Während das Jahr 2013 mit dem 200. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig eine Menge Aufmerksamkeit fand, hielt man sich in Sachsen 2015 mit der Rückbesinnung auf das Jahr 1815 auffällig zurück. Denn das war ja nicht nur das Jahr von Waterloo, sondern auch das der sächsischen Teilung. Eines der heikelsten Themen auf dem Wiener Kongress. Aber im Staatsarchiv Leipzig fand zumindest eine Tagung statt.

Das Sächsische Staatsarchiv hatte zum Fachkolloquium geladen. Klingt trocken. Ist stellenweise auch trocken. Eben so wie 200 und 300 Jahre altes Schriftgut aus sächsischen Behörden. Der normale Fernsehkieker bekommt nur immer die Schauseite zu sehen: königliche Affären, rauchende Schlachten, ab und zu ein schwärmerischer Dichter, ein theatralischer Scharlatan, reitende Prinzen, Räuber und Gendarmen … Aber der Stoff, aus dem Geschichte ist, ist bröselig, staubig und aus Papier. Was kein emsiger Aktuar und Schreiber festgehalten hat in peniblen Zahlenkolonnen, Urkunden und Schriftsätzen, ist für die Geschichtsforschung nicht existent. Nicht belegbar. Märchen und Mythen beginnen alles zu überwuchern und am Ende kommt eine zurechtgelogene Vergangenheit heraus, die mit der wirklichen Geschichte nichts zu tun hat.

Dass sich die Archivare nun ausgerechnet den Wiener Kongress vornahmen, liegt nicht nur am Jubiläum – auch wenn sich der Jahrestag für die „Lösung der sächsischen Frage“ im Mai 2015 tatsächlich zum 200. Mal jährte. Ihnen ging es um eines der Knobelstücke der Historiker, denn das, was sich die Großmächte in Wien zu Sachsen hatten einfallen lassen, hatte einen Berg bürokratischer Arbeit und jahrelanger penibler Grenzneufestlegungen zur Folge. Etwas, was so nie in Geschichtsbüchern steht, bestenfalls in den Chroniken all jener Orte, die da 2015 auf einmal zum Zankapfel zwischen preußischen und sächsischen Behörden geworden waren – manche über mehrere Jahre. Grenzkommissionen mussten eingesetzt werden, uralte Karten korrigiert, neue Grenzsteine gesetzt.

Dabei hat das alles eine lange Vorgeschichte. Und die wird in diesem Tagungsband zum Glück nicht weggelassen. Dadurch erst wird er auch für Geschichtsinteressierte spannend, die sowieso schon mit übers Leben wachsender Faszination alles in sich aufsaugen, was mit der langen Geschichte deutscher Kleinstaaterei zu tun hat, dem Aufstieg und Zerfall von Fürstentümern und Königreichen im Allgemeinen und dem Entstehen der beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen im Speziellen, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die deutsche Geschichte bestimmten oder – man kann es auch so interpretieren: zerrissen und zerfetzten, bis am Ende ein verkleinertes Preußen-Deutschland draus wurde.

Und in den meisten Lehrbüchern zur Völkerschlacht oder den „Befreiungskriegen“ wird auch selten darauf eingegangen, warum ausgerechnet Sachsen beim Wiener Kongress auf einmal zur Disposition stand, warum der preußische König auf einmal Anspruch auf das komplette Königreich Sachsen erhob und damit drohte, den Wiener Kongress sogar scheitern zu lassen. Winfried Müller schildert in seinem Beitrag in diesem Band, wie es eigentlich zur langen preußisch-sächsischen Rivalität kam und warum Preußen und Österreich auch noch ihre Großmachtspielchen spielten, als Napoleon ihre Armeen längst geschlagen und ihre Länder besetzt hatte.

2015 feierten ja etliche große Zeitungen dann den Wiener Kongress als geradezu vorbildhaften Friedenskongress, der für Europa eine dauerhafte Friedensordnung schuf, quasi einen Vorläufer der EU. Man durfte durchaus staunen, auch wenn – aus diplomatischer Sicht – solche Ansätze durchaus sichtbar sind, obwohl die in Wien versammelten Potentaten keineswegs die Absicht hatten, den Völkern einen dauerhaften Frieden zu schenken. Es ging um etwas viel Älteres: die Sicherung von Machtsphären. Und wenn ein paar Politiker von heute sich mit der Geschichte beschäftigt hätten, hätten sie wohl auch weniger Unfug mit der Ukraine angerichtet, dann hätten sie zumindest noch eine Ahnung, wie sehr viele europäische Machtpolitiker auch heute noch in alten Sicherheitskategorien denken.

Für Russland gehörte 1814/1815 unabdingbar Polen mit zu seiner Sicherheitszone. Und als einer der Sieger aus den antinapoleonischen Kriegen beanspruchte Russland auch wieder seinen Teil an Polen, geriet dort aber in die Machtgefilde Preußens, das sich seinerseits mehr Gebiet und mehr steuerzahlende Untertanen sichern wollte. Deswegen beschäftigte 1814 die „polnische Frage“ den Wiener Kongress, die sich zum Jahresende immer mehr mit der „sächsischen Frage verquickte“. Und wäre es nur nach den Preußen und Engländern gegangen, hätte Preußen Sachsen schlucken dürfen.

