Der Titel ist ein wenig irreführend, denn nichts strebte Johann Adolf von Thielmann weniger an als Macht. Er ist der Held dieses Romans, in dem der Dresdner Autor Wolfgang David ihn durch jene beiden Jahre begleitet, in denen er erst den Russlandfeldzug Napoleons mitmacht und die sächsischen Truppen bei Borodino befehligt, bevor er im Frühjahr 1813 die Seiten wechselt. Und dabei galt er nach 1806 als größter Unterstützer Napoleons in Sachsen.

Im Grunde ist das, was Wolfgang David hier vorlegt, deutlich mehr als ein Roman. Denn so eng, wie er sich an die historischen Vorgänge hält, ist sein Buch beinah schon eine Rekonstruktion der beiden Jahre, in denen sich einerseits Napoleons Schicksal wendete und andererseits Johann Adolf Thielmann sich vom glühenden Verehrer des Mannes, der Europa zu einen versprach, in einen überzeugten Gegner verwandelte, der letztlich bei Waterloo wieder entscheidenden Anteil am Ausgang einer Schlacht haben würde – diesmal gegen Napoleon. Eigentlich eine faszinierende Gestalt der sächsischen Geschichte, die viel zu wenig Würdigung erhielt bislang.Mit „1815. Blut und Frieden“ hat ja schon Sabine Ebert die Widersprüchlichkeit dieser Jahre als historischen Roman gefasst, auch wenn sie die Hauptlinie ihrer Erzählung eher auf die beiden Liebenden setzt, die irgendwie zu überleben versuchen in diesen völlig entgleisten Zeitläufen. Auch Wolfgang David arbeitet mit solchen fiktiven Helden aus dem Volk, wahrscheinlich aus einer ganz ähnlichen Absicht heraus: Die großen Geschichtskompendien halten meist nur die Taten und Worte der großen Leute fest.

Wie die einfachen Menschen die Dramen der Weltgeschichte erlebten, steht in den großen Chroniken nicht – oder nur beiläufig, als Massenereignis. Aber erst aus ihrer Perspektive wird die Tragik tatsächlich erlebbar. David flechtet mit dem Maler Pakosz und dem Unteroffizier Gentsch zwei solcher Figuren ein, die in den zwei erzählten Jahren immer wieder in der Nähe Thielmanns zu finden sind. Mit ihnen kann er all das erzählen, was der kommandierende General nicht selbst sehen und erleben kann.

Und hier unterscheidet sich Davids Arbeitsweise natürlich deutlich von der Sabine Eberts. Spätestens bei der sehr ausführlichen Schilderung der Schlacht bei Borodino wird deutlich, wie intensiv er sich mit dem militärhistorischen Forschungsstand beschäftigt hat. Krieg ist bei ihm keine Schlachtenmalerei (auch dafür steht der Maler Pakosz in diesem Roman).

Im Gegenteil: Er nimmt den Leser tatsächlich mit in das Chaos, die Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit der Schlacht und er erlässt ihm auch nicht den Anblick des verlassenen Schlachtfeldes, auf dem die Toten noch Wochen später unbeerdigt herumliegen. Jenen Wochen, die Napoleon in Moskau vertrödelt, weil er glaubt, den russischen Zaren und seinen genialen Feldherrn Kutusow besiegt zu haben, wenn er nur die alte Landeshauptstadt besetzt.

Dabei zeigen schon die ersten Tage in der Stadt, dass Kutusow gar nicht gewillt ist, Napoleon die Entscheidung mit einer weiteren Schlacht in die Hände zu legen. Lieber opfern die Russen Moskau, als dem machtlüsternen Franzosen einen Ort zum Überwintern im eisigen russischen Winter zu lassen.

Doch Wolfgang David macht nicht den Fehler, die Geschichte aus der allwissenden Position des Nachgeborenen zu erzählen. Denn wann wissen die Akteure der Geschichte eigentlich, wann sie sich geirrt haben und in eine Falle geraten sind? Wann begreifen sie, dass sie das Heft des Handelns nicht mehr in der Hand haben?

Man kann die historischen Dokumente befragen und sieht dort durchaus noch einen Napoleon, der glaubt, mit seiner längst dahingeschmolzenen Großen Armee den Zaren zum Einknicken bringen zu können, nicht ahnend, dass er selbst es war, der nicht nur die Kräfteverhältnisse in Europa umgeworfen hat, sondern auch Männern wie Scharnhorst, Gneisenau, von Stein und eben auch Thielmann die zuvor undenkbare Karriere ermöglicht hat.

Bei Jena und Auerstedt 1806 stand er preußischen und sächsischen Truppen gegenüber, die von vergreisten Offizieren geführt wurden, die nicht wussten, wie ihnen mit dem Korsen geschah, der das Blut seiner Soldaten gnadenlos vergoss, wenn er damit den Sieg in einer Schlacht erzwingen konnte.

