Wie passiert eigentlich Geschichte? Oder: Bekommt der kleine, zum Kriegsdienst ausgehobene Soldat überhaupt mit, wie Geschichte „gemacht wird“? Das sind so Fragen, die auch bei Lesen von Reinhard Münchs neuem Buch zu den Soldaten in den Truppen auftaucht, mit denen Napoleon im Jahr 1809 den Versuch Österreichs niederschlug, wieder eine Rolle in der europäischen Politik spielen zu wollen.

Denn seit die Spanier gegen Napoleons Besetzung rebellierten und ganze Armeeverbände banden, sah Kaiser Franz die Gelegenheit, die Scharte von Austerlitz auszuwetzen und die Herrschaft Napoleons zu brechen. Doch gerade das Jahr 1809 zeigte, wie das Napoleonische Bündnissystem funktionierte. Und dass es einfach noch zu früh war, den Kaiser herauszufordern.Kriege werden in den Köpfen der Menschen gewonnen oder verloren. Das hat schon viele Feldherren in die Niederlage geführt. Ab 1812 sollte das auch Napoleon erleben. Aber so weit war es noch nicht. Auch weil Napoleon von einem Effekt profitierte, den auch Historiker nur zu gern vernachlässigen: dem vormodernen Denken in dem in lauter kleine Fürsten- und Königtümer zersplitterten Deutschland. Der moderne Nationalismus sollte ja erst genau in diesen antinapoleonischen Kriegen geboren werden – in all seinen Verrenkungen und Steifheiten mit ihren fatalen Folgen.

Aber die Soldaten all dieser Schlachten bis 1813 zogen nicht für ihre „Heimat“ oder ihr „Vaterland“ in den Krieg. So einen Moment gab es frühestens 1813, als der Landsturm aus der Taufe gehoben wurde. Und wer es nicht glaubt, mag ruhig wieder den Google-Ngram-Viewer aufrufen: Das ach so großväterliche Vaterland erlebte erst nach all den antinapoleonischen Schlachten und Kriegen seine Blüte, weil jetzt lauter nationalistisch gesinnte „Dichter und Denker“ davon schwadronierten.

Wenn man genau hinschaut, beginnt dieser Aufschwung des nationalen Geistes sogar erst nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819. Da die „befreiten“ Völker keine Verfassungen bekamen, blieb ihnen nur der Traum von einem künftigen einigen Vaterland.

Die Furore des Wortes "Vaterland". Grafik: Google Ngram Viewer
Die Furore des Wortes „Vaterland“. Grafik: Google Ngram Viewer

Aber die Erkenntnis musste erst reifen, dass all die kleinen deutschen Fürstentümer schlicht keine Rolle spielten in einem sich abzeichnenden Europa der Nationen.

Und auch die Berichte, die Reinhard Münch hier zu den diversen Schlachten und Metzeleien des Jahres 1809 gesammelt hat, deuten nicht darauf hin, dass die hier zu Wort kommenden Soldaten für irgendeine Sache kämpften, für eine größere Idee oder auch nur ihr kleines Entsender-Fürstentum.

Die Herzöge, Fürsten und Könige entsandten halt so viel Mann, wie Napoleon bei ihnen bestellte, kleideten sie ein, versorgten sie mit Fourage. Und vor Ort hatten die Verbände einfach zu funktionieren und Mut und Tapferkeit zu beweisen. Manche Offiziere bekamen dafür auch den Orden der Ehrenlegion. Andere waren froh, wenn sie hinterher neue Uniformen und anderthalb Liter Wein zur Verpflegung bekamen.

Oder einfach nur überlebten, während neben ihnen die Kameraden zu Hunderten in Massengräber geworfen wurden. Denn auch die Schlachten, die Münch hier ins Bild rückt, waren blutig. Und aufopferungsvoll hieß für die Beteiligten in der Regel, möglichst ohne Angst auszuhalten, mitten im Gewehr- und Kanonenfeuer zu stehen und nicht davonzulaufen. Der bayerische Infanterist Josef Deifl etwa erzählt, wie er in den ersten Gefechten lernte, regelrecht abgebrüht zu werden.

Man bekommt eine Ahnung davon, was Krieg aus jungen Männern macht, die eigentlich nirgendwohin flüchten können, die eigentlich nur tapfer sein können und kämpfen, so gut sie können. Und die jungen Männer in den bunten Uniformen auf der anderen Seite niederzumachen, wenn das große „Allez!“ kommt. Denn am Ende überlebt nur, wer die anderen niedermacht.

Endlich mal raus aus Lippe, Nassau oder Anhalt

Und so bekommt man auch ein Gefühl dafür, wie Uniformen wirken und die Armeen zu Napoleons Zeiten den zum Dienst befohlenen Männern das Gefühl gaben, zu etwas Wichtigerem dazuzugehören. Etwas Größerem als dem kleinen Herzogtum Hessen-Darmstadt etwa, dem Fürstentum Lippe oder dem Herzogtum Nassau. Schon indem Münch all diese kleinen Fürstentümer in einzelne Kapitel sortiert, wird deutlich, was für ein Flickenteppich Deutschland damals war und wie winzig die ganzen Rheinbundfürsten neben diesem scheinbar alles überstrahlenden Napoleon.

Und wie winzig demnach auch die Interessen dieser Fürsten, denen irgendeine nationale Idee völlig fremd war und die nicht zögerten, Napoleon die Truppenverbände zu stellen, mit denen er seine Armee auffüllte.

