Die Ausbreitung der Slawen gehÃķrt zu den prÃĪgendsten, aber auch zu den am wenigsten verstandenen Ereignissen der europÃĪischen Geschichte. Ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. tauchten slawische Gruppen erstmals in den schriftlichen Aufzeichnungen byzantinischer und westlicher Quellen auf. Sie besiedelten Gebiete von der Ostsee bis zum Balkan und von der Elbe bis zur Wolga. Im Vergleich zu den berÞhmten Wanderungen germanischer StÃĪmme wie der Goten oder Langobarden oder den legendÃĪren Eroberungen der Hunnen stellte die Geschichte der Slawen Historiker des europÃĪischen Mittelalters lange Zeit vor ein RÃĪtsel.

Dies liegt unter anderem daran, dass frÞhe slawische BevÃķlkerungsgruppen den ArchÃĪologen nur wenig Fundmaterial hinterlassen haben. Sie praktizierten Feuerbestattung, bauten einfache HÃĪuser und stellten schlichte, unverzierte TÃķpferwaren her. Am bedeutendsten ist jedoch, dass sie mehrere Jahrhunderte lang keine eigenen schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen haben.

Infolgedessen ist der Begriff „Slawen“ selbst nicht eindeutig. Er wurde manchmal von außen aufgezwungen und ist oft in spÃĪteren nationalistischen oder ideologischen Debatten missbraucht worden. Woher kamen diese Menschen und wie haben sie die kulturelle und sprachliche Landkarte Europas so grundlegend verÃĪndert?

Historiker diskutieren seit Langem, ob die Verbreitung der slawischen Kultur und Sprache durch eine große Migration von Menschen, eine allmÃĪhliche „Slawisierung“ der lokalen BevÃķlkerung oder eine Kombination aus beidem vorangetrieben wurde. Die Beweislage war jedoch dÞrftig, insbesondere in den entscheidenden frÞhen Jahrhunderten: Die Feuerbestattung machte DNA-Untersuchungen nahezu unmÃķglich und archÃĪologische Spuren waren nur spÃĪrlich vorhanden.

Wie die Slawen Europa verÃĪnderten

Ein internationales Team von Forscher/-innen aus Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien und Kroatien hat unter der Leitung des HistoGenes-Konsortiums in enger Kooperation mit dem Landesamt fÞr Denkmalpflege und ArchÃĪologie Sachsen-Anhalt die erste umfassende Untersuchung alter DNA mittelalterlicher slawischer BevÃķlkerungsgruppen durchgefÞhrt und nun Antworten geliefert.

Die Sequenzierung von Þber 550 alten Genomen hat ergeben, dass der Aufstieg der Slawen im Wesentlichen eine Geschichte von Menschen auf der Wanderung war. Ihre genetischen Signaturen deuten auf einen Ursprung in der Region hin, die sich vom sÞdlichen Weißrussland bis in die zentrale Ukraine erstreckt. Dieses Gebiet deckt sich zudem mit zahlreichen sprachwissenschaftlichen und archÃĪologischen Rekonstruktionen.

„WÃĪhrend direkte Belege aus den frÞhen slawischen Kerngebieten rar sind, liefern unsere genetischen Ergebnisse erste konkrete Hinweise auf die Entstehung der slawischen Abstammung. Sie deuten auf einen Ursprung irgendwo zwischen den FlÞssen Dnister und Don hin“, sagt Joscha Gretzinger, Genetiker am Max-Planck-Institut fÞr evolutionÃĪre Anthropologie in Leipzig und Erstautor der Studie.

Die Daten zeigen, dass umfangreiche Migrationsbewegungen ab dem 6. Jahrhundert n. Chr. Menschen osteuropÃĪischer Abstammung Þber weite Teile Mittel- und Osteuropas verbreiteten. Dadurch verÃĪnderte sich die genetische Zusammensetzung der BevÃķlkerung in Regionen wie Ostdeutschland und Polen fast vollstÃĪndig.

Diese Expansion folgte jedoch nicht dem Modell von Eroberung und Imperium: Anstelle plÞndernder Armeen und starrer Hierarchien bauten die Migranten ihre neuen Gesellschaften auf flexiblen Gemeinschaften auf, die oft um Großfamilien und patrilineare Verwandtschaftsbeziehungen organisiert waren. Außerdem handelte es sich nicht um ein einheitliches Modell, das in allen Regionen gleich war.

