Wer schreibt eigentlich Geschichte? Wer schreibt die richtige Geschichte? Und wer bestimmt, welches die richtige Geschichte ist? Eine Frage, die auch über Reinhard Münchs Spurensuche zu den Beteiligten der Napoleonischen Kriege steht. Denn seine Quellen sind vor allem der veröffentlichten Erinnerungen der beteiligten Soldaten.

Das ist auch bei seinem Buch über die französischen Soldaten und Offiziere nicht anders, die in den verschiedenen Armeen Napoleons dienten. Einige dienten sich in den Koalitionskriegen hoch vom einfachen Soldaten bis zum hohen Offiziersrang.

Andere begleiteten Napoleon schon früh in höchsten Positionen. Mit MacDonald und Marmont kommen auch zwei Marschälle zu Wort und mit Calaincourt sein Gesandter am Hof von St. Petersburg. Was schon einmal einen Aspekt thematisiert, den Münch so gar nicht vorausdenken konnte: Wie die Russen damals ihren Krieg gegen Napoleon führten.

Was sich ja besonders im Russlandfeldzug bündelt, zu dem Münch vier Zeitzeugen zu Wort kommen lässt, unter ihnen auch Jean-Roch Coignet, der als Soldat und Unteroffizier in der Kaisergarde diente und 34 Schlachten in 16 Feldzügen mitmachte. Seine Erinnerungen verfasste er 1848, also schon erheblich vor der „Histoire d’un conscrit de 1813“, die 1864 Emile Erckmann und Alexandre Chatrian erst 1864 veröffentlichten.

Die Angst der Diktatoren vor der Freiheit

Womit wir direkt bei der Frage wären: Wer schreibt Geschichte? Denn Erckmann-Chatrian schrieben ihre „romans nationaux“ ja aus gutem Grund. Sie sahen es als nicht mehr akzeptabel an, dass seinerzeit berühmte Autoren die Geschichte immer nur dazu nutzten, um sie als Steinbruch für ihre Abenteuerromane zu verwenden.

Von den realen historischen Ereignissen blieb dann nicht viel übrig, auch wenn man etwa die Romane Alexandre Dumas’ bis heute mit Begeisterung lesen kann. Man darf sie nur nicht für bare Münze nehmen und die handelnden Könige, Grafen und Musketiere nicht für Abbilder der einst real existierenden Personen.

Und das französische Publikum hatte ein halbes Jahrhundert nach Napoleons Abdankung auch die Nase voll von geschönten Memoiren. Erckmann-Chatrian trafen den Nerv der Zeit und ihre direkt aus den Erinnerungen der noch lebenden Zeitzeugen geschöpften Romane wurden zu Bestsellern. Und zum Ärgernis für Kaiser Napoleon III., der die beiden Quälgeister zum Schweigen zu bringen versuchte.

Denn wer so wie sie den Geist der Napoleonischen Ära versuchte einzufangen, der setzte dem dritten Napoleon ein Bild entgegen, dem er nicht genügen konnte.

Mal ganz zu schweigen von einem Aspekt, der einem mit Blick auf den heutigen Präsidenten Russlands sehr vertraut vorkommt, wenn es im Wikipedia-Artikel zu Napoleon III. etwa heißt: „Bedingt durch den plebiszitären Charakter seiner Herrschaft war der Kaiser praktisch gezwungen, immer neue Erfolge vorzuweisen, um sich die Gunst der Massen zu erhalten. Dies führte zu einer relativ expansiven Außenpolitik, die auch das Ziel der territorialen Vergrößerung Frankreichs auf Kosten seiner Nachbarstaaten verfolgte.“

Wie Militärs auf Ruhm und Belohnung schauen

Denn Diktaturen funktionieren allesamt nach denselben Prinzipien. Wobei Onkel Napoleon I. noch ein anderes Plus auf seiner Seite hatte: Er zehrte vom Erbe der Französischen Revolution. Auch seine Kriege nach der Selbstkrönung zum Kaiser 1804 zählten noch zu den Koalitionskriegen, die deshalb so hießen, weil eine Koalition der alten Feudalmächte seit den 1790er Jahren versuchte, das revolutionäre Frankreich zu besiegen und die Bourbonen wieder einzusetzen.

