Zwei Geschenke wollte die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik Leipzig zum 1.000. Jahrestag der Ersterwähnung machen: Ein Poesiealbum mit Gedichten aus allen Leipziger Partnerstädten. Das ist schon im Oktober erschienen. Pünktlich zur Buchmesse gab es jetzt das zweite Geschenk. Klingt wie ein Weihnachtgeschenk. Ist aber eher eine Anspielung auf Heinrich von Morungen.

Das ist Leipzigs ältester nachweisbarer Dichter, Minnesänger, wie das so schön heißt. Peter Gosse zitiert ihn in seinem satyrhaften Gedicht “O vröide”.

Die Lyrikgesellschaft hatte im letzten Jahr dazu aufgerufen, Leipzig-Gedichte und kleine Miniaturen einzusenden. Das haben denn auch, wie OBM Burkhard Jung in seinem Grußwort erwähnt, 221 Autorinnen und Autoren aus neun Ländern getan. 128 bekamen einen Platz in diesem “Poesialbum neu” in vierfacher Seitenstärke. Darunter Bekannte und Begabte. Aber auch manch dichtender Laie durfte sich freuen, ein Plätzchen zu finden. Denn Berühmtheit war kein Kriterium. Auch eine Auswahl der berühmtesten Leipzig-Gedichte sollte es nicht werden.

Die hat vor ein paar Jahren in einer exquisit illustrierten Ausgabe ja schon die Connewitzer Verlagsbuchhandlung vorgelegt: “Mit einem Reh kommt Ilka ins Merkur”. Da stecken die schönsten Perlen der letzten 100 Jahre drin.

Das “Poesiealbum neu” funktioniert ein bisschen anders.

Herausgeber Ralph Grüneberger arbeitet hier immer thematisch und animiert vor allem die große Mitgliedergemeinde der Lyrikgesellschaft, sich zu großen Themen zu artikulieren. Was sie dann meist auch in einer schönen Vielstimmigkeit tun. Für “Leipzig im Gedicht” wurde der Kreis der Adressaten noch einmal deutlich erweitert, konnten auch alle mitmachen, die den Aufruf der Gesellschaft zum Mitmachen mitbekamen. Der war mutig. Denn von  Lyrik und Miniaturen haben ja die meisten Menschen keine Ahnung. Mit Stil- und Formfragen haben sie sich nie im Leben beschäftigt. Was aber nichts macht. Am Ende ist das Bild wichtig, das entsteht, wenn über 100 Autorinnen und Autoren versuchen, ihre Beziehung zu einer Stadt in die kleine Form zu packen.

Da kommt natürlich Vieles wieder zum Vorschein, was zu den heute dominierenden Erzählungen über die jüngere Stadtgeschichte gehört. Da und dort Stücke von Lebenserinnerungen, die von der Kindheit im Nazi-Reich und  im Bombenhagel reichen über die ideologisierte Erziehung in der DDR bis in die schönen Erinnerungen an Wende und Wiederauferstehung.

Es gibt auch die parallelen Reflexionen von Autorinnen und Autoren, die Leipzig nur von Besuchen her kennen – und dabei im Grunde nur die üblichen Standards: Auerbachs Keller, Mädlerpassage, Völkerschlachtdenkmal. Alles meist sehr lieb, ein bisschen sentimental, wie man so wird, wenn man in einer Stadt nicht leben muss, aber bei Besuchen einfach das Gefühl hat, dass es schön ist.

Und dann gibt es noch die Dichterinnen und Dichter.

Die bekanntesten, die mitgemacht haben, alle noch mal auf dem Umschlag erwähnt – von Thomas Böhme bis Norbert Weiß, von Nazim Hikmet bis Galsan Tschinag. Sie gehen mit der Stadt und ihren Erinnerungen anders um. Das war zu erwarten. Und das gibt der Auswahl erst ihre Tiefe. Und wer’s wirklich nicht in der Schule gelernt hat, merkt es hier beim Lesen: Lyrik ist nicht lyrisch, Poesie nicht poetisch, Emotion nicht zu verwechseln mit Sentiment. Die Brüche sind zuweilen frappierend. Doch jedesmal beeindruckend. Auch weil die Texte der erfahrenen Lyriker zeigen, was für ein dichtes Gespinst aus Beziehungen sich tatsächlich ausbildet, wenn man in einer Stadt wie Leipzig heimisch ist oder war oder gern sein wollte. Letzteres gehört dazu, denn Leipzig kann auch richtig abweisend sein, verwirrend und frustrierend. Und man konnte und kann sich hier richtig einsam fühlen. Auch als Dichter. Denn das Poetische, wieder Schöngemalte, das ist nur die Fassade. Hinter den Fassaden war Leipzig immer ein raues und verletzendes Pflaster, eines, das tröstende Liebesszenen eher nur in den Randbereichen des Tages duldet, bevor ein unverhofft flotter Schritt zu hören ist – selbst in der manchmal verschlafenen City. Dann, wenn die Eiligen und Geschäftstüchtigen das Tempo forcieren.

Das kann man – wehmütig oder grimmig – ertragen und trotzdem schön finden. Oder man packt die Koffer und formuliert aus der Ferne seine durchaus durchwachsenen Gefühle, Erinnerungen, Eindrücke.

Der Band ist auch da sprechend, wo einige wichtige Namen fehlen.

Mancher ist auch weggegangen in völligem Erschrockensein. Oder tiefer Verletzung. Und andere gingen weg und formulieren aus der Ferne ihre schwierige Beziehung zu dieser Stadt. Andere – wie Hikmet und Tschinag – erklären aus der Fremde ihre Liebe zur einstigen zweiten Heimat, in der sie ein wichtiges Stück ihres Handwerkszeuges erlernten. Und es fällt auf: Es sind wirklich nicht die gestandenen Lyriker, die die Lobgesänge anstimmen. Das kann man nur, wenn man zu Leipzig ein ungebrochenes, heißt wohl auch: zutiefst romantisches Verhältnis hat (oja, die geradezu erotischen Beziehungsgedichte zu Leipzig oder diversen Leipziger Helden gibt es auch).

Da klingen die alten Klippklappverse weiter – von Lindenstadt bis Freiheitsstadt. Man möchte sich verkriechen vor lauter Naivität.

Aber es gehört dazu.

Das ist das Buntschillernde, das irgendwie das Wispern und Räuspern rund um diese Stadt ausmacht – samt ihren Märchen und Legenden, die immer weiter fabuliert werden. Bei den nicht mehr ganz Jungen schimmert auch noch das geschundene, arme, sonnenlose Leipzig durch, das aber in manchem Text viel irdischer und greifbarer wirkt als das neue, das oft zusammengesetzt wirkt wie aus Stereotypen (es gibt auch zwei ganz schrecklich sentimentale Schlagertexte im Heft, aber auch das gehört wohl dazu).

Und es schimmern auch die lokalen Legenden auf, an denen auch Leipzigs Dichter eifrig stricken, wenn sie den Mond über Plagwitz oder den Waldfrieden in Connewitz besingen. Heißt ja nicht, dass Lyriker nicht sentimental werden dürfen. Und die namhaften in diesem Band werden es zumeist auch nicht – zeigen sich eher vom alten, sächsischen Schlag: zutiefst sarkastisch, ironisch, doppelbödig (da darf dann auch der übliche Leipziger Größenwahn stilvoll auf den Arm genommen werden). Da und dort gibt’s auch – wie zu erwarten – ein bisschen Leipziger Underground. Auch das ist ja längst Geschichte geworden, dieser widerspenstige Aufruhr mit Worten in einer Stadt, in der die Wohnungen verrotteten und der Kohlengrus rieselte. So gesehen, ein recht facettenreiches Bild, das hier entsteht, das gleich mehrere Schichten der Erinnerung und der Selbstwahrnehmung enthält.

Tja, und eins hat sich nicht geändert: Die ganz normale Lage der Dichter in Leipzig. Das ist wie zu Lessings Zeiten: Reich wird man hier als Autor nicht mit Gedichten. Man drückt sich dann eher die Nase platt bei der nächsten Boutiqueneinweihung- wie Andreas Reimann – und grübelt darüber nach, warum die Stadt nun schon wieder anderen gehört: “Ja, unsereins krönet der anblick der krone! / Und was macht uns sesshaft?: der pass.”

Buchpremiere ist am 21. April, 19 Uhr in der Leipziger Stadtbibliothek (Wilhelm-Leuschner-Platz 10/11).

Poesiealbum neu “O Freude. Leipzig im Gedicht. Lyrik & Prosaminiaturen”, Edition Kunst & Dichtung, Leipzig 2015, 6 Euro

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