In Ostdeutschland war der Wandel besonders tiefgreifend: Große, mehrere Generationen umfassende StammbÃĪume wurden zum RÞckgrat der Gesellschaft. Die Verwandtschaftsnetzwerke waren umfangreicher und strukturierter als die kleinen Kernfamilien der vorangegangenen VÃķlkerwanderungszeit. Im Gegensatz dazu fÞhrte die Ankunft osteuropÃĪischer Gruppen in Gebieten wie Kroatien zu weitaus geringeren BrÞchen in den bestehenden sozialen Strukturen.

Hier behielt die soziale Organisation oft viele Merkmale frÞherer Epochen bei, sodass es zu Gemeinschaften kam, in denen neue und alte Traditionen miteinander verschmolzen oder nebeneinander fortbestanden. Diese regionale Vielfalt in der sozialen Struktur zeigt, dass die Ausbreitung slawischer Gruppen kein einheitlicher Prozess war, sondern eine dynamische Transformation, die sich an lokale Kontexte und Geschichten anpasste.

„Die slawische Expansion war kein einheitliches Ereignis, bei dem ein einzelnes Volk als Ganzes wanderte, sondern ein Mosaik verschiedener Gruppen, von denen sich jede auf ihre eigene Weise anpasste und integrierte – was darauf hindeutet, dass es nie nur eine ‚slawische‘ IdentitÃĪt gab, sondern viele“, erklÃĪrt Zuzana HofmanovÃĄ vom Max-Planck-Institut fÞr evolutionÃĪre Anthropologie und der Masaryk-UniversitÃĪt in Brno, Tschechien, eine der leitenden Autorinnen der Studie.

Bemerkenswert ist, dass die genetischen Aufzeichnungen keine signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede bei diesen Migrationen zeigen. Ganze Familien zogen gemeinsam um und sowohl MÃĪnner als auch Frauen trugen gleichermaßen zu den entstehenden Gesellschaften bei. Weitere Daten werden in den kommenden Jahren zeigen, wie sich jede Gemeinschaft als Reaktion auf die Migration und ihre eigene lokale Geschichte angepasst, integriert oder neu erfunden hat.

UngestÃķrte Bestattung einer erwachsenen Frau mit genetischen Markern einer lokalen Herkunft. Beigaben: Glasperlenschmuck und Kauri-Amulett. GrÃĪberfeld BrÞcken, Befund 13913:29. Foto: Landesamt fÞr Denkmalpflege und ArchÃĪologie Sachsen-Anhalt
UngestÃķrte Bestattung einer erwachsenen Frau mit genetischen Markern einer lokalen Herkunft. Beigaben: Glasperlenschmuck und Kauri-Amulett. GrÃĪberfeld BrÞcken, Befund 13913:29. Foto: Landesamt fÞr Denkmalpflege und ArchÃĪologie Sachsen-Anhalt

Ostdeutschland im Fokus

Insbesondere in Ostdeutschland lassen die genetischen Daten eine deutliche Entwicklung erkennen. Nach dem Niedergang des ThÞringer KÃķnigreichs sind mehr als 85 Prozent der Vorfahren in dieser Region auf NeuankÃķmmlinge aus dem Osten zurÞckzufÞhren. Dies stellt eine VerÃĪnderung gegenÞber der vorangegangenen VÃķlkerwanderungszeit dar, in der die BevÃķlkerung sehr kosmopolitisch war.

Am besten lÃĪsst sich dies anhand der FundstÃĪtte BrÞcken in Sachsen-Anhalt erkennen. Bei dem Fundort handelt es sich um einen spÃĪtantiken Friedhof, dessen Bestattete Vorfahren aus Nord-, Mittel- und SÞdeuropa aufweisen. Mit der Ausbreitung der Slawen wich diese Vielfalt einem BevÃķlkerungsprofil, das nahezu identisch mit heutigen slawischsprachigen Gruppen in Osteuropa ist. ArchÃĪologische Funde aus weiteren, zeitgleichen FriedhÃķfen bestÃĪtigen, dass sich diese neuen Gemeinschaften um Großfamilien und patrilineare Abstammungslinien organisierten.