Nur dass Napoleon die alten Koalitionäre nun auf ihrem eigenen Territorium angriff, besiegte und die Länder besetzte und daranging, ein Europa nach seinen Vorstellungen zu bauen.

Stets dabei die alten Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und eben auch Offiziere und Soldaten, die diese Ideale verinnerlicht hatten und eben auch wussten, dass man in Napoleons Armeen nicht wegen seiner Geburt, sondern wegen seiner Fähigkeiten befördert werden konnte.

Und auf einmal ist man in einer anderen Welt. Auch das vergisst man ja in der heutigen Kriegsberichterstattung oft: Dass auch Armeen und ihr Personal in völlig verschiedenen Welten leben.

Erst recht, wenn die eine Armee von einem Autokraten ausgesandt wurde, der alle Mittel zur Zensur und Propaganda zur Verfügung hat, die den erklärten Feind dämonisieren und den Soldaten das Gefühl geben, für die „richtige Sache“ zu kämpfen.

So war das auch in den Napoleonischen Kriegen von 1805 (Austerlitz) bis 1815 (Waterloo), die Münch hier in einzelnen Kapiteln streift und mit den Augenzeugenberichten seiner Zeitzeugen einzelne Szenen lebendig werden lässt.

Nur darf man auch nicht vergessen, dass gerade die hochrangigen Offiziere, die hier zu Wort kommen, ihrem Oberbefehlshaber besonders ergeben waren und in der Schlacht auch den Weg suchten, mit Erfolgen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und dafür belohnt oder befördert zu werden.

Der Glanz der Freiheit

Etliche der napoleonischen Generäle fühlten sich so auch in besonderer Weise vom Kaiser geehrt und damit verbunden. Manche so sehr, dass sie auch 1815 wieder mitmachten, als Napoleon noch einmal zurückkehren konnte, da die Bourbonen es tatsächlich geschafft hatten, binnen weniger Monate den Unmut des französischen Volkes gegen sich zu schüren, weil sie das Land mit allen Mitteln zurückverfrachten wollten in die alte feudale Dunkelheit.

Weshalb in vielen Memoiren der einst napoleonischen Soldaten Worte wie Freiheit eine ganz zentrale Rolle spielen. Und auch Münchs Sympathien für Napoleon durchscheinen, der ja in gewisser Weise auch für das modernere Europa stand. Wie wäre Europa geworden, hätte Napoleon nicht ab 1812 alle wichtigen Schlachten verloren?

Wir wissen es nicht. Möglicherweise wäre es nicht viel anders geworden. Denn auch auf der Seite seiner Gegner wurde etwas geweckt, was es so zuvor als Triebkraft der Geschichte nicht gegeben hatte – ein Nationalismus, der zwar Jahre später alle seine Schattenseiten zeigen sollte. Der aber auch Ideen wie Freiheit und Souveränität mit sich trug.

Dass gerade Napoleons Veteranen ihre Kriegszüge dann recht heroisch und euphorisch beschrieben, hat genau damit zu tun: dass Napoleon auch in Frankreich als Gegenentwurf zum Ancien Régime und zu jeder Form der Wiederherstellung feudaler Zustände stand.

Goethe vor Valmy

Und man darf auch nicht übersehen, dass im Grunde alle zehn Augenzeugen, die Reinhard Münch zu Wort kommen lässt, aus einer späten Rückschau schrieben, als die Namen der Napoleonischen Schlachten längst zu historischen Marksteinen geworden waren.

Marksteine, die auch einen gewaltigen Heroismus ausstrahlten, der heftig mit der geradezu kleinbürgerlichen Stimmung im Frankreich zur Mitte des 19. Jahrhunderts kontrastierte. Die Geschichte loderte und glühte. Und sie hatte scheinbar einen Sinn und Eindeutigkeiten, die das unruhige Frankreich unter Napoleon III. nicht mehr hatte.

Und so steht tatsächlich die Frage: Wer schreibt Geschichte? Geht es tatsächlich um Goethes im I. Koalitionskrieg bei der Kanonade vom Valmy geäußerten Satz: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“?

Ein Satz, den einem ja Geschichtslehrer bis heute vorhalten. Als hätte ausgerechnet 1792 bei Valmy eine neue Epoche begonnen und nicht ein Zeitalter der Kriege, in denen die alten feudalen Mächte versuchten, diesen Revolutionsfunken in Frankreich auszutreten.

Was ihnen nicht gelang, auch wenn sie am Ende Napoleon besiegten. Armeen und ihre Befehlshaber kann man besiegen. Aber nicht die Ideen in den Köpfen der Menschen. Da verwandeln sich auch blutige Schlachten zuweilen in Erinnerungen, an denen sich eine neue Epoche (die ja dann 1815 begann) messen lassen musste.

Was man in den zitierten Erinnerungen nicht findet, ist eine Beschäftigung mit dem Leben und Fühlen der vermeintlichen Gegner. Das ist das Problem aller Militärs, dass sie ihr Handeln immer nur im engen Rahmen militärischen Agierens sehen, ihren Mut und ihre Kühnheit preisen – was aber eben nur die können, die überlebt haben.

Und so findet man einige dieser heroischen Momente des „Dabeigewesenseins“ – in Austerlitz, Jena, Wagram, Leipzig, in Borodino und an der Bersina, in Österreich und in Spanien. Wobei ja gerade Spanien dafür steht, dass Napoleon das Land und seine Bevölkerung völlig falsch eingeschätzt hatte.

Genauso, wie es ihm mit Russland ging samt dem russischen Kaiser, den er auf der Memel zu einem Friedensvertrag nötigte, der am Ende keinen Frieden brachte und die Russen schon gar nicht zu Alliierten des französischen Kaisers machte.

Die scheinbare Simplizität von Kriegen

Man schlüpft mit den Augenzeugen immer wieder in ihre Rolle in den diversen Schlachten, Rückzügen und Niederlagen. Aber man merkt auch, wie klein die Welt wird, wenn man sie nur noch als Militär betrachtet, egal, ob als Soldat, der verblüfft feststellt, dass er den Ausgang der Schlacht verpasst hat, oder als draufgängerischer General, der seiner Truppe voranreitet und am Ende mit der siebenten Verwundung im Lazarett landet.

Vielleicht faszinieren Kriege deshalb manche Leute so – weil alles so einfach erscheint und scheinbar allein Taktik, Kühnheit und die bessere Strategie darüber entscheiden, wer am Ende als Sieger auf dem Feld bleibt. Aber genau das gelang Napoleon nach dem Russlandfeldzug immer seltener. Die Gegner hatten gelernt und die Völker Europas hatten die Nase voll von all den Kriegen.

Im Grunde tobt das Ringen um die Deutung seiner Zeit bis heute. War er ein Fortschritt für Europa? Wofür stand er tatsächlich? Oder verwechseln da auch die Historiker ihre Sehnsucht nach einer heldenhaften Geschichte mit der Wirklichkeit oder gar einer Logik in der Geschichte? Und übersehen dabei, wie zwiegesichtig auch das Neue in der Geschichte oft ist und wie uneindeutig ihre „Helden“?

Für alle, die die napoleonische Seite dieser Zeit noch nicht näher kennenlernen konnten, ist die kleine Sammlung ein Angebot, wenigstens ein Stück weit in das Denken der Männer einzutauchen, die in Napoleons Armee bedingungslos kämpften und dabei nichts anderes im Sinn hatten, als sich in den Augen ihres Kaisers aufs Beste zu bewähren.

Reinhard Münch Als die Franzosen für ihren Kaiser Napoleon fochten Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2022, 11,40 Euro.

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