Wenn Wissenschaftler Fragen stellen, sind es oft die Antworten, die sie nicht geben (können), die mehr über das untersuchte Phänomen verraten als alle Statistiken. So ist es auch bei diesem tapferen Buch, das versucht zu erklären, warum Sachsen mit einer Ballung extremistischer Gewalttaten derart in die Schlagzeilen geraten konnte.

„Was ist los in Sachsen?“, fragen die Autoren, die Gert Pickel und Oliver Decker für diesen Band um Beiträge gebeten haben. Fast alle – wie Pickel und Decker – ebenfalls ausgewiesene Soziologen, Politik- und Gesellschaftswissenschaftler, die sich seit Jahren mit Fragen politischer Radikalisierung und der Entstehung extremistischer Strömungen beschäftigen. Heiß diskutiert sind die diversen „Mitte“-Studien aus Leipzig, an denen auch Oliver Decker mitwirkt. Im Frühjahr 2016 landeten die Leipziger Sozialpsychologen einen regelrechten Coup, als sie den neuen Studienband betitelten mit „Die Enthemmte Mitte“.

Da hatten sie ins Wunde getroffen. Was übrigens in diesem Buch auch diskutiert wird. Denn neu ist der Befund ja nicht, dass extreme politische Einstellungen eben kein Alleinstellungsmerkmal der politisch Extremen sind. Sie sind weit in die Mitte unserer Gesellschaft nachweisbar. Und da wird diese Gesellschaft dünnhäutig. Denn seit mindestens 1998 kämpfen ja die meisten Parteien genau um diese „Mitte“, auch wenn meist höchst unklar ist, wer eigentlich dazugehört.

Weniger unklar ist, dass es dem deutschen Mittelstand ganz genauso geht wie dem Mittelstand in den USA und den anderen westlichen Ländern: er schmilzt. Lukrative (Industrie-)Arbeitsplätze verschwinden, Reiche und Arme driften immer weiter auseinander und gerade bei den Menschen in dieser „Mitte“ geht zusehends die Angst um, abzusteigen in die prekäre Unterschicht. Eine reale Angst, die meist verbunden wird mit der Globalisierung als Begründung.

Wobei es eben nicht die Abgestiegenen sind, die da seit 2014 auf Dresdens Straßen verbal gegen Medien, Politik und Demokratie poltern. Sämtliche Untersuchungen dieser „Volksbewegung“ deuten darauf hin, dass man es größtenteils mit Menschen zu tun hat, die gut verdienen, oft sogar zur oberen Mittelschicht gehören – aber trotzdem voller Vorurteile gegen Ausländer, Flüchtlinge, Andersdenkende sind.

So weit gingen die Auswerter der „Mitte“-Studien eigentlich bisher nicht. Aber wer diese stark chauvinistisch geprägten Strömungen näher betrachtet, der merkt schon, dass er es hier tatsächlich mit dem deutschen Kleinbürgertum zu tun hat, das sich so gern in der Mitte der Gesellschaft verortet, gleichzeitig aber höchst anfällig ist für Abstiegsängste. Und auf die reagiert es mit einer Flucht in Abgrenzung, Ausgrenzung, Abwertung anderer Gruppen und der Aufwertung der eigenen.

Und damit wird gerade diese Gruppe, die so gern als verlässliche Basis der Demokratie glorifiziert wird, zur eigentlichen Schwungmasse für Extreme. Denn mit der Verunsicherung gekoppelt ist nachweislich immer die Sehnsucht nach einer starken Führung und einer Bevorzugung der eigenen Nation. Was da also derzeit an „populistischen“ Bewegungen in der westlichen Welt zu beobachten ist, hat seine Wurzeln und kommt eigentlich nicht überraschend.

Eher zur Frage wird für die Wissenschaftler: Warum kocht das gerade in Sachsen jetzt so hoch? Denn von den rechtsextremen Ansichten her unterscheiden sich die Sachsen nicht wirklich stark vom Bundesdurchschnitt.

Und das ist das Thema, das die Autoren nur antippen. Vermutungen gibt es ja eine Menge. Ist die besondere ostdeutsche Erfahrung der Grund? Ist es die Überhöhung der sächsischen Heimat? Ist es eine besondere Deprivationserfahrung?

Am Ende kommt ein ganzes Dutzend von Erklärungsansätzen zur Sprache, die auch durch die Medien geistern. Bis hin zur Vermutung, dass der massive Auftritt von PEGIDA die Schwelle für chauvinistische Ressentiments in Sachsen gesenkt hat.

