Der Titel "Leipzigs Bedeutung für die Geschichte Sachsens" verspricht viel. Das Buch bietet auch viel. Und am Ende hat man das sichere Gefühl: Eigentlich wäre das eine Lebensaufgabe für einen Historiker, der damit sein Lebenswerk krönt. Aber das war auch schon am 17. Juni 2009 klar, als Leipzigs Stadtrat beschloss, zum 1.000 Jahrestag der Ersterwähnung eine neue Stadtgeschichte zu bestellen.

Die wird auch kommen. Im Herbst soll der erste Band vorliegen. Aber alle, die sich mit dem Thema beschäftigten, wussten, dass man mit der Stadtforschung um 60 Jahre im Verzug war und die Leipziger Stadtgeschichte im Grunde ein Gespinst aus lauter Löchern ist. Ein paar davon konnten in den letzten fünf Jahren gestopft werden. Unter anderem durch die diversen Veranstaltungen des Leipziger Geschichtsvereins, der vom 11. bis 13. Oktober 2012 auch zu einer Tagung in die Alte Börse eingeladen hatte. Dort wurden im Wesentlichen die Vorträge gehalten, die jetzt in diesem 500 Seiten starken Band aus der engagierten Reihe “Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Leipzig” erschienen. Plus einen Vortrag, den Ulrich von Hehl außerhalb der Tagung hielt zu den Besuchen Adolf Hitlers in Leipzig.

Womit man gleich bei den großen Löchern im Gespinst wäre, zu denen die Zeit der NS-Herrschaft in Leipzig gehört. In der DDR-Zeit war dieses Kapitel – abgesehen vom kommunistischen Widerstand – fast völlig tabu. Erst jüngere Forschungen haben einige wichtige Themen aus dem Dunkel gerissen – den Widerstand der Jugendgruppen etwa, die Lage der Zwangsarbeiter im Zusammenhang mit den großen Unternehmen der Kriegsproduktion, die Rolle der vom NS-Regime eingesetzten Oberbürgermeister oder die Deportationsschicksale der Leipziger Juden, am Rande auch das Thema “Arisierung”.

Ulrich von Hehl versucht in seinem Beitrag auszuloten, wie sich in der Reaktion der Leipziger und der Leipziger Medien die Akzeptanz der Nationalsozialisten und ihrer Inszenierungen im Lauf der Zeit entwickelte. Denn Leipzig war bis 1933 eindeutig eine Hochburg der Linken. Sie konnten sich auf ihre Stammwählerschaft aus den Leipziger Arbeitervierteln verlassen. Ein Problem der historischen Recherche ist natürlich das Verschwinden aller kritischen Medien nach der Machtübernahme der Nazis 1933. Aber den Titel der “Reichs-Nein-Sager-Stadt” erwarb sich Leipzig in der NS-Zeit. Selbst Goebbels schimpfte in seinen Tagebüchern über die schlechten Abstimmungsergebnisse aus Leipzig. Wobei völlig offen ist, wieviel Wahlfälschung noch zu der umfassend geübten Repression gegen Andersgesinnte hinzukam. Hinter dem einen Loch, das von Hehl vorsichtig flickt, taucht das nächste auf.

Ein anderes gab es bislang auch in dem ebenso lange vernachlässigten Kapitel “Weimarer Republik”. Während des Kapp-Putsches kam es auch in Leipzig zu blutigen Ereignissen. Doch das Besondere daran war, dass sich in Leipzig zwei Gegner gegenüberstanden, die sich beide gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch ausgesprochen hatten. Siegfried Hoyer beleuchtet die Fronten dieser Tage, die gewissermaßen auch zwischen einem zutiefst verunsicherten Bürgertum und einem nervösen linken Lager bestanden.Und damit kommt das nächste Loch in der Forschung zum Vorschein, das Thomas Stein dann in seinem Beitrag “Städtische Eliten und Mäzenatentum im Leipzig der Weimarer Republik” nur kurz antippt. Denn wirklich viel aufbereitetes Material, auf das er zurückgreifen könnte, gibt es noch nicht.