Und so waren auch die Bayern dabei und die Sachsen sowieso, die ja 1806 zusammen mit den Preußen gegen Napoleon verloren hatten und nun beweisen wollten, dass sie keine Feiglinge waren. Mit dem Ergebnis, dass auf dem Schlachtfeld von Wagram zwei Denkmäler an die beteiligten Sachsen erinnern, die hier einen hohen Blutzoll zahlten und danach mächtig stolz darauf waren, dass ihr vorgesetzter Marschall Bernadotte ihren Mut so kräftig lobte. Die Denkmäler freilich würdigen ihren Einsatz eher nur beiläufig. Sie gehörten ja aus österreichischer Sicht zu den Gegnern.

Und vorerst mal wieder zu den Siegern, denn nachdem die französischen Truppen die Truppen Erzherzog Karls bei Wagram geschlagen hatten, musste Österreich den Frieden von Schönbrunn unterzeichnen. Österreich war mal wieder für drei Jahre ruhiggestellt. Nur die Tiroler rebellierten noch und brachten den von Napoleon ausgesandten Truppen heftige Verluste bei, bevor der Aufstand niedergeschlagen wurde.

Hier thematisiert Münch natürlich auch die berühmte Sachsenklemme auf der schmalen Straße über den Brenner, wo vor allem die Truppen aus Sachsen-Weimar-Eisenach einen hohen Blutzoll zahlen mussten. Nach ihnen ist der Ort benannt, nicht nach den eigentlichen Sachsen, die ja in Wagram schon tapfer sein mussten.

Zahlen entscheiden Kriege

Münch macht mit seinem Büchlein eigentlich sehr deutlich, wie sehr Napoleon spätestens mit den Aufständen in Spanien darauf angewiesen war, seine Truppen mit Soldaten aus den besetzten deutschen Ländern aufzufüllen und die jungen Männer aus all den bunten kleinen Fürstentümern so auf den großen Schlachtfeldern Napoleons auftauchten und zu Tausenden starben.

Den beiden großen Schlachten des Jahres bei Aspern und Wagram gingen ja schon etliche etwas kleinere Gemetzel voraus – die Schlachten bei Regensburg und Eggmühl sind dabei die bekannteren. Alles Ereignisse, in denen das Schlachtfeld der Ort für ein politisches Kräftemessen war. Wer war in der Lage, die meisten Soldaten aufzubringen und auf dem Feld des Schlachtens den Vorteil auszuschießen, der über Sieg und Niederlage entschied? Wer war danach noch handlungsfähig, wer musste das Schlachtfeld räumen und klein beigeben?

In all den kurz angerissenen Erinnerungen wird auch deutlich, wie selbstverständlich diese eigentlich mittelalterliche Art, Politik zu machen, von den Beteiligten gesehen wurde. Eine Kritik am Krieg selbst, wie sie 100 Jahre später viel lauter werden würde, ist nicht zu sehen. Vielleicht auch deshalb nicht, weil es nun einmal Überlebende waren, die ihre Erinnerungen oft erst Jahre später aufschrieben, als die Ereignisse längst zur aufregendsten Erinnerung in ihrem Leben geworden waren.

Die Toten selbst haben ja keine Stimme und werden auch nicht gefragt. Und die, die wie der sächsische Feldjäger Karl Friedrich Wening vom Schlachtfeld von Wagram berichteten, finden meist keine Worte, um den tatsächlichen Schrecken der Schlacht zu beschreiben: „Das Bataillon hat ungeheuer gelitten. Es muß eine mörderische Bataille gewesen sein. Den 4. Abends gings an und wurde den 6. Abends erst gewonnen, wobei die Sachsen unendlich gelitten haben.“ Man liest den Ton der militärischen Tagesberichte heraus – aber auch die ganze Unmöglichkeit, das Erlebte wirklich beim Namen zu nennen.

Wobei einige Truppenteile durchaus Glück hatten und nicht – wie die Sachsen – an den brenzligsten Stellen eingesetzt wurden. Und dort eingesetzt wurden sie ja in der Regel, weil sie in den Augen des Großen Feldherrn schlicht die Tapfersten waren. Napoleon mischte sich ja bei einer Musterung der Truppen einfach ohne große Begleitung unter diese so tapferen sächsischen Soldaten. Und aus den Berichten liest man den Stolz darauf, Napoleon einmal so nahe gewesen zu sein.

Was einem doch wieder vertraut vorkommt. Da bekommt so ein kleines Würstchen ein klein wenig Glanz der großen Macht ab, fühlt sich auf einmal im Mittelpunkt einer ganz großen Geschichte. Genau aus dem Stoff werden Kriege gemacht. Und genau deshalb ist es so schwer, das alte Machtdenken aus den Köpfen der Menschen zu bekommen. Wenn nur ein kleiner Napoleon am Horizont auftaucht, stehen sie stramm und sind stolz bis in die Nasenspitze.

Aber eigentlich möchte man eher mal nach Wagram fahren und einen Kranz zum Gedenken an diese armen Tapferen aufs Schlachtfeld legen. Oder ans Denkmal. Und sich wenigstens so daran erinnern, dass die ganze große Geschichte nicht funktioniert ohne die vielen kleinen Tapferen, die immer so stolz sind, wenn sie mal „der Atem der Geschichte“ anweht.

Dr. Reinhard Münch 1809 – Mit Napoleon in Österreich, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2021, 10 Euro.

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