Oder tendiert unsere Gesellschaft von ganz allein zu immer mehr Extremen? Was dann auch die Beschäftigung mit den zunehmenden Gewalttaten von Rechts- und Linksextremisten mit sich bringt und die wissenschaftliche Überlegung: Stimmt denn die Extremismus-Theorie überhaupt? Hat die zunehmende „urbane Gewalt von rechts und links“, wie sie Alexander Yendell und Oliver Decker in einem Beitrag untersuchen, überhaupt mit der verbalen und politischen Radikalisierung im Land zu tun? Oder ist sie nur das Ergebnis einer Verschiebung?

Zu Recht gehen Decker und Pickel in einem Nebensatz darauf ein, dass vor der Radikalisierung auf der Straße eine ganz andere Radikalisierung passiert ist: nämlich in der politischen Diskussion. Das Thema haben die Wissenschaftler freilich noch nicht untersucht. Denn die Akzeptanz für bestimmte Haltungen, die bislang vom demokratischen Konsens als inakzeptabel betrachtet wurden, steigt ja, wenn immer mehr etablierte Politiker auf die Argumentationsschiene der rechtsextremen Dimension ausweichen. Sie appellieren damit ja nicht an die Vernunft der Bürger, sondern an Gefühle – Gefühle der Angst, der Deprivation, der Verunsicherung, insgesamt eigentlich des zunehmend verunsicherten narzisstischen Menschen.

Auch das wird angetippt: Dass die Demokratie einen Teil ihrer Akzeptanz auch daher gewinnt, dass sie Menschen an Politik, Wohlstand und Aufstieg teilhaben lässt. In den „Mitte“-Studien wird es sehr ausführlich erklärt, wie sehr Demokratie von den Bürgern auch als Versprechen betrachtet wird, eben nicht nur als Deckmäntelchen für einen immer härteren Wettbewerb um Arbeitsplätze und Wohlstand. Und die Verunsicherung in den westlichen Gesellschaften ist seit Jahren zu beobachten, medial gern allein auf den Prozess der „Globalisierung“ fokussiert. So, wie es auch jetzt nach Trumps Wahlsieg in den USA wieder passiert. Da erscheint dann Protektionismus auf einmal als neue Rettung in gefühlter Not.

Aber spätestens, wenn Prof. Dr. Anton Sterbling über „Globalisierung“ anfängt zu reden, weiß man: Das ist die falsche Erklärung. Gerade weil Sterbling es immer wieder wiederholt, obwohl er doch als Soziologieprofessor an der Hochschule der Sächsischen Polizei angefragt war, über die Schwierigkeiten der sächsischen Polizei bei den Ermittlungen im rechtsradikalen Milieu zu schreiben. Sein Beitrag ist aber nur eine Verteidigungsrede, die seltsame Schleifen nimmt und von lauter Entschuldigungen strotzt. Dass die sächsische Polizei einen „Problemzustand“ hat, erwähnt er zumindest, tut dann aber so, als wäre das mit „erhöhten Einstellungen bei der Polizei und der Einrichtung einer ‚Wachpolizei‘“ schon entschärft. Was einfach nicht stimmt.

Wenn er dann aber auch noch von „Massenzuwanderungen“ anfängt zu schreiben und – ohne Bremsen – nicht nur davon redet, dass eine „erhöhte Gefahr des islamistischen Terrorismus und zumindest ein zusätzliches Rekrutierungs- und Entwicklungspotenzial dafür gegeben scheint“, sondern auch noch die Vorurteile des fremdenfeindlichen Diskurses aufgreift, dann nimmt man ihm alle seine Ausreden zur überforderten Polizei nicht mehr ab. Dann zeigt er eigentlich selbst, wie sehr auch der höhere sächsische Polizeidienst schon im Denken die Position der Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit verlassen hat. Er behauptet einfach mal, dass „auch andere Formen der sozialmoralischen Devianz und Kriminalität Begleiterscheinungen der hohen Immigration sind.“ (Was er übrigens nicht belegt und auch nicht belegen kann.) Aber eigentlich hat er ja nichts gegen Ausländer. Oder in seinem gleich anschließenden Satz: „Um dies nicht falsch zu verstehen …“

Entweder wurde der Beitrag mit wissenschaftlichem Anspruch geschrieben, dann ist der Autor verpflichtet, so zu schreiben, dass er nicht misszuverstehen ist. Oder hier lässt einer seine Gesinnung durchblicken. Denn die steckt in der Unterstellung mit der „sozialmoralischen Devianz“. Devianz klingt hochwissenschaftlich, bedeutet aber eben nur: „Handlungen, die gesellschaftlichen Regeln und Erwartungen widersprechen“. (Wikipedia)

Das ist der eigentliche Hallraum des sächsischen Chauvinismus, der sich brav bürgerlich gibt, seine Vorurteile und seine Verachtung aber so gut wie möglich in Watte packt. Und es gibt zu denken, wenn das ein Professor der Polizeihochschule sagt, nachdem sein ganzer Artikel ein einziges Abwiegeln ist, die Polizei hätte kein Problem mit dem wachsenden rechtsradikalen Milieu in Sachsen.

