In einzelnen Bänden hat Reinhard Münch in jüngster Zeit schon die Stimmen der Soldaten und Offiziere gesammelt, die von den diversen Schlachten Napoleons zwischen 1805 und 1815 berichteten. Denn nur sie als Augenzeugen konnten ja erzählen von diesen blutigen Schlachten, bei denen vor allem die jungen Männer Europas zu Tausenden hingemetzelt wurden. Nur: Die meisten konnten davon nicht mehr erzählen. Und die einfachen Soldaten noch viel weniger als die gebildeten Offiziere. Zeit für ein großes Puzzle.
Ein durchaus auch die Gegenwart berührendes Puzzle. Denn einmal mehr gibt es einen Staatschef, der glaubt, mit dem Einsatz seiner Armee die Friedensordnung Europas aus den Angeln heben zu können und Europa seine Vorstellungen von „Pufferzonen“ aufzwingen zu können. Ein Mann in seinen wilden Visionen.
Und damit ist er durchaus auch Napoleon verwandt, der über die zu seiner Zeit stärkste Armee Europas verfügte und glaubte, mit militärischer Gewalt die Fürsten Europas unter seine Botmäßigkeit zwingen zu können. Er eilte von Schlachtensieg zu Schlachtensieg. Die komplette Liste findet man im Anhang des Buches.
Aber auch die Reihe der bis heute berühmten Schlachten ist eindrucksvoll genug, beginnt 1805 mit der Schlacht bei Austerlitz, in der Napoleon die Österreicher direkt vor den Toren Wiens in die Knie zwang, geht über die Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 weiter, als die Preußen ihre größte Niederlage erlitten, und kulminiert natürlich 1812 mit der Schlacht bei Borodino, 1813 mit den Schlachten bei Bautzen, Dresden, Lützen und Leipzig, um dann mit dem Winterfeldzug 1814 und der Niederlage von 1815 zu enden, in der Napoleon dann doch sein Waterloo erlebte.
Die Stimmen der Soldaten
Alles mit Stimmen von beteiligten Soldaten und Offizieren auf beiden Seiten unterlegt. Was natürlich die Perspektive ändert – weg von der Vogelperspektive der Historiker, die hier vor allem Armeen und Feldherren agieren sehen und ihnen dann Sieg und Niederlage zuschreiben. Aber für die Männer in der Schlacht gibt es diese Vogelperspektive nicht. Sie leben im Moment, stiefeln durch von Regen aufgeweichte Felder, biwakieren in eisigen Landschaften, sind froh, wenn die Versorgung mit Essen und Trinken einigermaßen funktioniert.
Sie sind Teil einer großen Maschine, haben zu funktionieren gelernt und gehorchen Befehlen, die sie ins Gefecht schicken. Manchmal mitten hinein ins geballte Gewehr- und Kanonenfeuer. Manchmal stehen sie auch tatenlos am Rand der großen Schlachten, wartend auf den Moment, in dem sie ins Hauen und Stechen befohlen werden.
Sie sehen ihre Kameraden links und rechts fallen, werden selbst verletzt, liegen leidend mitten auf dem Schlachtfeld, bevor sie – wenn sie Glück haben – hinter die Linien zu den Feldschern geschleppt werden, wo sie meist nur notdürftig versorgt werden, wen sie nicht gleich ganz Arme oder Beine verlieren. Nichts an diesen Schlachten war wirklich heroisch, auch wenn zahlreiche Verfilmungen geradezu davon leben, dass sie die uniformierten Reihen über die Leinwand defilieren lassen und die Schlacht mit Hörnerklang, Trommeln und viel Rauch eskalieren lassen.
Doch wer war wirklich Zuschauer? Bestenfalls die Feldherren, die das Schlachtengetümmel von erhöhter Position aus beobachteten und die Truppen dirigierten. Eine Kunst, die gerade Napoleon zur Perfektion getrieben hatte. Denn in mancher Schlacht war er zahlenmäßig deutlich unterlegen, wusste aber die Vorteile des Geländes und der Überraschungsangriffe gut für sich zu nutzen. Und zwar ohne Rücksicht auf Leib und Leben seiner Soldaten.
Sieger ohne Sieg
Es läuft eher als Gedanke am Rande immer mit, wie viele junge Männer Napoleon in seinen Schlachten verheizte. Ohne dass sich wirklich abzeichnet, welche Vision er tatsächlich für Europa hatte. Manche Völker – wie die Polen, die in diesem Band auch zu Wort kommen – setzten natürlich ihre Hoffnungen in ihn, dass er ihnen half, wieder eine eigenständige Nation zu werden.
