Schon 1798 sah er sehr streng aus, etwas verbittert und misstrauisch, dieser Johann Gottfried Seume. Da malte ihn sein Freund Veit Hanns Friedrich Schnorr von Carolsfeld. Das Porträt ziert nun das Cover dieses Buches, das im Grunde einen Kampf schildert, den Seume am Ende eigentlich gewonnen hat. Aber wie das meistens so ist mit armen Wanderern: Die Lorbeeren streichen dann andere Leute ein.

Dass Seume selbst in Leipzig, wo er studierte, lebte und schrieb, zu den Verkannten und Verleugneten gehört, ist nicht zu übersehen. Dabei gehört er – viel mehr als Goethe und Schiller – zu den Autoren, die für diese Stadt und ihre widerständigen Geister stehen. Ein Mann, der Sätze schrieb, die noch heute aktuell sind. „Wo von innen Sklaverei ist, wird sie von außen bald kommen.“ Oder wie wäre es mit dem: „Wenn nur jeder sicher hätte, was er verdiente, so würde alles allgemein gut genug gehen.“Das schrieb ja einer, der nie genug verdiente. Und dass er riesige Strecken zu Fuß zurücklegte, hat auch damit zu tun, dass er immer knapp bei Kasse war, ein Underdog, der als armer Student auch die Erfahrung machte, wie schnell man von der Straße weggefangen und als Soldat nach Amerika verschifft werden konnte. Und dem das nicht nur einmal passierte. Auch das spricht aus diesem Antlitz: die Erfahrung, dass man als armer Hund immer von der Gnade oder Ungnade anderer abhängig war.

Wieland nannte ihn später den einzigen wirklichen Kyniker, den er kannte. Eigentlich im ganz heutigen Sinn, denn ein Zyniker war Seume nicht. Aber einer, der bewusst verzichtete auf all das, was anderen Leute Sucht und Spaß war: Alkohol, Nikotin, Kaffee, opulentes Essen.

Damit glaubte er, sich gesund erhalten zu können. Weshalb diejenigen, die ihn kannten, erschraken, als er 1806 von seiner Fußwanderung nach Russland, Finnland und Schweden zurückkehrte. Ein „Spaziergang“, über den er dann „Mein Sommer 1805“ schrieb mit einem Vorwort, das die Zensur in allen deutschen Ländern alarmierte.

Der „Spaziergang“ in den Norden hatte ihm zugesetzt. Fortan litt er unter kranken Füßen, Nieren- und Blasenkrankheit, was zu seinem frühen Tod beitrug. Nebst seiner Armut. So erlebte er auch nicht mehr, dass der große Kampf, den er in den Jahren 1804 bis 1806 mit der Feder führte, 1817 tatsächlich so ausging, wie er es gefordert hatte: Das kurfürstliche/königliche Privileg der Sekonda’schen Schauspielgesellschaft für das Theater in Leipzig wurde endlich abgeschafft.

Ein Privileg, das im Grunde ein halbes Jahrhundert lang verhindert hatte, dass Leipzig ein eigenes, gutes und anspruchsvolles Theater bekam. Denn gerade in der attraktiven Messezeit, wo so ein Theater hätte Gewinn machen können, galt das Privileg des Franz Sekonda, der wohl nicht nur aus Sicht von Seume und seinen Freunden in Leipzig ein geradezu beschämend schlechtes Programm bot.

Und noch viel schlimmer wurde es im Winterhalbjahr, da kam dann Sekondas Bruder Joseph mit der Singspieltruppe von Dresden nach Leipzig, während Franz mit der Schauspieltruppe nach Dresden ging. Ergebnis: Im Winter gab es ein noch viel schlechteres Programm und die Leipziger, die endlich Zeit hatten, in „ihr“ Theater zu gehen, erlebten niederschmetternde Volksbespaßung.

Was übrigens dazu führte, dass damals in Leipzig mehrere Laientheater entstanden. Das kurfürstliche/königliche Privileg für die Hofschauspieler verbaute den Leipzigern jede Möglichkeit, ein eigenes Stadttheater auf die Beine zu stellen. Weshalb Oper und Schauspiel eigentlich beide zusammen 2017 ihren 200. Geburtstag hätten feiern können. Denn beides gibt es in Leipzig durchgehend erst seit 1817 in städtischer Regie.