Dass er nicht einmal begründet, warum „die politischen Ränder“ in Sachsen „schlagartig erstarkten“, überliest man dabei beinahe. Und dass er selbst sogar politisch wird, wenn er gleichzeitig die Grenzöffnung im September 2015 halb lobt, halb tadelt, dann aber auch gleich von den „davon ausgelösten Mobilisierungsprozessen einer sich eigendynamisch verstärkenden Kettenmigration“ redet, ist zumindest erhellend.

Und man weiß zumindest nach Lesen dieses Beitrags, dass die sächsische Polizeihochschule zum Begreifen der Radikalisierung in Sachsen nichts beitragen wird außer ganz ähnlichen Reaktionen, wie man sie von den „emotionsgetriebenen“ Politikern kennt: Abstreiten, Abwiegeln. Schuld sind immer die Anderen.

Was übrigens auf einen Topos verweist, den nicht nur Oliver Decker zu Recht immer wieder ins Spiel bringt. Denn wenn man diese gesellschaftliche Unwucht immer nur als Extremismus versucht zu beschreiben, kommt man nicht weit. Man versteht die sozialpsychologischen Prozesse deutlich besser, wenn man in diesem scheinbar unbegreiflichen gesellschaftlichen Unmut den autoritären Charakter der Handelnden erkennt, ihre Sehnsucht nach „klaren Verhältnissen“, „einer starken Führung“, einer einfachen, überschaubaren Welt – ohne all diese unüberschaubaren Veränderungen und Zumutungen, diese permanente Überforderung nicht nur durch die „Globalisierung“, sondern durch die fortwährende Modernisierung der kapitalistischen Welt. Die Flucht in alte, idealisierte Vorstellungen von Nation und „Volk“ sind dabei gar nicht neu. Nur die Art, wie sie an die Öffentlichkeit drängt, ist (scheinbar) neu.

Und dass das vor allem ein Problem des politischen und medialen Diskurses ist, wird zumindest in Nebensätzen angedeutet, auch wenn Gert Pickel, Oliver Decker und Steffen Kailitz dann in einem Dreiergespräch eher über die Probleme der (Rechts-)Extremismusforschung sprechen und damit das Thema von einer neuen Warte betrachten. Denn die Reaktionen auf die im Frühjahr veröffentlichte „Mitte“-Studie haben es ja gezeigt: Mit der Verortung der Verunsicherung und Radikalisierung ausgerechnet in der behüteten Mitte unserer Gesellschaft haben die Sozialwissenschaftler tatsächlich ein Tabu-Thema angesprochen. Der Beitrag des Polizeiprofessors zeigt es deutlich: Genau darüber möchte man eigentlich nicht reden, da ist doch alles in Ordnung.

Ist es nicht. Wer nur über Links- und Rechtsextremisten redet, ignoriert die Wucht des „Extremismus der Mitte“ und die eigentlich gefährlichen Zentrifugalkräfte unserer Gesellschaft. Schönreden – und das ist das eigentliche Problem in Sachsen – stärkt diese Radikalisierungsprozesse nur.

Deswegen kommt man als Leser auch zu ein paar anderen Schlüssen als die Autoren des Buches, auch wenn deren Appell an die Mobilisierung der demokratischen Kräfte verständlich ist.

Wenn sich aber die demokratischen Kräfte um ihre eigenen radikalen Denkhaltungen herumschlawinern, hilft das alles nichts. Diese Diskurse fehlen, stellen Decker und Pickel fest. Und damit kommt es zur „stillschweigenden Unterhöhlung demokratischer Umgangsformen“. Die eigentlich spannenden Themen fehlen also noch in diesem Band, wenn man begreifen will, was da in Sachsen eigentlich ins Rutschen gekommen ist.

Gert Pickel; Oliver Decker Extremismus in Sachsen, Edition Leipzig, Leipzig 2016, 12,95 Euro.

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