Ja, wie denn nun? Ist das nun eine revolutionรคre Ausstellung zur 1.000-jรคhrigen Leipziger Stadtgeschichte oder nicht? Gibt's was Neues zu sehen oder ist es nur der alte Klumpatsch aus Wustmanns Zeiten? - Wer groรŸe Schatzfunde und sensationelle Neudatierungen erwartet, wird natรผrlich enttรคuscht sein. Der Begleitband nimmt mit in die wissenschaftliche Puzzle-Arbeit auf 1.000-jรคhrigem Grund.

Es ist nicht nur ein Katalog geworden, obwohl einige Ausstellungsstรผcke der Ausstellung โ€œ1015. Leipzig von Anfang anโ€ auf einzelnen Seiten besonders gewรผrdigt werden. Es ist auch nicht der in der Ausstellung angekรผndigte Stadtrundgang zu den aufregendsten Ausgrabungsstรคtten der vergangenen 23 Jahre. Denn die sind natรผrlich ein Herzstรผck der Ausstellung und auch der Auseinandersetzung um fast alle Fragen, die zur frรผhen Leipziger Stadtgeschichte bis heute offen sind. Selbst in den Kรถpfen der Forscher.

Wer die in diesem Band enthaltenen Texte zur Ersterwรคhnung, zur frรผhen Besiedlung, zur Stadtgrรผndung und den Lebensverhรคltnissen in der frรผhen Stadt liest, merkt das ziemlich schnell. 38 Autoren haben Texte beigetragen zu diesem Band. Und lange gรผltige Thesen, die die einen Autoren noch immer benutzen, als wรคren sie seit Ewigkeiten wissenschaftlich gesichert, fegen andere Autoren einfach mal vom Tisch. Am liebsten tut es der Chef der Leipziger Ausgrabungen, der Landesarchรคologe Thomas Westphalen. 200 Ausgrabungen im Leipziger Stadtgebiet hat er seit 1992 betreut. Manche dieser Ausgrabungen wurden zu spektakulรคren Medienereignissen โ€“ wie die auf dem Thomaskirchhof (wo Spuren des Thomasklosters zum Vorschein kamen), auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz (Petersvorstadt) oder dem Augustusplatz (Grimmaische Vorstadt).

Da kennt der Archรคologe nichts: Wenn die faktischen Befunde im Erdreich nicht zu den erzรคhlten Legenden passen, sind die Legenden reif fรผr den Papierkorb. Zu diesen Legenden gehรถren noch immer die Behauptungen, die alte Burg โ€œurbe libziโ€ sei der Ursprung der Stadt und der Richard-Wagner-Platz der alte Kreuzungspunkt der Handelswege. Letzteres lรคsst sich mit nichts belegen. Und der erste Fakt wurde deutlich, als die Archรคologen den alten Graben, der einst den Burgward Leipzig umgab, auf der Grabungsstelle โ€œHainspitzeโ€ wiederfanden. Nicht nur machte der Graben erstmals deutlich, wie groรŸ der Siedlungsbereich innerhalb des Grabens tatsรคchlich war โ€“ 4 Hektar, was dieses frรผhe Leipzig auch fรผr die alte Mark Merseburg / Mark MeiรŸen zu einer groรŸen Siedlung macht. Westphalen: โ€œEigentlich zu einer richtigen Stadt fรผr ihre Zeit.โ€

Nur ohne Stadtrecht. Das gabโ€™s erst irgendwann zwischen 1156 und 1170. Und das auch erst fรผr die neue Stadt, die รถstlich der alten Burg entstand. Einige Autoren sprechen auch von mehreren mรถglichen Siedlungskernen auรŸerhalb der Burgwardssiedlung. Aber da begeben sie sich wieder auf hรถllisches Glatteis, denn archรคologisch sind solche nicht nachgewiesen. Das betrifft auch die immer wieder herbeigeredete mรถgliche Siedlung um die alte Peterskirche herum, die einige Autoren immernoch zur ursprรผnglichen, 1017 von Thietmar von Merseburg erwรคhnten ersten Leipziger Kirche machen wollen.