„Wer die Privilegien tötete, wäre der Weltheiland“, schrieb Seume, als er den Anstoß gab, endlich über das Privileg der Hofschauspieltruppe zu reden, das in Leipzig die Entstehung eines niveauvollen Theaters verhinderte. Der Weimarer Literaturwissenschaftler Heinz Härtl hat alle in damaligen Zeitschriften auffindbaren Beiträge gesammelt, die von Seumes Kampf gegen dieses eine Privileg erzählen.

Seume war sich nur zu bewusst, dass es nicht das einzige war, das abgeschafft gehörte. Seine „Spaziergänge“ erzählen nur zu genau davon, wie er überall in diesem feudalen Europa den Privilegien der Adeligen, Reichen und Mächtigen begegnete. Privilegien, die meistens unsichtbar sind für diejenigen, die die Privilegien besitzen oder genießen. Das ist bis heute so.

Und deshalb ist der oft tief in Leserbriefen und Theaterbesprechungen versteckte Kampf gegen das Theaterprivileg, den Härtl hier sichtbar macht, auch so typisch. Denn während die meisten Menschen nicht mal merken, dass es solche Privilegien sind, die verhindern, dass die Dinge besser werden, reagieren die, die sich getroffen fühlen, meist sehr subversiv, heimtückisch und unter Verdrehung der Tatsachen. Bis hin zur Verleugnung des Privilegs. Das wirkt erstaunlich gegenwärtig. So viel hat sich daran nicht geändert.

Privilegien funktionieren am besten, wenn man sie möglichst gut verstecken kann.

Überraschend ist freilich auch, dass Härtl zeigen kann, dass dieser Seume gar nicht so allein war, sondern auch namhafte Verbündete hatte, die ihn in diesem literarisch geführten Kampf unterstützten, wohl wissend, dass sie verdammt vorsichtig sein mussten, denn über das Privileg für die Hoftheatertruppe entschied letztendlich der König. Oder sein zuständiger Minister für die Volksbelustigungen.

Und manche Gegenreaktion kam direkt aus dem Dresdner Ministerium – samt dem Hinweis darauf, dass der König sich die Truppe jedes Jahr 6.000 Taler kosten ließ, damit seine Dresdner Militärs im Winter eine schöne Unterhaltung hatten.

Und Seumes Gegenspieler konnten auch nicht wirklich widerlegen, dass das für Leipzig geltende Privileg vor allem deshalb existierte, um die Kasse des Königs im Sommer von den Kosten für die Schauspieler zu entlasten.

Und Privileg hieß nun einmal: Innerhalb der Leipziger Stadtmauern durfte keine andere Theatertruppe der Sekonda’schen Konkurrenz machen. Was Leipzig bis zum Ende des Privilegs mehr oder weniger zu einer Theater-Einöde machte. Etwas, was erst so richtig sichtbar wurde, wenn die berühmte Christiane Bethmann-Unzelmann aus Berlin mal in Leipzig gastierte und die komplette Sekonda’sche Schauspieltruppe an die Wand spielte. Oder wenn mal die Hoftheater aus Weimar oder Dessau gastierten, was Seume 1807 sogar noch erleben durfte.

Doch den Kampf gegen das Theaterprivileg konnten Seume und seine Mitstreiter nur über die damals viel gelesenen Unterhaltungsblätter wie den in Berlin erscheinenden „Der Freimüthige“ austragen. Und das auch nicht direkt, denn das hätte die Zensur sofort auf den Plan gerufen, sondern verpackt in Rezensionen, Briefe, Kommentare und meist auch nur unter Pseudonym, was einer der Gründe dafür ist, dass die Literaturwissenschaft diesen speziellen Kampf Seumes für ein besseres Leipziger Theater zuvor überhaupt nicht wahrgenommen hat.

Und Härtl analysiert nicht nur all die Beiträge, die in diesem über Zeitschriften ausgetragenen Ringen erschienen sind, er macht auch all die Spieler sichtbar, die in diesem Ringen eine Rolle spielten, darunter auch etliche bekannte Akteure aus dem großen Freundes- und Bekanntenkreis Seumes wie Carl August Böttiger, Christian Gottfried Körner oder Garlieb Merkel.