Frauen im heiratsfÃĪhigen Alter verließen in der Regel ihre HeimatdÃķrfer, um sich anderswo neuen Haushalten anzuschließen. Bemerkenswert ist, dass das genetische Erbe dieser frÞhen osteuropÃĪischen Siedler/-innen bis heute bei den Sorben, einer slawischsprachigen Minderheit in Ostdeutschland, erhalten geblieben ist. Trotz jahrhundertelanger kultureller und sprachlicher VerÃĪnderungen in ihrer Umgebung haben die Sorben ein genetisches Profil bewahrt, das eng mit den frÞhmittelalterlichen slawischen BevÃķlkerungsgruppen verwandt ist, die sich vor mehr als 1.000 Jahren in dieser Region niedergelassen haben.

Polen im Fokus

Insbesondere fÞr Polen widerlegen die Forschungsergebnisse frÞhere Annahmen Þber eine lange BevÃķlkerungskontinuitÃĪt. Genetische Untersuchungen zeigen, dass die frÞheren Bewohner der Region – Nachkommen von BevÃķlkerungsgruppen mit starken Verbindungen nach Nordeuropa und insbesondere Skandinavien – ab dem 6. und 7. Jahrhundert n. Chr. fast vollstÃĪndig verschwanden und die verlassenen Gebiete anschließend nach und nach durch NeuankÃķmmlinge aus dem Osten wiederbesiedelt wurden. Diese sind eng mit den heutigen Polen, Ukrainern und Weißrussen verwandt.

Diese Schlussfolgerung wird durch die Analyse einiger der frÞhesten bekannten slawischen KÃķrpergrÃĪber in Polen gestÞtzt, die auf der AusgrabungsstÃĪtte GrÃģdek entdeckt wurden. Sie liefern seltene, direkte Belege fÞr diese frÞhen Migranten. Obwohl die BevÃķlkerungsverschiebung betrÃĪchtlich war, zeigen die genetischen Befunde auch geringfÞgige Spuren einer Vermischung mit der lokalen BevÃķlkerung.

Diese Ergebnisse unterstreichen das Ausmaß des BevÃķlkerungswandels und die komplexen Dynamiken, die die Wurzeln der heutigen Sprachenlandschaft in Mittel- und Osteuropa geprÃĪgt haben.

Luftansicht der FundstÃĪtte Velim in Kroatien. Foto: Archaeological Museum Zadar
Luftansicht der FundstÃĪtte Velim in Kroatien. Foto: Archaeological Museum Zadar

Kroatien im Fokus

Im Vergleich zum nÃķrdlichen Einwanderungsgebiet weist der nÃķrdliche Balkan ein anderes Muster auf: eine Geschichte von Wandel und KontinuitÃĪt. Die Analyse alter DNA aus Kroatien und benachbarten Regionen zeigt einen bedeutenden Zustrom von Vorfahren aus Osteuropa, jedoch keinen vollstÃĪndigen genetischen Austausch. Stattdessen vermischten sich osteuropÃĪische Migranten mit den vielfÃĪltigen lokalen BevÃķlkerungsgruppen der Region und schufen neue, hybride Gemeinschaften.

Genetische Analysen zeigen, dass der Anteil dieser osteuropÃĪischen Vorfahren in der heutigen BalkanbevÃķlkerung erheblich variiert, aber oft etwa die HÃĪlfte oder sogar weniger des modernen Genpools ausmacht. Dies verdeutlicht die komplexe demografische Geschichte der Region. Ein Beispiel fÞr die Entstehung einer solchen gemischten Gemeinschaft ist der Fundort Velim. Dort wurden einige der ÃĪltesten slawischen KÃķrpergrÃĪber der Region entdeckt, die sowohl Hinweise auf osteuropÃĪische Migranten als auch auf bis zu 30 Prozent lokale Vorfahren zeigen.

Hier war die slawische Migration keine Eroberungswelle, sondern ein langer Prozess von Integration, Vermischung und Anpassung. Er fÞhrte zu der kulturellen, sprachlichen und genetischen Vielfalt, die die Balkanhalbinsel bis heute prÃĪgt.

UnabhÃĪngige Studie zu MÃĪhren, Tschechien bestÃĪtigt die Ergebnisse

Drei antike SchÃĪdelfragmente liegen auf einem dunklen Stoffhintergrund, wobei ein StÞck mit „H205“ beschriftet ist und die verwitterten Strukturen zur Geltung bringt.