So beschränkt er sich auf einige wesentliche Fakten zu Stiftungen und Schenkungen, benennt aber im Einführungstext etwas, was in den Geschichtsdarstellungen zur Weimarer Republik fast immer “vergessen” wird: Die hochgradige Verunsicherung des Großbürgertums, das sich mit der Veränderung der Gesellschaft schon zum Ende der Kaiserreichs verunsichert und machtpolitisch in Frage gestellt sah und sich eine Kultur schuf, die in gewisse Weise das “Alte” konservierte. Je moderner die Gesellschaft wurde, je mehr immer neue Aufsteiger – vom liberalen Bildungsbürgertum bis zu den Sozialdemokraten als politische Vertreter der Arbeiter – ihren Platz in der politischen Öffentlichkeit beanspruchten, umso wertkonservativer wurden auch die alten Leipziger Eliten. Nicht nur Max Schwimmer stöhnte in seinen Kunstkritiken in der LVZ über die verstaubte Ankaufpolitik des Bildermuseums – eine dieser vom Leipziger Bürgertum geschaffenen Einrichtungen, mit der sie ihrer Stadt etwas Gutes tun wollten.

Aber selbst den Trägerverein des Bildermuseums lähmte es am Ende, weil die Ausstellungen den einen Mitgliedern viel zu verstaubt waren, den anderen schon viel zu modern. Aber wie gesagt: Mit der Rolle des Bürgertums als historischer Akteur in den Umbrüchen des frühen 20. Jahrhunderts haben sich Historiker noch nicht wirklich beschäftigt.

Aber große Löcher in der Forschung gibt es auch in anderen Jahrhunderten. Noch heute erzählen diverse Stadtführer den Leuten ohne schlechtes Gewissen, die Disputation zwischen Luther und Eck hätte 1519 in der Pleißenburg stattgefunden und das Neue Rathaus sei auf deren Mauern errichtet worden. Aber bei der Tagung 2012 hat Enno Bünz dann auch den Fachleuten noch einmal auseinander gesetzt, wo das alte landesherrliche Schloss gestanden hat, welche Rolle es hatte und welche Gebäude es wohl gehabt hat. Die Quellen sind spärlich – aber trotzdem eindeutig.

Bünz erzählt auch, warum die Wettiner in Leipzig ein Residenzschloss hatten und welche Rolle Leipzig als politischer Tagungsort in der Zeit spielte, bevor die Wettiner sich in Dresden eine feste Residenz errichteten.

Eine Geschichte, die dann Doreen von Oertzken Becker ergänzt, indem sie aus alten Leipziger Ratsakten die Rechnungen für Geschenke und Verehrungen herausgesucht hat – der größte Teil davon ging auch im 15. und 16. Jahrhundert an die diversen führenden Vertreter der Landesfürsten. Hauptsächlich natürlich an die in Dresden regierenden Albertiner, aber auch an die Ernestiner und den Bischof von Merseburg. Man schenkte nicht einfach wild drauflos. Geschenke waren Mittel der politischen Etikette. Und Leipzigs Rat blieb dabei ganz klassisch, schenkte, wie es im deutschen Sprachgebrauch einst auch hauptsächlich verstanden wurde und heute im Wort Einschenken noch steckt: Der Rat schenkte Wein, manchmal Bier, aber auch Zander und Wildbret und Konfekt. Letzteres eindeutig ein Luxusgut, denn bevor der Zucker mit dem Zuckerrübenanbau in Deutschland industriell hergestellt wurde, war Zucker eine teure Importware, die man zwar in Leipzig leicht bekommen konnte – aber teuer war der Import aus Ägypten oder der Karibik trotzdem.

