25 Bücher hat der Leipziger Autor Reinhard Münch herausgegeben allein zu jenen Truppen verschiedenster Länder, die in Napoleons Armee mitmarschieren mussten in Schlachten, die eigentlich nicht die ihren waren. Zumindest gilt das für die meisten dieser Truppen, die Napoleons „Verbündete“ stellen mussten. Auch die zwangsweise Verbündeten auf Zeit.

Denn auch Preußen und Österreicher kommen drin vor in dieser Reihe, obwohl sie fast die ganze Zeit die heftigsten Gegner des Franzosenkaisers waren. Bis zu den verheerenden Schlachten, in denen Napoleon ihre Armeen besiegte und sie seinem Diktat unterwarf. Bis zum Russlandfeldzug, für den sie widerwillig Truppen stellen mussten.

Die schiere Menge der Länder und Ländchen, die dem Kaiser der Franzosen ihre Truppen stellen mussten, erstaunt auch noch nach über 200 Jahren. Wie konnte ein einziges Land so den Großteil Europas unter seine Kuratel bringen? Und dann auch noch große Armeen schmieden, in denen die freiwilligen und die nicht so freiwilligen Bündnisgenossen auf Befehl funktionierten und sich in die Kämpfe warfen, als würden sie für sich selbst kämpfen?

Napoléons Reißbrett-Europa

Mit Münchs nun vorgelegtem Sammelwerk wird das etwas greifbarer. Denn hier hat er komprimiert, was er zuvor in 25 etwas schmaleren Einzelbänden aufgeschrieben und zusammengetragen hat, untersetzt mit den originalen Erinnerungen von Soldaten und Offizieren, die im Lauf der Zeit veröffentlicht wurden.

Sie geben ein farbenreiches Bild der Schlachten, Feldzüge, Siege und Niederlagen, erzählen von Glück und Heldenmut, vom Entsetzen in der Schlacht und den zuweilen abenteuerlichen Entwicklungen, die aus Gegnern über Nacht Verbündete machen konnte und umgekehrt.

Und natürlich wird auch Napoleons Konstrukt jenes Europas skizzenhaft deutlich, mit dem der Korse meinte, den Kontinent völlig neu organisieren zu können – man denke an das Königreich Westphalen, das Großherzogtum Berg oder die Königreiche Italien und Neapel.

Alles – bis auf das Königreich Italien – kurzlebige Gebilde, in denen Napoleon seine dynastischen Vorstellungen verwirklichte. Zeichen dafür, dass er mit beiden Stiefeln noch immer in den Vorstellungen des feudalen Zeitalters feststeckte und lauter Zwittergebilde schuf, in denen der Code Napoléon den Bürgern mehr Rechte zugestand, die Macht aber wieder ganz dynastisch organisiert war.

Und in denen vor allem die Untertanen als Verfügungsmasse behandelt wurden. Und auch so behandelt werden konnten, denn sie hörten ja nicht auf, Untertanen zu sein, wenn ihre alten Fürsten sich von Napoleon zu Königen, Herzögen oder Großherzögen erheben ließen.

Beim vormals sächsischen Kurfürsten führte das ja so weit, dass er nicht mal in dem Moment von Napoleons Seite wich, als die anderen Rheinbundstaaten längst abtrünnig geworden waren. Im Grunde ist die Geschichte all der „Verbündeten“ Napoleons auch eine Geschichte der männlichen Eitelkeiten. Und natürlich alter Machtpolitik, die sich dann auf dem Wiener Kongress noch einmal in voller Blüte zeigen sollte.

Zu winzig für eine eigene Armee

Reinhard Münch hat den Stoff der 25 Einzelbände komprimiert, sodass er sich im Wesentlichen auf die Geschichte des jeweiligen Ländchens und dessen Beteiligung an Napoleons Feldzügen beschränken kann. Dafür braucht er freilich ein paar mehr Kapitel, denn natürlich waren es viel mehr kleine und große Länder, die zeitweilig unter der Fuchtel Napoléons standen, als nur 25.

Er braucht schon 30 Kapitel, um die Menge überhaupt zu fassen. Und da sind noch immer etliche Kleinstfürstentümer zusammengefasst. So wie die Lippeschen Fürstentümer, die Herzogtümer Anhalt oder die Wettinischen Herzogtümer in Thüringen – die sogenannten Bindestrich-Sachsen.

Was natürlich auch eine der Ursache sichtbar macht dafür, warum Napoléon so schalten und walten konnte, wie er es tat. Denn während Frankreich längst eine zentral regierte Nation war, war Deutschland ein Flickenteppich kleiner und kleinster Fürstentümer. Jedes für sich viel zu klein, um der systematisch ausgehobenen französischen Armee Paroli bieten zu können.

Viele auch so winzig, dass sie überhaupt kein Heer unterhielten – so wie die Schwarzburger und Reußen, die aber trotzdem nach Bevölkerungszahl Soldaten stellen mussten für Napoleons Armee. Ausstatten natürlich auch. Da mussten sich schon sieben winzige Fürstentümer zusammentun, um überhaupt ein Regiment zusammenzubekommen.

