Für FreikäuferVor sechs Jahren legte der Einbuch Verlag schon einmal so einen Roman aus dem Hinterzimmerleben einer Partei im Westen Deutschlands vor: „Hinterzimmerei“ von Vera Luchten. Politik ist tatsächlich nichts für sensible Menschen. Schon gar nicht in einer alten roten Partei, in der auch noch jeder schmult, mit welcher Frau der neue Kandidat eigentlich zusammen ist. Logisch, dass eine Frau diese Geschichte erzählt.

Nicht ganz konzentriert auf einen Kulminationspunkt hin. Es ist keine Sieger- oder Wahlkampfgeschichte, auch wenn ihr übergewichtiger Protagonist Jan hier den OBM-Wahlkampf in einer 100.000-Einwohner-Stadt am Rhein bestreitet, der es finanziell nicht wirklich blendend geht. Die guten Zeiten sind vorbei und das teure Stadttheater und die desolate Schwimmhalle liegen der Stadt schwer im Magen. Ein Defizit im Haushalt gibt es außerdem. Es geht der Stadt da im einstmals prosperierenden Westen ganz ähnlich wie so vielen Städten im Osten.

Aber eigentlich geht es gar nicht um diese Stadt. Und auch nicht um einen ernsthaften OBM-Wahlkampf. Keine Richtungsentscheidung, kein Showdown. Nur ein etwas nervöser Aspirant auf das Amt, das irgendwie der Gipfel seiner Träume und seiner Lebensplanung ist. Und eigentlich müsste man ja mit ihm fiebern, müsste auch Verständnis für seine Fraktionskollegen aufbringen – den gealterten Fraktionsvorsitzenden, der das Amt bis in die letzten Züge trägt und noch mitten im Wahlkampf stirbt, oder den Parteifreund Gerd, der Politik so emsig ausübt wie eine Vokabelklausur – samt ganzer Regale voller kleiner schwarzer Notizbücher in seiner Garage, in denen er alles aufgeschrieben hat, was er in seiner politischen Karriere so erfahren hat. Ein Pfund zum Drohen?

Gar nicht. Erst erfährt man, wie er sich daheim zum Haustyrannen entwickelt hat, dann lernt man seine Frau Sine kennen, die mit dem ewig Umtriebigen eigentlich nichts mehr zu tun haben will – und mit Politik auch nicht. Und am Ende taucht Gerd sogar ab, als es spannend wird und die neuen Posten verteilt werden – und taucht in völlig neuer Rolle wieder auf.

Da hat der Leser sich schon eine Menge Gedanken darüber gemacht, warum es all diese Leute eigentlich in das politische Getriebe gelockt hat, in ermüdende Stadtratssitzungen, zähe Meinungskämpfe und – eigentlich das Schlimmste, was ihnen passiert – eine honorige Karnevalsfeier, bei der das Bier schal ist, die Reden unterirdisch sind und nur noch neidisch geschaut wird, wer nun wie nah am Podium sitzen darf.

Da ist man eigentlich schon froh, dass die sächsische Politik so wenig mit Karneval zu tun hat.

Da sitzt auch noch Mika neben Jan, die anfangs der Geschichte als die Begleiterin an seiner Seite eingeführt wird, eine kluge, aber auch selbstbewusste Frau, die Jan auch schon mal Paroli bietet und dennoch so ihre Zweifel bekommt, weil der Kandidat sie so überhaupt nicht in sein Leben lassen will. So emotional er sich gegenüber seinen eigenen Parteigenossen abschottet, so abgeschottet ist sichtlich auch sein Privatleben. Aber augenscheinlich scheut er sich, sich auf diese Frau einzulassen, die auch noch sprechen kann wie gedruckt – korrekte Schachtelsätze liebt und Gesprächspartner augenscheinlich einschüchtert, weil sie mit ihren Sätzen Aufmerksamkeit fordert.

So, wie Lotte Weis dieses Sprachtalent beschreibt, könnte es ihr eigenes sein. Denn auch die Autorin liebt komplexe Sätze, gespickt mit dem Genitiv, der so sehr an die Erzählweise von Thomas Mann erinnert und die Geschichte auf Distanz bringt: Hier beschreibt eine Autorin die kleine politische Welt mit dem Interesse einer Insektenkundlerin. Sie sieht ihren Helden und Heldinnen zu bei dem, was sie tun, versucht ihre Motive zu entschlüsseln und irgendwie sichtbar zu machen, wie ratlos und eher verwirrt diese Parteiarbeiter sind, eher Getriebene als Gestalter.

Wozu auch die kleinen Seitengeschichten um die eher unglücklicheren Bewohner dieser Stadt gehören, die es mit den Motivierungs- und Eingliederungsmechanismen des örtlichen Jobcenters zu tun bekommen. Ein Mechanismus, der den ganzen Leerlauf deutscher Arbeitsmarktbürokratie zeigt und den ohnmächtigen Versuch, Menschen zur Botmäßigkeit und Anpassung zu erziehen – zum richtigen Funktionieren.

Ein Schlaglicht, das auch die ganze politische Maschinerie mit anderen Augen sehen lässt. Immerhin lautet der Untertitel ja „Die andere Seite der Krawatte“. Und zumindest scheint in dieser eher gesichtslosen Stadt am Rhein auch die Politik eher ein Reich der Sachzwänge und des bedingungslosen Funktionierens zu sein. Der alte OBM scheidet so uneuphorisch aus dem Amt wie der neue ihm nachfolgt. Man wird mit diesem Jan nicht warm – irgendwie scheint er seine Jugendrolle als etwas übergewichtiger Außenseiter zur Lebensmaxime gemacht zu haben. Selbst auf seinem letzten Weihnachtsfest fühlt er sich irgendwie fehl am Platz. Schon das eigentlich Tragik genug: Geht man deshalb in die Politik, um dann nur noch mehr Einsamkeit zu erleben?

Oder zieht dieses Geschäft gerade die Einsamen an, die anders nicht zu der immer gesuchten Anerkennung kommen?

Aber dann mitschunkeln müssen bei schalem Bier?

Es ist kein fröhliches Buch, ein wenig sarkastisch, von einem fast mitleidendem Sarkasmus. Kann es sein, dass die Autorin in einer der erzählten Rollen steckt und nun einfach Bilanz gezogen hat über das Erlebte? Zumindest ist es eine fast ärztliche Diagnose für das ganz und gar nicht bezaubernde politische Klima in einer Stadt, in der die Alltagsmalaisen alle Träume und Visionen gefressen haben. Selbst in dieser einstmals kämpferischen Partei. Als hätte sie alle Vorstellungen davon, wie ein Leben voller Glück eigentlich aussehen könnte, irgendwo verloren auf dem langen Weg in die Ämter und in die klammen Stadthaushalte.

Aber vielleicht trifft ja auf diese Stadt zu, was man auch von einer anderen Stadt in der Gegend erzählt: Es gibt sie gar nicht.

Aber irgendwie gibt es sie trotzdem – in unterschiedlichen Graden der Verdammnis im ganzen Land, Orte, in denen nicht einmal Bürgermeisterwahlen mehr so etwas wie einen Funken Begeisterung auslösen. Wofür auch immer. Und wo man ein sehr dickes Fell braucht, um sich irgendwo hochzuboxen. Und wenn man es dann geschafft hat …

Was dann?

Ein sehr ernüchterndes Buch über die Politik in deutschen Provinzen.

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