als andere Autoren nimmt er die Thomaskantoren, die den Chor durch die schweren Fahrwasser des Nationalsozialismus und der nachfolgenden DDR steuern und bewahren mussten, in Schutz. Denn die Arbeit um die Qualität des Chores ist das eine. Aber wie geht man mit den Zumutungen der Mächtigen um, wie weit kommt man ihnen entgegen, welche Kuhhändel geht man ein, um eine Institution wie den Thomanerchor vor der staatlichen Einvernahme zu bewahren?

Denn ein Kennzeichen des Knabenchores war ja auch immer seine feine Balance – als städtischer Chor, dessen Repertoire eng an die Gottesdienste in Leipzigs Stadtkirchen gebunden war und ist. Bis heute. Und die Stadt Leipzig hat – bei allen Streitereien mit den Thomaskantoren – doch immer wieder in Schule und Chor investiert. Manchmal ein bisschen zu forsch – wie im 19. Jahrhundert, als man mit dem Neubau der Schule auch gleich mal das Alumnat abschaffen wollte im Glauben, man könne so einen Chor mit lauter Leipziger Jungen bestücken. In allerletzter Minute bekam der damalige Stadtrat noch die Kurve und baute schnell noch ein Alumnat neben die neue Thomasschule, den berühmten “Kasten”, der 2012 erweitert und modernisiert wurde.

Hagen Kunze hat sein Büchlein mit einigen dieser Anekdoten gespickt, die natürlich einfach dazugehören. Denn Leben heißt immer auch Veränderung. Und berühmt und attraktiv wurde der Thomanerchor nur, weil er sich immer wieder verändert hat, weil die Kantoren Mut zu Neuem hatten, weil aus dem einstigen Chor der armen Knaben heute schon so etwas wie ein Elitechor geworden ist. An dem sich auch wieder die Geister scheiden. Sollten nicht auch Oberschüler eine Chance bekommen, in diesem Chor zu singen? Und wie kann man das Projekt schon in der Grundschule verankern? Und in welcher? Der geplanten privaten oder der städtischen?

Aber auch ein Projekt wie das “forum thomanum” entsteht nur, wenn Stadt und Chor und Thomasgemeinde gemeinsam Wege finden. Oder Kompromisse, die über die nächsten Jahre tragen. Und wenn sie sich einig sind, dass sie den Chor wollen. Als Eliteprojekt, was in Leipzig selten ausgesprochen wir, weil es scheinbar nicht zu passen scheint zu einer Stadt, die mit jedem Euro knausern muss. Aber vielleicht gerade deshalb? Weil sich Elite eben nicht nur übers Geld definiert wie anderswo, sondern auch – wie in diesem Fall – durch Professionalität, die begeistert. Und die Leipzig ein Stück seiner Seele gibt.

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Das Thomaner-Büchlein
Hagen Kunze, Buchverlag für die Frau 2014, 5,00 Euro

Auch das steht ja in der öffentlichen Darstellung oft auf dem Kopf, wo der Thomanerchor gern als “Aushängeschild” und “Botschafter” verstanden und gebraucht wird. Und weniger als Selbstverständnis einer Stadt, die die Geldgeschäfte immer auch mit Kultur und besonders mit Musik verbunden hat. Weswegen ja auch Mendelssohn in der Geschichte der Bach-Rezeption so wichtig ist.

Einen Teil des Büchleins widmet Kunze auch dem Leben im Chor, versucht ein wenig zu beschreiben, warum der Alltag eine Thomasers sich so deutlich unterscheidet vom Alltag anderer Jugendlicher. Und warum er straff und anstrengend ist und trotzdem bereichert und erfüllt. Ein richtiges kleines Thomaner-Büchlein für alle, die sich den ganzen Knabenchor mal in die Tasche stecken wollen. Dazu die neuesten Aufnahmen der Thomaner auf den Stick und die Kopfhörer auf die Ohren. Und dann einfach mal auf die Thomaswiese und das Weltall preisen im grünen Gras.

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