Aber selbst bekannte Leipziger Akteure wie Adolf Wagner, der Onkel Richard Wagners, tauchen auf. Und auf einmal sieht man auch ein anderes Leipzig, das so auch in der Leipziger Stadtgeschichte selten beleuchtet wurde, das Leipzig der Spätaufklärung und der Spätromantik, das sich auf Schlegel, Goethe, Schiller und Lessing bezog, die Antike rezipierte und durchaus den Mut hatte, das Wort Nationaltheater in den Mund zu nehmen. Aber statt Schiller, Lessing und Shakespeare bekamen die Leipziger Kotzebue und Iffland vorgesetzt. Oder heute noch vergessenere Dramenschreiber.

Auch dieses kritische und gebildete Bürgertum muss man mitdenken, wenn man über das widerständige Leipzig schreibt. Seume sowieso, über den Härtl schreibt: „Es dürfte keinen zweiten deutschen Schriftsteller geben, der so vehement in den Privilegien, die die Gesellschaft in Bevorrechtende und Bevorrechtete spalteten, die Ursache allen Übels sah. Die mit dem vergeblichen Kampf gegen das Theaterprivilegium misslungene Probe aufs Exempel, ob etwas gegen Privilegien überhaupt auszurichten sei, kann Seume nicht optimistisch gestimmt haben.“

Dieses „kann“ steht auch für die Unsicherheit, wie Seume eigentlich darauf reagierte, dass das Theaterprivileg für Franz Sekonda zu seiner Zeit doch wieder verlängert wurde. Denn der geistige Streit in den Zeitschriften endete erst einmal, auch bedingt durch die Niederlage der preußischen und sächsischen Truppen in der Schlacht bei Jena und Auerstedt. Womit auch der kurz aufflammende, preußisch angehauchte Nationalismus wieder in sich zusammenfiel, der Seume mit einigen seiner Freunde entzweit hatte.

Denn von diesem von Intellektuellen aufgestachelten „Volks“-Nationalismus hielt er genauso wenig wie von Napoleon. „Die Nation, welche nur durch einen einzigen Mann gerettet werden kann und soll, verdient Peitschenschläge.“ Er wusste ja, wie sich das anfühlt, wenn man als armer Kerl in eine Uniform gesteckt wird und dann für die Privilegien der hohen Herren losziehen soll, um andere arme Teufel in Uniform abzustechen.

Und nicht ganz anlasslos geht Härtl auch auf Seumes Apokryphen ein, die genau in dieser Zeit entstanden und eigentlich zusammen mit „Mein Sommer 1805“ veröffentlicht werden sollten. Aber das war selbst dem mutigen Verleger Hartknoch in Rudolstadt zu heiß. Die Apokryphen erschienen erst nach Seumes Tod, 1811. Und darin findet sich – und Härtl zitiert es natürlich – auch ein scharfes Gedicht gegen Privilegien. Zitat gefällig? Bitteschön: „Sie sind geboren, flott zu leben. / Die andern büffeln nur und geben: / Das ist das Privilegium.“

Sage keiner, dass Seume nicht modern und hochaktuell ist. Er würde heute eine ähnlich spitze Feder schreiben. Nur würden ihm die wirkmächtigen Zeitschriften fehlen, die sich für solche Geisteskämpfe noch eignen würden. Deshalb gibt des die großen Diskussionen über Privilegien auch nicht mehr. Privilegien, die genauso wie 1806 verhindern, dass sich die Dinge zum Besseren verändern. Ab 1806 war Sachsen von den Franzosen besetzt und Seume hatte zunehmend mit gesundheitlichen und pekuniären Problemen zu kämpfen.

Reich wird man nämlich nicht, wenn man die Privilegien der Selbstgerechten infrage stellt. Im Gegenteil: Die bissigsten Texte erscheinen gar nicht mehr. Der Kyniker, der die erstarrten Verhältnisse infrage zu stellen gewagt hat, ist zum Verstummen verdammt. Am Ende war es eine untertänigste Adresse von Leipziger Ratsherren und Theaterenthusiasten, die den Kanzler des Königs dazu bewegten, den Leipzigern die Errichtung eines eigenen Theaters zu erlauben. Aber befristet. Wer weiß denn, ob die Leipziger das überhaupt hinbekommen so ohne königliche Gunst?