Der Russlandfeldzug wird auch für diesen Thielmann zum Wendepunkt, der nach 1806 noch regelrecht begeistert war von den Visionen Napoleons und wesentlich dafür verantwortlich, den sächsischen König in den Rheinbund und an die Seite Napoleons zu lotsen.

Aber Wolfgang David schildert – ebenso eindringlich wie die Schlacht von Borodino und das späte Begreifen in Moskau – auch den Rückzug der Großen Armee, der schon lange vor der Beresina in ein Chaos mündete, dem auch Thielmann am Ende nur noch knapp entrinnt. Da schon lange kein Kommandierender einer stolzen Husareneinheit mehr, sondern allein über die provisorische Brücke gehend, die die Franzosen in dem Moment in Brand setzen, als sie den Hauptteil ihrer Truppen hinübergebracht hatten.

Später im Buch spielt die Sprengung der Brücke in Dresden eine ganz ähnliche Rolle. Beide Brücken sind wie ein Sinnbild für diesen Napoleon, der alle Brücken hinter sich abbricht, wenn ihm das nur den Rückzug sichert. Der Thielmann, der aus diesem Drama ohne seine Reiter zurückkehrt, ist schon ein anderer.

Und er ist nicht der einzige, der so langsam begriffen hat, dass dieser Napoleon immer neue und andere Gründe finden wird für sein Handeln, wenn er seine Interessen nur mit kriegerischem Einsatz durchsetzen kann. Und dass ihm das Wohlergehen seiner Bündnispartner genauso wenig am Herzen liegt wie das seiner Soldaten.

David muss es erst gar nicht benennen: Die Schlachten des Jahres 1813 (Großgörschen, Bautzen, Leipzig) wird Napoleon mit einer völlig neu ausgehobenen Armee blutjunger Soldaten bestreiten. Und als Thielmann vom sächsischen König zum Oberbefehlshaber der Festung Torgau und damit des neu aufzustellenden sächsischen Heeres gemacht wird, bekommt er endgültig mit, dass Napoleon seine Bündnispartner nicht anders behandelt als untergeordnete Truppenteile. Sie haben zu gehorchen, ihm Truppen zur Verfügung zu stellen, Fourage zu liefern und ihre Festungen zu öffnen.

Es steht auch nicht unbedingt in sächsischen Schulbüchern, was in diesen aufreibenden Monaten zwischen Moskau und Leipzig in Sachsen geschah. David verzichtet natürlich nicht darauf, auch die gekrönten Häupter und ihre Berater auftreten zu lassen. Und das in Szenen und Dialogen, die so ähnlich tatsächlich stattgefunden haben dürften.

Auch rund um König August von Sachsen, der in diesen Monaten verzweifelt versuchte, sein Land neutral zu machen und unter den Schutz Österreichs zu stellen, das wieder seine eigene Politik machte, um nicht wieder allein die volle Wut Napoleons abzubekommen, während Russland und Preußen längst aus der Not eine Tugend gemacht hatten und gemeinsam operierten.

Und mittendrin steht diese riesige Festung Torgau, um die sie alle werben – genauso wie um Thielmann und seine Truppen. Und während Thielmann durchaus weiß, dass die meisten seiner Offiziere nicht bereit sind, ohne Befehl des Königs die Seiten zu wechseln, ist die Stimmung in der Landeshauptstadt Dresden längst gekippt. Im Freundeskreis um Christian Gottfried Körner (der nicht recht weiß, ob er über die Kampfeslust seines Sohnes Theodor glücklich sein soll) prallen die Ansichten der Männer, die teils in hohen sächsischen Ämtern tätig sind, aufeinander.

Und auch die Berater des Königs sind längst so weit, ihrem König den Seitenwechsel zu empfehlen. Das Spiel, die Festung Torgau bis zuletzt aus dem Kampf zu halten, kann nicht aufgehen. Und sehr pointiert schildert David, wie Napoleon seine Strippen zieht, droht und erpresst und genau weiß, wie man auf der Klaviatur der Angst spielen kann.

Er selbst scheint so ein Gefühl überhaupt nicht zu kennen. Ein ja nicht unwichtiges Gefühl, das einem Menschen normalerweise sagt, wann man zu viel riskiert, wann der Bogen überspannt ist und der Gegner zu groß. Gerade wurde ja groß der 200. Todestag Napoleons inszeniert. Aber selbst in Frankreich hat man schon lange seine Zweifel, ob das überhaupt noch Sinn ergibt, so einen Mann zu feiern, der so gefühllos verschwenderisch mit dem Blut der Soldaten umging.