Aber auch Spanier und Portugiesen ließ Napoleon für sich marschieren, obwohl sie sich heftig wehrten gegen den Usurpator aus dem Norden.

Die heutigen Niederlande, Belgien und große Teile Norddeutschlands hatte Napoléon gleich mal Frankreich einverleibt, genauso wie die eroberten linksrheinischen Gebiete.

Die Geburtsstunde des Nationalismus

Eine große Karte im Buch macht dieses napoleonische Europa sichtbar, in dem Frankreich geradezu riesig wirkt gegen das winzige Flickenteppichdeutschland, das sich noch jahrzehntelang schwertun sollte mit dem Finden einer eigenen Identität und gemeinsamen Staatlichkeit.

Die Napoléonische Kriegszeit macht sehr deutlich, warum der moderne Nationalismus ein so zwiespältiges Wesen hat und in allen betroffenen Ländern zwischen geistigem Provinzialismus und heroischer Anmaßung changiert. Selten ruht er in sich selbst und fühlt sich unbedroht.

Was natürlich Gründe im wechselseitigen Nationalismus hat. Denn wer die Grandiosität seiner Nation nur aus der Verachtung für die anderen Nationen gewinnen kann, der wird sich immerfort bedroht sehen und ist nur zu leicht für neue Schlachten zu begeistern.

Mit den Polen kommt natürlich auch eine Nation ins Bild, die tatsächlich jahrhundertelang gegen die Übergriffigkeit ihrer Nachbarn kämpfen musste und die mit Napoléon hoffte, die eigene Staatlichkeit zurückgewinnen zu können.

Weshalb die Polen in der ganzen Napoléonzeit eines der größten Kontingente in der französischen Armee stellten und von Napoleon sogar nach Haiti expediert wurden, um dort den Aufstand der Sklaven niederzuschlagen. Zu Tausenden starben sie dort – niedergemetzelt oder vom Fieber dahingerafft.

Man begegnet den niederländischen Pontonnieren wieder, die den Resten der Großen Armee den Übergang über die Beresina retteten. Man begegnet den Schweizern, Dänen und Iren, die an den unterschiedlichsten Kriegsschauplätzen eingesetzt wurden.

Und natürlich auch den Soldaten aus den linksrheinischen Gebieten – zu denen ja u. a. Koblenz, Trier, Aachen und Mainz gehörten. Wie verkleidet und kostümiert muss sich da ein solcher Soldat gefühlt haben, wenn er in französischer Uniform nach Bayern, Österreich oder gar ins ferne Russland marschieren musste?

Paradepracht und das Entsetzen der Schlacht

Die Augenzeugenberichte changieren von blendendem Glanz, wenn Napoléon seine Truppen inspizierte, bis zum blankem Entsetzen, wenn der Blick übers Schlachtfeld schweifte. „In zerrissenen Kleidern, ohne Schuhe an den Füßen und voll Ungeziefer erschien ich in meiner Vaterstadt Mayen“, schrieb der Chasseur Franz Hartung, der sich vom „Anblick der prächtigen Truppen“ bei einer Parade in Köln blenden ließ und in die Armee eintrat.

Natürlich fand so mancher arme Kerl auf diese Weise sogar ein Einkommen, ordentliche Kleidung und Verpflegung und Anerkennung, die es im zivilen Leben oft nicht gab. So kaufen Feldherren ja heute noch ihr Kanonenfutter zusammen. Die Pracht der Paraden in polierter Montur funktioniert noch heute.

Eigentlich wollte Reinhard Münch dieses wirklich opulente und wieder reich mit Bildern ausgestattete Buch nur für die absoluten Liebhaber des Themas Napoléonische Kriege drucken lasen. Quasi als Freundesgabe. Aber dann stellte sich schnell heraus, dass eine allzu kleine Auflage gar nicht ausreichte.

So viele Kenner der Materie bestellten vor. Also wurde die Auflage größer und ist jetzt auch für viele andere erreichbar, die nach dem letztlich viel zu knappen Geschichtsunterricht in der Schule wirklich wissen wollen, woraus Napoléons riesige Armee tatsächlich zusammengesetzt war, wer da freiwillig oder notgedrungen mitfocht und wie Napoleons selbstherrliche Idee eines nach seinen Vorstellungen gebauten Europas blutig in die Binsen ging und aus „Verbündeten“ wieder Gegner wurden.

Gegner, die – wie die Preußen und Österreicher – gelernt hatten, wie man diesem Hasardeur unter den Schlachtenlenkern beikommt und ihn mit seiner eigenen Taktik schlägt. Es steckt ja auch im Keim die Entstehung der modernen Kriegsführung in diesem Buch, das man in kommenden langen Nächten voller Genuss durchblättern kann.

Oder auch mit einem flauen Gefühl im Bauch, weil die Hasardeure der Macht mit Napoléon ja eben nicht ausgestorben sind, sondern nur zu gern wieder neue Kriege anfangen, weil sie sich in ihrem Kopf eine andere Weltordnung denken als die friedlichen Nachbarn.

Dr. Reinhard Münch Unter den Fahnen Napoléons Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2022, 80 Euro.

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