Dass die Leipziger schon deutlich vor 1165 auรŸerhalb der Siedlung auf dem spรคteren Matthรคikirchhof siedelten, schlieรŸen Thomas Westphalen und seine Mitarbeiter aus der Verfรผllung des alten Grabens, der spรคtestens im Jahr 1110 schon verfรผllt war. Davon erzรคhlt ein Pfosten, der in diese Fรผllschicht gehauen worden war. Damit rรผckt die Neuparzellierung der Stadt fรผr den Landesarchรคologen in die ersten Jahrzehnte des 12. Jahrhunderts. Es mag der trockene Forscherstil des Autors sein, aber so mancher Satz wirkt bei ihm auch wie eine grimmige Zurรผckweisung der immer gleichen unbelegten Behauptungen zur Stadtgeschichte: โ€œNicht bestรคtigt wurde die Annahme, eine frรผhe Peterskirche habe als รคltere Siedlungskirche unmittelbar sรผdlich des Peterstores gelegen. Die groรŸflรคchigen Grabungen in der Petersvorstadt brachten keine Hinweise auf eine Siedlung des 11. Jahrhunderts.โ€

Die Grรผndung der (neuen) Stadt Leipzig spielte sich also eindeutig รถstlich des alten Burgwardsitzes ab, den man sich nach wie vor eher als ein Bauensemble in Holz, Lehm und Stroh vorstellen muss. auch wenn Herbert Kรผas hier auf die gewaltigen Fundamente eines Steinturmes stieรŸ. Der gehรถrt eher ins 13. Jahrhundert. Stein war selten im frรผhen Leipzig. Die ersten Steingebรคude, die die Leipziger bauten, waren die Nikolaikirche und die Thomaskirche. Der ganze Rest der Stadt war bis ins 15. Jahrhundert hinein aus Fachwerk gebaut. Die Hรคuser waren meistens nur ein-, zweistรถckig, hinter den Hรคusern lagen Brunnen, Latrinen, Wirtschaftsgebรคude. Am Matthรคikirchhof wurden halbermeterhohe Schichten mit Pferdemist gefunden โ€“ Hinweis darauf, dass Pferdestรคlle im frรผhen Leipzig normal waren. Aber auch Kรผhe, Schweine, Gรคnse und Hรผhner wurden innerhalb der Stadt gehalten. Die ansรคssigen Metzger hatten alle Hรคnde voll zu tun. Die meisten Gehรถfte hatten wohl auch eigene Gรคrten.

Erst ein verheerender Stadtbrand um 1420, der den Norden der Stadt komplett zerstรถrte, brachte die Leipziger Hausbesitzer zum Umdenken. Neben den Brandspuren der seinerzeit abgefackelten Fachwerkhรคuser fanden die Archรคologen Teile der frรผhen gemauerten Gewรถlbekeller. Dass es trotzdem Jahrhunderte dauerte, bis die Stadt wirklich aus Stein bestand, lag wohl auch daran, dass Steine als Baumaterial in der nรคheren Umgebung nicht zur Verfรผgung standen. Man musste Ziegel brennen aus dem Lehm der Elsteraue โ€“ die Stadt betrieb auch entsprechende Lehmgruben und Ziegeleien, die aber oft genug nicht den wachsenden Bedarf deckten. Erst recht nicht, als der zunehmende Mauerbau fรผr die Befestigung der Stadt die Kontingente verschlang. Die Verteidigung der zunehmend reicher werdenden Stadt ging vor.

Natรผrlich gibt es auch Beitrรคge, die sich mit der ganz frรผhen Siedlungsgeschichte beschรคftigen und der Frage, warum ausgerechnet auf dem Sporn des spรคteren Matthรคikirchhofs die erste Siedlung entstand. Aber darauf haben mittlerweile Geologen wohl die besten Antworten gefunden: An dieser Stelle konnte der รœbergang รผber die Parthe am besten kontrolliert werden. Und er lag trocken: 5 Meter รผber der Sohle der Parthe. Wobei die Frage offen bleibt, ob es nicht doch eine frรผhere slawische Siedlung in Hรถhe der HumboldtstraรŸe gab. Funde deuten darauf hin.