Für Bayern, Württemberger und Sachsen war es schon viel schwieriger, sich da einzusortieren. Anfangs kämpften sie – verlustreich – gegen Napoleon, dann wurden sie zum Teil seiner Großen Armee und erlebten auch alle Schrecken des Russlandfeldzugs. Und dann 1813 wechselten sie wieder die Seiten und verfolgten – wie die Bayern – die abziehenden französischen Truppen.
Die Jahre 1813 und 1814 rücken besonders ins Bild, in denen Napoleon im Grunde eine Serie von Schlachten schlug, in denen er meist als Sieger vom Feld ging. Was ihm trotzdem nichts nutzte, weil sich die Alliierten nicht mehr einschüchtern ließen und auch dann wieder zu neuen Attacken ansetzten, wenn Napoleon glaubte, Europa wieder unter seiner Fuchtel zu haben. In Schlachten, die nichts an Brutalität verloren hatten.
Das wird selbst in den Schilderungen der Offiziere deutlich, die von Reitergefechten, rücksichtslosen Attacken und der Verteidigung von Dörfern und Anhöhen erzählen, in denen am Ende die Getöteten und Verwundeten dicht an dicht lagen. Man staunt eher, wie bereitwillig die Soldaten sich in diese riesigen Gemetzel fügten, in denen sie letztlich nur von Glück sagen konnten, wenn sie das Ganze am Ende lebendig überstanden.
Wobei die Stimmen der einfachen Soldaten rar sind, was schlicht daran liegt, dass es eher die Offiziere in höheren Rängen waren, die später ihre Erinnerungen aufschrieben. Die einfachen Soldaten waren auch im zivilen Leben selten in der Lage, sich hinzusetzen und ihre Kriegserinnerungen aufzuschreiben. Manchmal tauchten solche Erinnerungen später auf – anonym oft. Und gerade sie ergänzten die Offiziersperspektive dann um die vielen Details, die das Leben und Sterben der einfachen Soldaten erst greifbar machen, das Schicksal all der armen Hunde, die dann oft am Rand der Schlachtfelder in Massengräbern begraben wurden.
Wozu das Ganze
Und wofür das Ganze? Natürlich fragt man sich das. Auch aus der Perspektive des Nachgeborenen, der um Napoleons Ende auf Sankt Helena weiß. Was wollte dieser Mann eigentlich noch erreichen, nachdem er von den Alliierten aus Deutschland vertrieben wurde? Reinhard Münch erwähnt die beiden ernst zu nehmenden Friedensangebote, die 1813 erst von Metternich und dann Anfang 1814 beim Kongress von Châtillon gemacht wurden. Doch in beiden Fällen fühlte sich Napoleon noch immer so überlegen, dass er nicht bereit war, auf diese Angebote einzugehen.
Oder steckte er in der Klemme des „starken Mannes“, der selbst in der Niederlage keine Schwäche zeigen darf, weil damit seine ganze Macht infrage steht?
Auch das erinnert an die Gegenwart und einen Kriegsherrn im Kreml, der nach drei Jahren Krieg nicht daran denkt, aufzuhören und die Bedingungen für eine Kapitulation der Ukraine stellt. Man kann die Kriege Napoleons natürlich nicht 1:1 auf heutige Kriege münzen. Aber es gibt Abläufe in solchen Kriegen, die sich immer wieder ähneln. Und dazu gehört die Unfähigkeit „genialer Kriegsführer“, die Grenzen ihrer Macht einschätzen zu können und einen Krieg zu beenden, wenn das möglich ist.
Für Napoleon bedeutete es nach dem Kongress von Châtillon das Eilen von einem Pyrrhussieg zum nächsten, ohne dass er die Alliierten endgültig schwächen konnte. Bis sie ihn endgültig entmachteten und die Serie von Napoleons glorreichen Schlachten endlich beendeten. In einem Moment, der heute sprichwörtlich geworden ist für das Scheitern „genialer Strategen“: Waterloo.
Mit diesem Buch versammelt Münch erstmals in dieser Form die Stimmen der Soldaten aus allen wichtigen Schlachten Napoleons. Alle bilderreich aneinandergereiht. Sodass man als Leser Aufstieg und Fall Napoleons geradezu als Bilderreigen vor Augen hat. Freilich nicht nur mit den schönen Schlachtengemälden der Maler, sondern auch den manchmal kurzen, manchmal ausführlichen Schilderungen des harten und blutigen Soldatenalltags. Den man nie vergessen sollte, wenn man von den Kriegen der berühmten Feldherren erzählt.
Reinhard Münch „Die Schlachten Kaiser Napoleons. Fragmentarische Erinnerungen“, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2025, 29,90 Euro.
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