Wenn einer eine Reise tut, wird heute zumeist ein Meer von digitalen Schnappschüssen draus, die auf diversen Plattformen Freunde, Freundesfreunde und andere Bekannte und Unbekannte überraschen: mein Bungalow, mein Urlaubsschwarm, meine Strandburg, mein Flieger. Das Reisen wird zu einer Flut der immergleichen Bilder. Es geht auch anders, weiß die Leipziger Autorin Jutta Pillat.

Bislang hat sie vor allem Gedichte und “Sprachspielereien” veröffentlicht, jetzt sind es mal Reisebilder, die für eine echte Leipzigerin natürlich auch noch was Besonderes haben. Denn als Normalsterbliche war ihr die große weite Welt hinter Mauern und Zäunen bis zum 9. November 1989 so verschlossen wie den anderen Normalsterblichen auch. Paris, London, Wien und Istanbul waren die geheimnisvollen Namen von sagenumwehten Städten in einer fremden, unerreichbaren Welt. Selbst wenn man die Glocken von Big Ben aus den Englisch-Lektionen des DDR-Fernsehens im Ohr hatte. Oder wie Jutta Pillat als Erkennungsmelodie der BBC aus dem Radio ihrer Kindheit.

Und auch 1990 noch war eine Reise in die Schweiz ein fast unfinanzierbares Abenteuer: 15 DM spendierte die gerade auf dem letzten Loch pfeifende DDR. Das Begrüßungsgeld von 100 DM ging ja zumeist schon bei der ersten Erkundung des unbekannten Landes gleich hinterm Zaun drauf.

Jutta Pillat erzählt nicht chronologisch von ihren Reisen in die unbekannte Welt, sie versucht auch, sich ein wenig herauszunehmen aus den Geschichten und quasi jedes Mal eine erfundene Protagonistin mit wechselnden Reisebegleitungen auftreten zu lassen. Der Leser soll durchaus das Gefühl haben, hier ganz in Literatur zu schwelgen, auch wenn eine genau hinschauende Autorin sich so nicht wirklich verleugnen kann.

Hier reist eine Dichterin aus Sachsen mit offenen Augen und offenen Herzens in  die große weite Welt, die heute eher schon wie die kleine nahe Welt wirkt. So können Dimensionen schrumpfen, wenn sich Dinge normalisieren, wenn alles, was zuvor verbotenes Terrain war, auf einmal mit dem simplen Reisepass (den man nun ganz selbstverständlich bei sich hat) oder sogar mit dem simplen Personalausweis erreichbar ist. Selbst Bus und Flugzeug sind bezahlbar. Nichts hält einen auf. Die Traumstrände des Mittelmeeres kann man im Reisebüro genauso einfach buchen wie die Traumhotels an der kroatischen Küste – Reinfall mit eingeschlossen, wenn sich die Versprechungen des Katalogs als schöne Übertreibung erweisen.

Aber von so etwas lässt sich Jutta Pillat nicht die Laune verderben. Sie lässt ihre Heldin mit aller Neugier reisen, die sich da angesammelt hat. Immerhin geht es um die Entdeckung all der Schauplätze, die zuvor nur in Liedern, Büchern, Filmen vorkamen. Die Traumstadt Rom etwa mit dem so gern als Filmkulisse verwendeten Trevi-Brunnen oder das legendenumwobene Rouen, wo Jeanne d’Arc 1431 auf dem Scheiterhaufen starb und wo die Reisende das Denkmal an die berühmte Retterin Frankreichs finden will – Vorbild für mutige Frauen. Selbst einmal Jeanne d’Arc sein oder eine kennenlernen – welche Frau möchte das nicht? Auch diese Geschichte – wie alle anderen – geht anders aus als gedacht.

Das ist so mit dem Reisen, wenn man sich wirklich drauf einlässt und nicht die Pauschalbuchung für eine dieser normierten Urlaubsburgen macht, wenn man tatsächlich den Stimmen der eigenen Sehnsucht folgt. Nach Paris zum Beispiel, von dem der Vater so schwärmte nach dem Krieg, auch wenn er wohl das Wichtigste und Entscheidende lieber für sich behielt. So dass sein Paris eigentlich nicht zu finden ist. Und das Paris, das man findet, ist ein anderes, eines mit langen Schlangen vor jeder Attraktion – und trotzdem ist es eine Stadt, die bezaubert, weil sie anders ist als erwartet.

Tatsächlich braucht Jutta Pillats Buch keine Fotos, auch wenn man sie anfangs sucht, weil man dran gewöhnt ist heutzutage. Die Bilder entstehen im Kopf. Und tatsächlich sind es kleine Geschichten, die so entstehen, irgendwo zwischen Reisebild und Skizze. Nicht abgeklärt oder gar mit der heute so beliebten Geste des Extravaganten, Einmaligen, Rekordverdächtigen, das die meisten Reisebücher so rekordverdächtig austauschbar macht.

Bei Jutta Pillat kommen auch die kleinen Verstörungen zu Wort, die ein Reisender mit Herkunft Sachsen, Leipzig, mitnimmt in die Welt. Man hat ja seine Vorurteile mitbekommen – gute wie schlechte. Über den sonnigen Süden, den geheimnisvollen Orient, heimelige Klöster oder die Sehnsucht der einsamen Gastarbeiter in Köln. Auch das war ja 1990 noch terra incognita – und ist es in Vielem auch heute noch. Selbst kleine Reisen genügen, um zu erfahren, dass die Welt schon hinterm nächsten Berg beides ist, was man nie erwartet hätte: schrecklich fremd und schrecklich vertraut. Selbst in Wien kann man in später Stunde verzweifelt am Bahnsteig stehen und auf die letzte Bahn warten, die einen in eine verwirrend trostlose Gegend bringt. Und dabei ist die Heldin doch nur geflohen, weil ihr eine Diskussion um Bonuspunkte am Burgtheater denn doch zu makaber war. Das hätte sie auch daheim haben können.

Aber gehört das nicht auch zum Reisen? Oder gerade das? Diese Entdeckung, wie vertraut das scheinbar Fremde eigentlich ist? Zehn Reisen hat Jutta Pillat so beschrieben. Da und dort voller Entdeckerfreuden, voller Neugier auf den Witz der Anderen und mit dieser schönen sächsischen Ruhe, die Welt nicht als Preisrichter betrachten zu müssen. Eher mit dem Wissen darum, dass das Fremde und Exotische im Grunde gleich nebenan beginnt. In der Schweiz zum Beispiel, wo die Heldin in Begleitung zweier verwegener Punks auf die Berge steigt und danach das Goetheanum besucht. Und wo sie die Verschwendung einer reichen Gesellschaft kennenlernt, die Regenschirme, die sie nicht mehr braucht, im Abfallbehälter entsorgt.

Wahrscheinlich reist es sich sogar leichter und schöner, wenn man sich seine Sehnsucht als Kompass bewahrt und auch seine Wünsche nicht verbiegen lässt, auch nicht, wenn am Zielort alles durchgeplant ist im Massenbetrieb. Man lernt überall was, nimmt sich ein paar neue Erfahrungen mit und fragt sich ab und zu: War es denn Glück? Und manchmal sind es ganz kleine Momente, die sich festgesetzt haben. Da braucht man keinen Fotoapparat. Das bleibt im Gedächtnis.

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