Aber damit wäre Preußen seinem Dauerrivalen Österreich direkt auf die Pelle gerutscht. Das aber gefiel dem Machtpolitiker Metternich nicht, der letztendlich seinen Einfluss nutzte, wenigstens ein geteiltes Sachsen zu bewahren. Und darüber wurde dann in Wien im Wesentlichen zwischen Januar und Mai 1815 gefeilscht – übrigens ohne die Sachsen. Der sächsische König saß gefangen in Berlin, das zuerst von den Russen, dann von den Preußen verwaltete Land hatte kein Mitspracherecht. Und am 21. Mai 1815 konnte der sächsische König den fertigen Friedensvertrag, in dem die Abtretung von 56 Prozent der Landesfläche an Preußen besiegelt wurde, nur noch unterzeichnen. Ändern konnte er daran nichts mehr. Darüber erzählt Matthias Donath in diesem Sammelband sehr kenntnisreich.

Und während im Mai 1815 alle versammelten Herrscher noch glaubten, die Sache könnte binnen drei Monaten abgewickelt werden, merkten dann die Betroffenen vor Ort ziemlich schnell, dass diese Teilung die Ämter, Gerichte, Behörden und Vermesser auf Jahre beschäftigen würde. Denn die neuen Grenzlinien, die man in Wien einfach auf die beste verfügbare sächsische Karte gemalt hatte, waren ja nicht entlang alter sächsischer (Kreis-)Verwaltungsgrenzen gezogen worden, sondern ein schlichter militärischer Kompromiss, in dem sich die preußischen Gebietsansprüche mit dem Sicherheitsbedürfnis der Österreicher trafen, die partout keine gemeinsame Grenze mit Preußen wollten. Metternich wusste sehr genau, warum.

Der Großteil der Beiträge in diesem Band geht dann auf die Probleme bei der Neufestlegung der Grenzen ein. Sie widmen sich u.a. den preußisch-sächsischen Grenzkommissionen, die die komplette neue Grenze penibel ausmessen und aushandeln mussten. Viele Dörfer schwebten jahrelang in einem unsicheren Raum – und besonders schlecht dran waren die, in die die Preußen sofort mit militärischer Besetzung einzogen und die fälligen Steuern erhoben, obwohl nicht einmal klar war, ob der Ort nun tatsächlich zu Preußen käme. Das ärgerte nicht nur die sächsischen Behörden, das brachte die direkt betroffenen Bauern und Gemeindevorstände zur Verzweiflung.

Lieb Kind haben sich die Preußen damals in Sachsen nicht gemacht – was übrigens auch einer der Gründe dafür war, warum die Sachsen die nächsten 50 Jahre keinen Sinn darin sahen, die Völkerschlacht in irgendeiner Form auch noch mit einem Denkmal zu erinnern. Aber nicht nur die Karten und Protokolle dieser Landesteilung haben sich in den Archiven erhalten, auch ein Teil jener Akten hat überlebt, die die sächsischen Behörden in den nächsten Jahren an die Preußen übergeben mussten, weil darin das Schriftgut zu den nunmehr preußischen Landesteilen enthalten war. Auch das ein Thema für Archivare, die gern genau wissen, wo welche Akte zu finden ist (auch wenn nicht alle Bestände überlebt haben).

Nur am Rande gestreift wird dabei, wie gründlich es die Preußen geschafft haben, in den von ihnen einverleibten Landesteilen die Erinnerung an die ursprüngliche sächsische Geschichte zu tilgen. Nicht nur Verwaltung und Gesetze wurden komplett umgestellt, die einst sächsischen Landesteile wurden auch in drei neue preußische Bezirke geteilt, von denen dann nur noch die neue preußische Provinz Sachsen den alten Namen trug. Zu der gehörten dann alte sächsische Städte wie Naumburg, Weißenfels, Merseburg und Wittenberg.

Und den Leipziger Leser wird auch interessieren, dass Preußen im Januar 1815 sehr beharrlich darum rang, auch Leipzig noch in sein Gebiet zu bekommen. Und die preußischen Unterhändler waren gerade bei diesem Thema sehr beharrlich. Um jeden Fußbreit wurde gefeilscht. Selbst am 18. Mai 1815 lag die verhandelte neue Grenze direkt vor dem westlichen Leipziger Stadtrand: Lindenau, Plagwitz und Kleinzschocher wären preußisch geworden. Das ist auf der Karte auf dem Deckblatt sehr anschaulich zu sehen.

Am 30. Mai hatte man sich dann auf eine Grenze etwas weiter westlich geeinigt – mit Dölzig und Markranstädt noch auf sächsischem Gebiet, Altranstädt und Schkeuditz auf preußischem. Eine große Karte in Donaths Beitrag zeigt, wie Sachsen 1815 zurechtgestutzt wurde und damit auch endgültig seinen Anspruch verlor, in der deutschen Politik eine mitbestimmende Rolle zu spielen. Einige Autoren beschäftigen sich dann auch noch mit einigen besonderen Details der ganzen Geschichte, der Grafschaft Henneberg zum Beispiel und dem Stift Merseburg. Denn es gab ja nicht nur die amtlichen Landeszugehörigkeiten, sondern auch noch lauter mittelalterliche Lehns- und Besitzrechte. Am Ende ist man ganz froh, kein sächsischer Kanzleischreiber gewesen zu sein, der sich mit diesem ganzen Knäuel beschäftigen musste. Die Archivare und Historiker freilich sind dankbar, denn in genau diesen Akten finden sie, was in den üblichen Geschichtsbüchern nicht steht: die vielen Hinweise auf Besitz- und Abhängigkeitsverhältnisse, auf Hausstand und Dienstpflichten, die ganze Bürde, die die gemeinen Sachsen zu tragen hatten in den spätfeudalen Zeiten. Eine Fundgrube für geduldige Aktenwälzer.

Birgit Richter (Red.) Der Wiener Kongress 1815 und die Folgen für Sachsen, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 19 Euro.

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