Streitfall war auch immer die Lage des alten kurfรผrstlichen Schlosses, das auch Enno Bรผnz, der die Materie eigentlich bestens kennt, immer wieder PleiรŸenburg nennt, obwohl der Name PleiรŸenburg erst fรผr den Neubau unter Hieronymus Lotter nachweisbar ist. Als die Archรคologen fรผr eine neue Tiefgarage auch mal den Burgplatz aufgraben durften, hรคtten sie gern auch Spuren des alten Schlosses gefunden, das auf den Stadtansichten von 1537 und 1547 noch zu sehen ist (auch zur Stadtansicht von 1537 schwenkt das Stadtgeschichtliche Museum jetzt um, das noch 2006 aus fester รœberzeugung drucken lieรŸ, es sei eine Ansicht von Nordwesten. Es ist aber โ€“ wie die von 1547 โ€“ eine von Sรผdosten). Gefunden haben sie einen mรถglichen Burggraben an der LotterstraรŸe.

Aufschlagseite fรผr Kapitel 7 "Schatzkammern des Wissens". Foto: Ralf Julke
Foto: Ralf Julke

Die Rekonstruktion, die Helge Svenshorn vornimmt, verortet das alte, im 13. Jahrhundert angelegte Schloss in einem Dreieck, das vor allem den Burgplatz selbst einschlieรŸt. Da, wo heute der Rathausturm steht, vermutet er den Standort des Turmes, der damals an der Sรผdwestecke der Stadt stand. Das alte kurfรผrstliche Schloss lag also nicht da, wo die PleiรŸenburg stand, sondern eher โ€œdahinterโ€.

In zehn Kapiteln versucht der Band deutlich zu machen, aus welchen Puzzle-Steinen sich die Stadtgeschichte zusammensetzt und wie schwer es oft genug ist, aussagekrรคftige Hinweise zur frรผhen Stadtverwaltung, zu Kirchen, Klรถstern und Rechtsbeziehungen zu finden. Die Ereignisse um den Aufstand von 1216 (der die Stadt Leipzig tatsรคchlich erst ins Licht der Geschichte rรผckte), sind nur aus den Pegauer Annalen bekannt. Und man spรผrt die Enttรคuschung der Forscher รผber die dรผnne Quellenlage. Denn wenn Leipzig sich schon ab 1110 zur Stadt mauserte, dann ist das wirklich die erste Stadtgrรผndung in der Mark MeiรŸen, die dann spรคtestens um 1150 schon ein fรผr die Zeit rasantes Tempo angenommen haben muss. Denn die Bรผrger, die da 1215 Dietrich den Bedrรคngten herausforderten, mussten schon รผber einiges Selbstbewusstsein verfรผgt haben. รœber einen gewissen Wohlstand wohl auch.

Der Band nimmt den Leser also mit in die durchaus teilweise noch offenen Diskussionen der Forscher, zeigt aber auch, wie gerade der Alltag in der Stadt durch die Ausgrabungen mittlerweile recht plastisch beschrieben werden kann. Einige Themen โ€“ wie die Gestalt der frรผhen Nikolaikirche โ€“ werden recht intensiv diskutiert. Bis hin zu jenen Stadtansichten von 1537 und 1547, die eben schon eine voll ausgebaute mittelalterliche Stadt mit ihren Wehranlagen zeigen. Und was die Ansicht von 1537 so besonders โ€œunรผbersichtlichโ€ macht, ist die schlichte Tatsache, dass noch eine komplette Vorstadt โ€“ die Petersvorstadt โ€“ vor der Stadt steht, die 1547 fehlt, weil sie im Schmalkaldischen Krieg fรผr ein besseres Schussfeld einfach abgebrochen wurde.

Man hat also einen gewissen aktuellen Stand der fassbaren Stadtgeschichte. Und die Entwicklung, die da zwischen 1015 und 1547 vor sich ging โ€“ wird wieder etwas greifbarer. Was nicht alle Fragen klรคrt. Aber ein paar alte Legenden vielleicht endlich zum Altpapier schafft.

Volker Rodekamp, Regina Smolnik (Hrsg.) โ€œ1015. Leipzig von Anfang anโ€, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Leipzig 2015

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar