Eigentlich ist dieses Heftchen eine kleine Zeitreise. Eine extra für Schweinevogel-Freunde. Ein Geburtstagsgeschenk ist es irgendwie auch. Denn dieses Urvieh wird in diesem Jahr tatsächlich schon 30 Jahre alt, auch wenn es sich wie ein Dreizehnjähriger benimmt, der irgendwie in einer opulenten Null-Bock-Phase festhängt. Und das auch noch im Piccolo-Format.

Passt in jede Arschtasche, verspricht Autor und Erfinder Schwarwel, den sein Schweinevogel nun über große Zeitenwenden, Täler und Höhen und alle anderen Turbulenzen des Lebens begleitet hat. Und seine Leser erst recht. Die haben schon dicke Schweinevogel-Bücher bekommen, haben die einzelnen Streifen aber auch schon gedruckt und online gesehen. Schwarwel produziert die Dinger praktisch am laufenden Band. Meist reicht ihm ein Stichwort wie „Schweinebacke“ oder „Frühlingsbote“, und los geht’s. Die Geschichte entsteht fast von allein. Eigentlich muss er nur zuhören und zugucken und wahrnehmen. Denn Leben passiert ständig. Manche Leute kriegen es ja gar nicht mit und ziehen lange Gesichter, weil so gar nichts los zu sein scheint in ihrem Leben. Was nicht am Leben liegt, sondern an ihrem Aufmerksamkeitsdefizit.

Vielleicht wird es ja mal als Syndrom anerkannt von der Wissenschaft. Als echtes Syndrom, nicht dieses falsche, das man für gewöhnlich Zappelphilipp-Syndrom nennt, weil die Kinder nicht mehr still sitzen können, weil sie nicht genug Aufmerksamkeit bekommen.

Dass es vielleicht an fehlender eigener Aufmerksamkeit liegen könnte, scheint zumindest die Psychologen noch nicht besonders zu interessieren. Denn all diese Zappelphilippe scheinen zwar zu unserer Zeit zu passen, wo jeder Geck fortwährend im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen will. Alle sind nur noch mit Selfies beschäftigt.

Aber sie sehen dafür ihr eigenes Leben, ihre Umgebung und die Menschen um sich herum nicht mehr.

Anders als Schwarwel, der das „tägliche Verarbeiten des Erlebten und Gesehenen“ zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Man sieht dann nicht nur Herrliches oder Fürchterliches, große Shows, viel Natur, jede Menge Blödsinn und Narretei. Man sieht auch – wenn man das ernsthaft betreibt – sich selbst. Und zwar nicht nur im Spiegel. Doktor Freud hat ja bekanntlich dicke Bücher darüber geschrieben und fand es nicht so toll, weil es so sehr nach verinnerlichtem Obrigkeitsstaat aussah: das Über-Ich guckt zu, was der innere Schweinehund so treibt die ganze Zeit. Und in der Regel hat der innere Schweinehund zu gar nichts Lust, ist müde, mutlos, will irgendwie nur noch abhängen, die Seele baumeln lassen und sich ganz schweinisch danebenbenehmen. Oder gar nicht benehmen.

Wer ehrlich ist, gibt das zu. Ohne diesen ewig Widersprechenden und Maulenden ist der protestantische Leistungsmensch nicht denkbar. Oder mal so gesagt: Die Glorifizierung des immerbereiten Malochers hat den Platz für den Menschen, der mal mit gutem Gewissen alle Viere von sich strecken will, schrumpfen lassen, in den meisten Leben auf Null. Er hat ihn in ein permanentes schlechtes Gewissen verwandelt, das uns jede freie Minute, jeden Sonntag, jeden Urlaub, jeden Feierabend vergällt. Was übrigens ein Grund dafür ist, dass die meisten sich auch noch die freie Zeit zupacken mit lauter Dingen, die getan werden müssen. Und selbst wenn sie mal einen Abend für sich haben, halten sie das nicht aus – und schalten die immerbereite Glotze an, die wenigstens dafür sorgt, dass fortwährend geschäftige Bilder durch unser Hirn schwappen.

Und Schweinevogel?