Auch dem der Sachsen, die er am Ende doch noch mit ganz und gar nicht versteckter Nötigung zur Teilnahme an seinen Schlachten zwang, während er König August regelrecht in Geiselhaft brachte, indem er ihn erst nach Dresden und dann nach Leipzig nötigte.

Aber Leipzig liegt schon außerhalb des Romans. Denn in dem Moment, in dem König August den Befehlshaber der Festung anweist, sie den Franzosen zu öffnen, ist für Thielmann das Ende der Fahnenstange erreicht. Er tritt von seinem Kommando zurück und verlässt mit seinem Stellvertreter und Freund Ernst Ludwig von Aster die Festung, um zu den Russen zu wechseln. So wie die Schlacht bei Großgörschen wird auch die Schlacht bei Bautzen keine Entscheidungsschlacht mehr. Napoleon ist nicht mehr stark genug, die beiden Alliierten in die Knie zu zwingen, auch wenn er den sächsischen König damit weiterhin in der Angst halten kann, sein Land und seine Krone zu verlieren.

Wolfgang Davids Roman ist nicht nur eine sehr lebendige und facettenreiche Würdigung für seinen Helden Johann Adolf von Thielmann, sondern auch eine sehr stimmige Darstellung eines Kapitels sächsischer Geschichte, das in der Regel selten erzählt und beleuchtet wird, obwohl es wie kaum ein anderes zeigt, wie uneindeutig und unfertig Geschichte tatsächlich selbst aus der Perspektive derer aussieht, die darin herausragende Rollen spielen.

Solche Geschichtsabschnitte tauchen für gewöhnlich in Büchern mit dem schönen Titel „Was wäre, wenn …“ auf. Was wäre, wenn Napoleon nicht nach Moskau marschiert wäre? Wenn die sächsischen Truppen nicht erst in der Völkerschlacht, sondern schon im Mai 1813 – zusammen mit Thielmann – die Seiten gewechselt hätten? Oder wenn Thielmann selbst eigenmächtiger gehandelt hätte? Aber bis zuletzt benimmt er sich wie ein Offizier mit strengen Vorstellungen von Ehre. Zumindest an den folgenden Ereignissen im Jahr 1813 hat er erst einmal keinen Anteil mehr.

Wolfgang David beendet seine Erzählung in dem Moment, in dem Gentsch wieder nach Torgau zurückgekehrt ist, weil er Thielmanns Schritt einfach nicht versteht, und dort erst merkt, dass sich trotzdem alles verändert hat. Dabei hatte man ihn zuvor als durchaus aufgeweckten Unteroffizier kennengelernt, der eben nicht nur blind Befehle ausführte. Aber sich auszumalen, was passiert, wenn Torgau den Franzosen geöffnet wird, das war ihm dann doch nicht gegeben.

So, wie es wohl den meisten Menschen nicht gegeben ist, die nur zu gern fest daran glauben, dass die Dinge sich nicht ändern, wenn man selbst sich nicht ändert. Und die dann von der Geschichte überrascht und überrollt werden. So gesehen stellt David auch ein paar sehr ernsthafte Fragen an die Geschichte und an seine Leser. Denn wenn Geschichte so vonstattengeht – wenn nicht einmal die befehlshabenden Akteure wirklich überschauen, welche Folgen ihr Tun hat –, was ist dann eigentlich das Ergebnis und der rote Faden von Geschichte? Und wie souverän sind dann eigentlich die, die sich so gern als souverän bezeichnen?

Eine ganz und gar napoleonische Frage, denn gerade der französische Imperator steht ja für diesen vergänglichen Ruhm, dass ihm militärisch alles glückte und er die Geschichte mit einer Macht gestaltete, wie das wohl zuletzt Alexander dem Großen gelang. Aber spätestens der Russlandfeldzug zeigte, dass das nur so lange gutging, wie ihm die Betörten und an seine Fortuna Glaubenden folgten. In dem Moment, in dem der falsche Zauber verblasst, ändert die Geschichte zwangsläufig ihren Lauf, beginnen die Zweifel und das Murren der Völker. Und die Gewichte verschieben sich.

Aber schon an der Stelle, an der David Thielmanns heftige Abneigung gegen den preußischen Reformer und damaligen Berater des Zaren Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein erwähnt, weiß man, dass es auch für Thielmann keine Wahl zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse ist, dass Geschichte selbst dann, wenn einer so klar seine Entscheidungen fällt, meist doch nur eine Wahl zwischen lauter Kompromissen ist, von denen einen am Ende keiner wirklich begeistert.

Aber wie gesagt: An der Stelle endet der Roman. Mit einem in die Festung zurückgekehrten Gentsch, der endlich zu begreifen scheint, dass auch eine Nichtentscheidung eine falsche Entscheidung sein kann.

Wolfgang David Im Aufwind der Macht, Salon Literaturverlag, München 2021, 23,50 Euro.

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