Der Datensatz umfasste die DNA eines Kleinkinds, das in einem sehr frÞhen slawischen Kontext begraben wurde, der normalerweise nur mit Feuerbestattungen in Verbindung gebracht wird. Foto: Martin KoÅĄÅĨÃĄl, Laboratory of Advanced Documentation, MUNI CZ
Der Datensatz umfasste die DNA eines Kleinkinds, das in einem sehr frÞhen slawischen Kontext begraben wurde, der normalerweise nur mit Feuerbestattungen in Verbindung gebracht wird. Foto: Martin KoÅĄÅĨÃĄl, Laboratory of Advanced Documentation, MUNI CZ

In einer zeitgleich verÃķffentlichten, unabhÃĪngigen Studie, die unter anderem im Rahmen der tschechischen Projekte FORMOR und RES-HUM gefÃķrdert wurde, fanden Forschende aus Tschechien, Deutschland, der Schweiz und Großbritannien unter der Leitung von Zuzana HofmanovÃĄ heraus, dass es auch in SÞdmÃĪhren (Tschechien) zu einer BevÃķlkerungsverschiebung kam.

Auch dieser demografische Wandel kann mit dem Übergang zur slawisch geprÃĪgten materiellen Kultur in Verbindung gebracht werden, die ihren Ursprung in der heutigen Ukraine hat. WÃĪhrend alle Genome von Individuen aus der vorherigen Migrationsperiode eine große genetische Vielfalt aufwiesen, zeigten diejenigen, die mit dem slawisch geprÃĪgten Kulturkreis in Verbindung standen, Ähnlichkeiten mit Nordosteuropa, anders als zuvor.

Der Datensatz enthielt unter anderem die DNA eines Kleinkinds, das in einem sehr frÞhen slawischen Kontext begraben wurde, der normalerweise nur mit Feuerbestattungen in Verbindung gebracht wird. Dadurch konnte die VerÃĪnderung zeitlich und regional eingegrenzt sowie mit der Prager-Korchak-Kultur in Verbindung gebracht werden. Wichtig ist, dass sich dieses genetische Signal nicht nur bei Menschen aus dem 7. und 8. Jahrhundert nachweisen lÃĪsst, sondern sich regional bis ins 9. und 10. Jahrhundert fortsetzte.

In dieser Zeit entstand in dieser Region eines der frÞhesten slawischen Staatswesen, das mÃĪhrische FÞrstentum. Es ist vor allem durch die Heiligen Kyrill und Method bekannt, die die erste slawische Schriftsprache (Altslawisch) und die glagolitische Schrift fÞr ihre Mission unter den mÃĪhrischen Slawen entwickelten.

Ein neues Kapitel der europÃĪischen Geschichte

Diese Studie lÃķst das historische RÃĪtsel um die Entstehung einer der weltweit grÃķßten Sprach- und Kulturgemeinschaften. Sie erÃķffnet auch neue Perspektiven darauf, warum sich slawische Gruppen so erfolgreich verbreiteten und warum sie so wenige Spuren in der historischen Überlieferung hinterließen.

Wie Walter Pohl, einer der leitenden Autoren der Studie und Mittelalterforscher an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, es ausdrÞckt, stellt die slawische Migration ein grundlegend anderes Modell der sozialen Organisation dar: „Eine demische Diffusion oder Graswurzelbewegung, oft in kleinen Gruppen oder temporÃĪren Allianzen, die neue Gebiete besiedelten, ohne eine feste IdentitÃĪt oder Elitestrukturen aufzuzwingen.“

„Die Ausbreitung der Slawen war wahrscheinlich das letzte demografische Ereignis von kontinentaler Bedeutung, welches sowohl die genetische als auch die sprachliche Landschaft Europas dauerhaft und grundlegend verÃĪndert hat“, sagt Johannes Krause, Direktor am Max-Planck-Institut fÞr evolutionÃĪre Anthropologie und einer der leitenden Autoren der Studie.

Mit diesen neuen Ergebnissen kÃķnnen Forschende nun die Leerstellen in den schriftlichen und archÃĪologischen Aufzeichnungen ÞberbrÞcken und den tatsÃĪchlichen Umfang der slawischen Migrationen nachvollziehen – eines der prÃĪgendsten und dennoch unterschÃĪtzten Kapitel der europÃĪischen Geschichte. Die Spuren dieser Geschichte finden sich bis heute in den Sprachen, Kulturen und sogar im Erbgut von Millionen Menschen auf dem gesamten Kontinent.

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