So ist Deutschland. Und so wirklich viel hat sich daran nicht geändert. Die Privilegierten lieben es, wenn sie Ergebenheitsadressen und Bittschriften bekommen. Deswegen sind privilegierte Posten so begehrt. Wer möchte nicht selbst mal König sein und Gnade walten lassen, wenn jemand huldvollst bittet? Manchmal bin ich selbst erstaunt, wie gegenwärtig so manches wirkt, was vor 200 Jahren schon Männer wie Seume ins Grab getrieben hat.

Heinz Härtl Johann Gottfried Seumes Kampf für ein besseres Leipziger Theater, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2021, 22 Euro.

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Es gibt 2 Kommentare

Dankeschön, lieber Ralf Julke für die, wie immer allumfassende Rezension.

Liebes(?) Ro, interessant ist ja, dass es damals in Leipzig außer dem von Dresdens Königlicher Majestät zugelassenem Theaterspiel, keinerlei öffentliche aufgeführten Dramen im Sinne der bürgerlichen Hoheit der Stadt Leipzig gab.
Nun und da denke ich, ist der Begriff “Nationaltheater” damals eher als Abgrenzung zur königlichen Volksverdummung aus Dresden gemeint.
Interessieren würde mich, ob es da damals noch so fahrende Sänger gab, die dem König wohl eher nicht gefallen haben? Fällt das unter Laienspiel?

Wenn man das mit heute vergleichen wollte, Schlager-Volksmusik anstatt Volkslieder und dramatische Kunst mit den Texten, der Menschen, die sich in der Zeit Gedanken machen.
Zeitübergreifend und -dauernd, im besten Falle.
Warum da die Trennung des gesprochenen, gesungenen Wortes darstellend auf der Bühne zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur von außerhalb Sachsens, in erster abgrenzender Definition zum “Nationaltheater” erklärt,
die der Sächsische Dresdner König offensichtlich auch nicht wollte?

Gegen Privilegien und Privilegierte anschreiben, schön und gut. Aber muss man hier in dieser Buchbesprechung (vielleicht auch im Buch selbst?) so unkritisch die Nationaltheateridee nacherzählen?
Von einer kulturellen Entwicklung vom “Niederen” zum “Höheren” in puncto europäische Theatergeschichte auszugehen, ist bestenfalls eine veraltete Lehrmeinung. Unideologisch betrachtet, gibt es zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten verschiedene Formen von Theater. Es gibt literaturbasiertes Theater und es gab und gibt Theater, das die Erfindung von Schauspielerinnen und Schauspielern ist, sowie alles mögliche dazwischen und darum herum.
Fragt man nach den Funktionen von unterschiedlichen Theaterpraktiken, sind Bewertungen im Sinne von “gut” bzw. “wertvoll” und “schlecht” dem Verständnis historischer Phänomene und Entwicklungen eher abträglich. Jede Theaterform hat für ihr Publikum bestimmte Funktionen – so eine Funktion kann z.B. ein bürgerliches Bildungsprogramm sein, muss es aber nicht.
Und selbst wenn ein literarischer Text die Grundlage eines Theaterabends bildet, gilt die Binsenwahrheit: Literatur ist nicht Theater und Theater ist nicht Literatur. Auch im Hinblick auf literaturzentriertes Theater war und ist die Frage, was man bevorzugt, Goethe oder Kotzebue, “Sprechtheater” oder Singspiel, nicht nur eine Frage von persönlichen ästhetischen und moralischen Auffassungen, sondern ebenso eine Frage des Geschmacks, eben auch des Geschmacks eines Johann Gottfried Seume. Wenn Seume sich der Frage widmet, ob und wie zeitgenössische Akteur*innen auf dem Theater mit der Literatur spielen, sagt das viel darüber aus, welche Wirkungen Theater seiner Meinung nach hervorbringen sollte, aber wenig über die Qualitäten der Theaterereignisse an sich.

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