Wie fühlt man sich, wenn sich der eingeschlagene Bildungsweg als völlig falsch herausstellt? Wenn die Erwartungen der Eltern irgendwo über einem schweben und die Aussicht auf den nächsten Tag nur deprimiert? Anna geht es so. Zwischen sich und der Welt scheint eine gläserne Wand zu stehen. Die anderen leben ein ganz anderes Tempo, selbst beim Essen bestrebt, ja den Anschluss nicht zu verlieren.

Nur einer scheint es ganz ähnlich zu halten wie Anna: Matty. In der Mensa sitzt er Anna gegenüber und rührt seinen Tee im Glas um, als dürfe man auf gar keinen Fall mit dem Löffel die Glaswand berühren. Zwei Seelenverwandte treffen sich und gehen in Annas Geschichte eine stille Symbiose ein – noch nicht Liebe, schon gar nicht Partnerschaft. Vorsichtig gehen sie miteinander um. Nur ja nicht an die Dinge rühren, die da irgendwo wabern. Es könnte etwas Schreckliches passieren. Aber was nur?

Anna verrät es auch dem Leser nicht, auch wenn sie mit fast unerbittlicher Genauigkeit erzählt, wie es ihr geht, wie ratlos sie sich fühlt in dieser Situation, in der die Erwartungen auf ihr lasten. Der Erfolgsdruck sowieso, denn wenn einen Eltern heutzutage schon mal zum Studium schicken, dann wollen sie ja auch Erfolge sehen. Nicht irgendwelche Blümchentestate, sondern Abschlüsse in Fächern, mit denen man hinterher Geld verdient und Karriere macht.Das braucht sie gar nicht auszusprechen. Es hängt ja in der Luft. Jeder Politiker erzählt es. Und nicht nur an der Uni Halle wird in etlichen Fakultäten genau diese Atmosphäre des permanenten Wettbewerbs herrschen, des zwingenden Erfolges und der Verachtung für alle, die es nicht schaffen. Eine Atmosphäre, wie sie einem heute ja auch schon aus zahlreichen Medien entgegen wabert. Als sei das ein normaler Zustand. Als zerfräße er nicht unsere Gesellschaft von innen heraus, verwandelte er die einen nicht in vom Ehrgeiz zerfressene Erfolgsmaschinen und die anderen in Verlierer, die das Treiben nicht mitmachen. Nicht mitmachen wollen, weil sich alles in ihnen sträubt.

Und richtig eng wird es, wenn man darüber mit niemandem mehr reden kann, auch mit den Eltern nicht, weil sachliche Gespräche am Familientisch schon lange nicht mehr möglich sind. Nur Oma Pauline versteht, was Anna sucht und warum Anna alles hinschmeißen will. Den Exmatrikulationsantrag hat sie schon geschrieben. Aber was dann? Was tun?

Es wird ein harter Sommer für Anna, denn nicht nur Oma Pauline verliert sie, auch Matty ist nicht da, als es ihr so richtig dreckig geht. Die Briefe an ihn versteckt sie in seiner Wohnung, während Matty mit seiner Band auf Tournee ist. Briefe, die Anna auch den Leser nicht lesen lässt. Da ist sie eigen. Denn wirklich Vertrauen hat sie nur zu ganz wenigen Menschen. Nicht genug. Das erfährt der Leser erst nach diesem dunklen Sommer, als Matty die Briefe findet und endlich erfährt, was los ist mit Anna. Zumindest einen Teil davon. Genug, um die Welt ein wenig zu verändern und auch den Kreis, der sich um Anna bildet. Denn nicht nur ihr geht es so, dass sie sich völlig auf der falschen Spur fühlt. Bei Matty wusste sie es schon. Nicht umsonst bevorzugt er die Musikerlaufbahn. Aber dass auch ihr sonst so strenger und auf Ordnung bedachter Vermieter Johannes austickt, das überrascht dann beide. Auch Johannes hat nur versucht, den Erwartungen eines schweigenden und über allem schwebenden Vaters gerecht zu werden.

Es könnte schon jetzt der Anfang einer Geschichte des gemeinsamen Ausbruchs werden. Aber so weit ist zumindest Anna noch nicht. Da ist noch etwas, was sie keinem erzählt hat, und es ist eine fast überstürzte Fahrt nach Italien nötig, damit auch diese Hülle noch fällt und – neben Annas Krankheit – auch ihre Neigung sichtbar wird, alles loszulassen, aufzugeben, sich aus dem Leben fallen zu lassen, ohne Gegenwehr. Das überfordert dann auch ihre Begleiter. Und Hanna Montags Geschichte könnte durchaus tragisch enden. Denn wo bleibt dieses Stückchen Zuversicht, wenn man nicht einmal mehr den Moment festhalten will oder diese Freundschaft zu zwei Gleichgesinnten, die auch Liebe sein könnte?Italien klingt fast wie ein Signal. Auf weiten Strecken hat Hannas Geschichte dieselbe schöne Strenge, wie sie auch die Ausreißergeschichten von Andrea de Carlo haben. Mit denselben Zweifeln, Hoffnungen, Unzulänglichkeiten. Jede Situation ist hinterfragbar, jede Beziehung ein kompliziertes und undurchschaubares Gespinst, was eben noch war, kann schon der nächste Moment in Frage stellen.

Doch während de Carlos Helden am Ende zumeist akzeptieren, dass die Dinge nicht greifbar sind, geht Annas Geschichte ein klein bisschen anders aus. Sie spielt ja zum großen Teil nicht ohne Grund in Ostdeutschland, in Halle, wo die Verhältnisse eben noch nicht erstarrt sind in den Bildern der permanenten Jagd nach Anerkennung, Erfolg und sauberer Fassade. Da ist noch was möglich. Und möglicherweise wird gerade Halle zum nächsten Leipzig, wenn die Saubermänner in Leipzig ihr Werk vollbracht haben. Das befürchten in Leipzig wohl zu recht immer mehr Menschen.

Anna, Matty und ihre Freunde, allesamt Aussteiger aus der sinnlosen Jagd nach Karriereerfolg, versuchen am Ende zusammen einen neuen Anfang, probieren aus, was geht, wenn sich ein Häuflein Unangepasster zusammentut. Jetzt zumindest wissend, wie gefährdet alles ist. Aber auch, dass die wirklichen Anfänge nur außerhalb der rasenden Maschine zu finden sind. Aber so konnte es Anna ja auch in Oma Paulines Kriegstagebuch schon lesen: Die kräftezehrende Heimkehr durch ein kaputtes Land schafft man nur, wenn man Weggefährten hat, die wissen, wie dreckig es einem geht. Und die bei einem bleiben, wenn es hart auf hart kommt.

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Ein Himmel voller Haie
Hanna Montag, Einbuch Buch- und Literaturverlag 2014, 12,40 Euro

Ein Aussteigerbuch irgendwie, das tatsächlich ein Einsteigerbuch ist. Auch für jene, die darüber verzweifeln wollen, dass ihnen der Sprung auf die Erfolgsmaschine einfach nicht gelingen will. Patrick Zschocher vergleicht das Buch mit Salingers “Franny und und Zooey”. Und auch das trifft zu. Und am Ende muss man die Geister einer auf Karriere getrimmten Welt wohl wirklich zum Teufel jagen, wenn man überleben will. Oder gar, wenn man sein eigenes Leben will und nicht das, das andere von einem erwarten. Die Entscheidung, das weiß Anna am Ende, ist ihre eigene. Das ist dann die Szene mit dem Himmel volle Haie. Aber das ist in diesem Fall kein bedrohliches Bild.

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