Schweinevogel macht das, was alle anderen nur allzu gern machen würden, wenn sie sich das auch nur mal erlauben würden. Und er tut es exzessiv. Im Grunde handeln alle 50 Schweine-Vogel-Kurzgeschichten in diesem Bändchen immer wieder vom selben: von Schweinevogels erfolgreichem Kampf gegen die Verfügbarkeit. Er liegt meistens auf seiner Lieblingscouch, Erdnussflips und Lieblingsdrink in der Pfote, und geht mit meist gründlich egoistischen Argumenten auf alle Anspielungen von Hausmütterchen Iron Doof ein, er möge vielleicht mal aufstehen, mithelfen, saubermachen oder irgendwelche anderen Dinge tun, die die Welt verändern. Und das werden zuweilen beklemmende Situationen, weil Iron Doof selbst immer wieder in Panik verfällt im Angesicht des Berges von Arbeit und flehentlich um Hilfe und Erlösung bettelt.

Man darf ruhig auch die vielen Szenen aus dem eigenen Leben dabei vor Augen haben, bis hin zu den allerschlimmsten Ehe-Klischees. Denn das, was bei Manchen innerlich tobt, das verwandelt sich bei Anderen in schmerzhafte Ehe-Szenen, die sie begleiten – entweder bis zur Scheidung oder bis zum Ende aller Tage. Manche kommen da nie raus. Nicht einmal die Kerle, die sich tatsächlich so wie Schweinevogel benehmen, der sich zwar wie ein richtiges Schwein aufführt, ein richtig dickes Fell hat und keine Lust, zu schwerwiegenden Entscheidungen.

Aber es gibt da ein paar Stripes, da lässt dieser Schwerenöter durchaus durchblicken, dass er eigentlich nur der etwas dickere Teil eines fortlaufenden inneren Dialogs ist, etwas, was Autoren von inneren Monologen nie begreifen werden: So richtig deftig streiten mit sich selbst kann man nur, wenn man mindestens zu zweit ist. Freud hat das gewusst, hat sogar so eine Art innere Dreieinigkeit erfunden.

Aber den meisten Leuten reicht die innere Ehe zwischen antrainiertem preußischem Pflichtbewusstsein und dem alten, ins Nicht-Bewusste verdrängten Bärentöter, der eigentlich nach all der Hetzerei nur mit gutem Gewissen auf seinem Bärenfell liegen möchte. Was Schweinevogel ausgiebig tut. Er ist der fleischgewordene Widerspruch gegen die Imperative einer vom Machbarkeits-Wahn besessenen Zeit. Darunter leidet zwar sichtlich Iron Doof. Aber wie gesagt: Es gibt diese kleinen Streifen (wie etwa den zum Stichwort „Schuld“), in denen Schweinevogels Zwiespalt und Kummer sichtbar wird. Denn selbst wenn er alles auf Iron Doof ablädt, irgendwie geht die Rechnung nicht auf: „Obwohl ich alle Schuld auf Iron Doof abgewälzt habe, fühle ich mich nicht halb so toll, wie ich gehofft hatte.“

Es gibt also für alle Liebhaber dieser Streifen immer mindestens zwei Lesarten für die kleinen Geschichten. Eine davon führt mitten hinein in die Welt eines getriebenen Zeichners, der immer mindestens auch zwei seiner Figuren ist, wenn er diese knackigen Szenen in Kästchen fasst. Manchmal liegt die Weisheit des Tages im Bauch eines dicken Comic-Tiers, das am liebsten nur mit lecker Futter die ganze Zeit Comics anschauen würde. Aber irgendwo da im Hintergrund klappert immer Geschirr, ist jemand am Putzen, Aufräumen, Geldverdienen. Und zumindest als dieses Tier noch klein und unschuldig war, hat es ganz bestimmt nicht geahnt, wie sehr es 30 Jahre später die Unbehaustheit der Zeit verkörpern würde. Wogegen es ja Mittel gibt: Mehr Pizza zum Beispiel! Oder noch mehr Erdnussflips.

Oder alle Schweinevogel-Stripes in hosentaschengerechten Piccolo-Bändchen. Dies hier ist der erste seiner Art. Ein zweiter folgt sogleich. Wenn wir Lust dazu haben und uns mal hochbemühen wollen vom Sofa. Aber wollen wir das? – „Mehr Pizza!!“

Schwarwel „Schweinevogel. Short Novels, Piccolo Nr. 1, Glücklicher Montag, Leipzig 2017, 4,90 Euro.

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