So schnell werden wissenschaftliche Systeme nicht umgeschrieben. Aber man versteht die Ungeduld der Paläoanthropologin Silvana Condemi und des Wissenschaftsjournalisten François Savatier. Denn moderne Forschung beschleunigt auch die Entwicklungen in einer Wissenschaft, in der es in den letzten 150 Jahren eher gemächlich zuging. Da war es mehr als eine Sensation, als das Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie 2010 kurz vor Weihnachten vermeldete, man habe eine neue Menschenart entdeckt.

Und zwar nicht bei Ausgrabungen, sondern im Labor. Schon vorher hatten die Forscher/-innen um Svante Pääbo in Leipzig die Archäologie aufgemischt, mit zunehmend verbesserten Techniken, uralte DNA zu sequenzieren. Was dann unter anderem auch zu Nachweisen führte, dass der Neandertaler sich im Erbgut der Europäer noch heute finden lässt.

Aber 2010 kam dann noch das winzige Knochenstück aus der Denisova-Höhle im Altai-Gebirge hinzu, aus dem die Leipziger Forscher dann jene DNA extrahierten, die sich dann als die einer bis dahin unbekannten Menschenart erwies. Die von Pääbo begründete Paläogenetik machte es möglich, nicht nur immer ältere DNA aus Knochen zu extrahieren.

Sie machte den Forschern auch möglich, uralte Verwandtschaften und Stammbäume der Menschheit zu rekonstruieren und damit die Menschwerdung in einem immer facettenreicheren Bild. Ein Bild, das sich natürlich beißt mit den alten Forstellungen, die Aufwärtsentwicklung des Menschen wäre linear erfolgt, von einer frühen Hominiden-Art zu einer immer höher entwickelten, bis dann am Ende der Homo Sapiens entstand.

Immer mehr Belege

Aber schon die Neandertaler-Forschung zeigte, dass der Prozess der Entwicklung neuer Menschenarten wohl doch komplizierter ablief. Zumindest im Vergleich mit dem alten Bild vom linearen Entwicklungsprozess, der noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts als maßstabgebend galt. Und so wundert es nicht, dass auch die Entdeckung des Denisova-Menschen erst einmal etliche Forscher irritierte. Auch und insbesondere in China. Denn die Existenz einer neuen Menschenart stellte gerade in China gepflegte Bilder von der Entwicklung des Menschen infrage.

Aber seit 2010 sind 15 Jahre vergangen – bis zum Erscheinen der Originalausgabe dieses Buches in Frankreich 14 Jahre. Und in diesen Jahren ist so viel passiert, dass früheren Paläontologen der Kopf geraucht hätte. Denn natürlich war die Leipziger Sequenzierung schon der Schlüssel dafür, jetzt auch dutzende Knochenfunde aus Asien neu zu untersuchen und auch die Höhlen, in denen Knochen aus der Zeit des Denisova-Menschen gefunden wurden, neu unter die Lupe zu nehmen. Denn inzwischen können sogar die organischen Bestandteile aus den Sedimentschichten der Höhlen auf DNA hin untersucht werden.

Am Ende des Buches gehen Condemi und Savatier auf alle diese neueren Untersuchungen ein (die noch lange nicht abgeschlossen sind), die das Bild der Anwesenheit von Denisovanern in Asien bestätigt und ergänzt haben. Was schwierig genug ist, denn da Asien in großen Teilen ein tropischer Kontinent ist, sind Knochenfunde selten und entsprechend sensationell.

Viermal „Out of Africa“

Aber den beiden geht es letztlich um etwas Anderes. Denn die Existenz des Denisova-Menschen beleuchtet einen Prozess, der für die menschliche Eroberung des Erdballs typisch ist. Nämlich die Entwicklung der ursprüngliche (generalisisierten) Menschenformen in Afrika. Das ist die „Out of Africa“-Therorie, die sich bislang immer wieder bestätigt hat.

Die frühesten Funde der sich entwickelnden Menschenformen wurden allesamt in Afrika gemacht, sind also auch dort entstanden. Und in mittlerweile vier großen Auszügen aus Afrika haben sich diese Menschenformen nach Europa und Asien hin ausgebreitet – und am Ende mit dem Homo sapiens rund um die Welt.