Womit man beim Geld wäre und Uwe Schirmers ausführlichem Bericht zu einem der erstaunlichsten Kapitel in der Leipziger Geschichte: der Zahlungsunfähigkeit des Jahres 1625. Diese liegt zwar mitten im 30-jährigen Krieg, hat aber mit diesem Krieg und seinen Kosten erst einmal wenig zu tun, wenn man die Tatsache unberücksichtigt lässt, die auch Historiker des 30-jährigen Krieges gern ausblenden, dass auch dieser Krieg eine Wurzel in einer ausgewachsenen wirtschaftlichen Krise hatte.Manchen Schülern begegnet diese Krise als “Zeit der Kipper und Wipper”. Tatsächlich war es im Grunde die erste internationale Finanzkrise – und wer Schirmers Beitrag liest, findet Parallele um Parallele zu dem, was die moderne Finanzwelt in der Gegenwart angerichtet hat. Dass Sachsen und Leipzig damals besonders litten, hat sogar mit dem noch immer blühenden Silberbergbau in Sachsen zu tun. Während andernorts sogar Landesherren dazu übergegangen waren, die Münzen zu verschneiden und das Geld zu verschlechtern, wurden im Herrschaftsbereich der Wettiner noch immer handfeste Reichstaler aus echtem Silber geprägt. Und die Leipziger gaben ordentliche Kredite auf Reichstalerbasis. Doch sie bekamen keine Reichstaler mehr zurück. Die horteten die Spekulanten und trieben damit den Preis des Reichstalers immer mehr in die Höhe. Was Leipzig bekam, war schlechtes Geld: Man machte Verluste.

Schirmer schildert, welche weiteren Ursachen noch dazu kamen und die Lage für Leipzig verschärften. Der Versuch, in den Mannsfeldischen Kupferhandel einzusteigen, war auch ein Versuch, die Finanzmisere zu klären. Doch auch die Mannsfelder Grafen hatten sich verzockt, der Kupferbergbau ging längst zur Neige. Dass dann auch noch mit dem Krieg die Getreide- und Futterpreise explodierten und der Handel arg beeinträchtigt wurde, gab Leipzigs Versuch, die Sache zu retten, endgültig den Gnadenstoß. Die vom Fürsten eingesetzten Insolvenzverwalter fanden einen Schuldenberg von über 3 Millionen Reichstalern vor – und einen Stadthaushalt, der seit Jahrzehnten im Minus lief. Ab 15. Februar 1627 stand Leipzig unter Zwangsverwaltung und hatte die nächsten 55 Jahre im Grunde ein waschechtes Sanierungsprogramm vor sich – bis der Schuldenberg abgetragen war.

Ein Grund für das alte städtische Defizit, so Schirmer, war auch die opulente Bautätigkeit der Stadt im 16. Jahrhundert. Auch das so ein bisher unbeleuchtetes Kapitel. Die üblichen Stadtgeschichtsbücher melden zwar jubelnd die Pracht von Altem Rathaus, Alter Waage und der damaligen Stadtbefestigung – aber dass diese Kosten den Stadthaushalt belasteten, wird zumeist nicht erwähnt.

18 Beiträge aus vier Forschungsbereichen findet man jetzt in diesem Sammelband vereint, mit dem der Leipziger Geschichtsverein wieder ein Stück Forschung beisteuert zu dem, was dann 2014 bis 2016 als vierbändige Stadtgeschichte erscheinen wird. Diese Stadtgeschichte wird dann zwar nach über 100 Jahren wieder ein Standardwerk zu Leipzigs Geschichte sein. Aber man ahnt schon jetzt, dass es auch danach noch Löcher im Gewebe geben wird und dass der Geschichtsverein seine Reihe auch nach 2016 fortsetzen kann. Da und dort mit Fundstücken, die lange für richtig Erachtetes endlich einmal korrigieren.

Bis es dann die üblichen Stadtführer-Schreiber übernehmen, wird’s dann wieder 100 Jahre dauern.

www.univerlag-leipzig.de

www.leipziger-geschichtsverein.de

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