Dieser vier Auszüge aus Afrika hängen immer wieder mit jeweils günstigen Phasen der Eiszeit zusammen, in denen sich vor allem die Levante und der arabische Raum als Übergangszone anboten, über die die diversen Hominiden den Weg nach Asien und Europa gehen konnten. Wie das funktionierte und wie das in archäologischen Fundstätten nachweisbar wurde, schildern Condemi und Savatier sehr ausführlich, wohl wissend, dass es auch heute noch kein allgemeiner Lehrstoff ist.

Spannend wird es dann, wenn sie auf den dritten großen Auszug aus Afrika zu sprechen kommen. Denn mit dem beginnt die Geschichte sowohl der Neandertaler als auch der Denisova-Menschen. Wer da auszog, das war der Homo heidelbergensis, der Afrika vor 800.000 bis 300.000 Jahren verließ und sowohl in Richtung Nordwesten nach Europa abbog, als auch über Indien und China bis auf den während der Eiszeit existierenden Sunda-Kontinent wanderte.

Seine genetischen Spuren finden sich sowohl in der Neandertaler-DNA als auch in der des Denisova-Menschen. Und sowohl Neandertaler als auch Denisova-Mensch entwickelten sich ganz offensichtlich aus dem Homo heidelbergensis, der eine in der Levante und in Europa, der andere in Asien. Sodass beide Menschentypen ähnliche Merkmale ausprägten, aber auch deutliche phänotypische Unterschiede.

Aber gerade weil Condemi und Savatier bis in die Details gehen, wird auch deutlicher, wie sehr wir auch heute noch lernen müssen, die Menschheitsentwicklung als einen Fluss zu sehen, in dem sich Menschen immer wieder den äußere Gegebenheiten anpassten, neue Fähigkeiten entwickelten und immer wieder auch mit anderen Menschenformen in Kontakt kamen.

Wandern und anpassen

Aber mit Neandertalern und Denisova-Menschen wird eben auch deutlich, wie aus einer früheren generalisierten Menschenform wie dem Homo heidelbergensis im Lauf der Jahrhunderttausende zwei unabhängig voneinander existierende Menschenarten entstanden, denen dann wieder – vor rund 40.000 bis 60.000 Jahren der moderne Mensch begegnete, als dieser dann seinen letzten und erfolgreichen Weg aus Afrika antrat. Und sich mit beiden vermischte.

Das belegt das Genom der heutigen Bewohner Asiens und Europas: Man hat sich vermischt und der aus Afrika kommende Homo sapiens erwarb gerade durch dieser Vermischung viele wertvolle Eigenschaften, die ihm das Überleben unter den neuen Umweltbedingungen erst ermöglichte. Denn Neandertaler und Denisova-Menschen hatten ja mehrere hunderttausend Jahre Zeit, sich an die teils kälteren Bedingungen im Norden als auch an die Krankheitserreger in den tropischen Gebieten anzupassen.

Und natürlich versuchen Condemi und Sabatier auch, das Bild des Denisova-Menschen für uns greifbar zu machen. Es ist eine echte Puzzle-Arbeit. Aber das sind Paläontologen ja gewohnt. Vieles verraten die aufgefundenen Knochenstücke und Zähne, manches aber auch die DNA, in der ja für die Forscher auch einige phänotypische Eigenschaften auslesbar sind.

Und weil sich das nur recht umständlich schildern lässt, hat der Grafiker Benoit Clarys diese Erkenntnisse in Zeichnungen umgesetzt. Wobei die beiden auch sichtbar machen, dass sich das Bild des Denisova-Menschen seit 2010 deutlich bereichert hat.

Denn die Funde bis auf die Inseln im Süden belegen inzwischen auch eine genetische Vielfalt des Denisova-Menschen, die von der Anpassung an völlig verschiedene klimatische Bedingungen erzählt. Und entsprechend unterschiedlich sind auch die Anteile von Denisova-Erbgut in der DNA verschiedener asiatischer Bevölkerungen.

Nur eins haben sie gemeinsam: Alle haben sie Denisova-DNA im Erbgut, so wie die meisten Europäer Neandertaler-Erbgut in ihrer DNA haben. Sodass Condemi und Savatier am Ende sogar titeln können „Neandertaler und Denisovaner sind nicht verschwunden“. Die Paläogenetik macht deutlich, wie komplex der menschliche Stammbaum tatsächlich ist. Und dass von ein er linearen Entwicklung schlicht keine Rede sein kann.

Eine Wissenschaft auf Tempo

Tatsächlich begegneten sich sogar Neandertaler und Denisova-Menschen. Die „Steppenroute“, die Mittelasien mit Europa verbindet, war wohl auch damals schon ein Ort der Begegnung und des Austauschs, lange bevor der Homo sapiens diese „Autobahn“ nutzte. Letztlich zeichnen Condemi und Sabatier hier ein großes Bild der menschlichen Migration aus der Urheimat Afrika, mit der jeweils neue, generalisierte Menschenformen den Sprung nach Europa und Asien schafften und dort eigene Entwicklungen anstießen.

Entwicklungen, die die Forscher immer genauer zeichnen können, je detailreicher die Funde in den bekannten Ausgrabungsstätten werden. Und dabei werden nun einmal auch viele ältere Funde neu klassifiziert und eingeordnet.

Und da stößt die Entwicklung natürlich auch auf das Beharrungsvermögen von Teilen der Wissenschaft. Wer gibt schon gerne alte, geliebte Theorien über die Menschwerdung auf? Gar in so schnellem Tempo, wie es mit der modernen Paläogenetik möglich wurde? Eine durchaus brisante Frage.

Erst recht, wenn Wissenschaftler gelernt haben, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und neue Theorien erst einmal so lange skeptisch zu betrachten, bis die gefundenen Belege nicht mehr zu ignorieren sind. In diesem Prozess steckt die Paläontologie gerade – insbesondere was die Akzeptanz des Denisova-Menschen als echtes Pendant zum zeitgleich in Europa lebenden Neandertaler betrifft.

Condemi und Savatier nehmen ihre Leser mit in diese große und spannende Debatte, sind aber beide überzeugt, dass man die Existenz und die lange Dominanz des Denisova-Menschen in Asien nicht mehr ignorieren kann. Noch gibt es jede Menge Forschungsbedarf. Aber was man weiß, bestätigt die Existenz dieser eigenständigen Menschenart, die sich im Schatten der Eiszeit ganz ähnlich entwickelte wie der Neandertaler in Europa. Mit ähnlichen kulturellen Techniken.

Begegnen und voneinander lernen

Was unter anderem auch ein Erklärungsansatz dafür ist, dass man im tropischen Asien so gut wie keine Steinwerkzeuge aus dieser Zeit findet – anders als in Europa. Was aber auch mit etwas zu tun hat, was die Forscher oft genug zur Verzweiflung bringt – denn wenn organische Werkstoffe (wie Bambus) viel praktischer sind zum Überleben, dann „verschwinden“ die so schön haltbaren Faustkeile auf einmal aus den Fundschichten.

Die organischen Werkstoffe aber haben sich schlichtweg aufgelöst. Wenn das Klima dann auch noch für den schnellen Verfall von Skeletten sorgt, steht man auf einmal vor einem großen Zeitraum ohne greifbare Befunde.

Wobei auch noch ein gewaltiger Meteoriteneinschlag im Chinesischen Meer seine Rolle spielte, die die Menschheitsgeschichte in Asien noch abenteuerlicher macht.

Aber noch eins wird deutlicher: Dass unsere Vorgeschichte nie statisch war, sondern sehr mobil. Die ganze Menschheitsgeschichte ist ohne immer neue Migration nicht denkbar. Und wir alle tragen die Spuren früherer Migrationen in uns. Das Bild dieser immer neu den Erdball erkundeten Menschen wird mit diesem Buch fassbarer. Und es macht natürlich neugierig auf die nächsten Entdeckungen, die möglicherweise wieder aus einem Labor in Leipzig kommen.

Silvana Condemi, François Savatier„Denisova. Die Entdeckung einer neuen Menschenart“ C. H. Beck, München 2025, 22 Euro.

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Welche Definition wird im Buch eigentlich für “Menschenart” genutzt? Offensichtlich nicht die, dass nur innerhalb einer Art fortpflanzungsfähige Nachkommen entstehen, sonst könnten sich die Genome nicht vermischen.

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