Man soll ja nicht glauben, dass es sich Politikwissenschaftler einfach machen. Etwa wenn sie eine Dissertation schreiben wie Oliver D'Antonio, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung an der Georg-August-Universität Göttingen. Für seine Dissertation hat er auch die Leipziger Parteienlandschaft einmal sehr genau unter die Lupe genommen.

Das lag nicht ganz fern. Immerhin hat er in Leipzig Politikwissenschaft, Soziologie und Journalistik studiert. Da kannte er Stadt und Stadtpolitik schon ein wenig. Aber natürlich reicht so eine Außensicht nicht wirklich, um die Funktionsweise von Parteien wirklich zu erfassen. Gerade in der heutigen Zeit, in der kaum noch eine Partei auf ein festes Milieu und ein stabiles Wählerklientel bauen kann. Neue Parteien haben sich in den letzten 25 Jahren im politischen Spektrum platziert, einige dauerhaft, andere sind so schillernd aufgetaucht, wie sie glanzlos wieder verschwunden sind. Wählergunst ist keine sichere Bank mehr und der berühmte Wechselwähler kommt und verschwindet mit der Konjunktur.

Insofern hat die seit über 60 Jahren anhaltende wissenschaftliche Diskussion über Rolle und Funktionsweisen von Parteien in der Bundesrepublik neuen Zündstoff bekommen, sind alte Thesen zu hinterfragen. Ein gewaltiges Thema, das auch zur Beschränkung zwingt. Die erste Beschränkung ist sinnfällig: D’Antonio beschränkt sich auf die Regionalpolitik, lässt die Mega-Forschungsfelder Landes- und Bundespolitik lieber aus. Das hätte auch den fleißigsten Doktoranden völlig überfordert. Aber selbst auf regionaler Ebene ist Deutschlands Parteienwelt ein Flickenteppich – mit Löchern und Flicken und hunderten regionalen Facetten. Also hat sich D’Antonio auch hier beschränkt und sich zwei Großstädte ausgesucht, die einen Vergleich sinnvoll machen – beide ähnlich groß, ähnlich strukturiert in ihrer starken Dienstleistungsorientierung und ihrer großen bürgerschaftlichen Geschichte, beide auch wirtschaftsgeschichtlich ähnlich – als Messe-, Kultur- und Handelsstadt: Frankfurt am Main und Leipzig.

Und noch eine Fokussierung hat der 1977 Geborene vorgenommen: Er hat die ganz kleinen Parteien und Wählergruppen genauso außen vor gelassen wie die beiden großen “Volksparteien” CDU und SPD. Aus verschiedenen Gründen – aber im Wesentlichen auch deshalb, weil diese Parteigruppierungen teilweise wieder anders funktionieren als die drei Parteien, die D’Antonio sich als Forschungsobjekte auserkor: Linke, Grüne und FDP.

Alle drei können nicht mehr auf klassische Wählermilieus bauen – auch wenn da und dort ein bestimmtes Milieu durchaus eine Rolle spielt beim Wahlverhalten und in der Verankerung der Partei in der Stadtgesellschaft. Aber schon bei der Erkundung dieser Beziehungen wird es spannend. Und D’Antonio hat sich tief hineingekniet in sein Thema. Er hat nicht nur bergeweise Fachliteratur studiert – mit der er sich in diesem 600-Seiten-Buch immer wieder intensiv und kritisch auseinandersetzt. Er hat auch etwas gemacht, was man in der Politikwissenschaft auch nicht so oft erlebt: Er hat alle sechs Parteiverbände, die er untersucht hat, über zwei Jahre (2009 bis 2011) intensiv begleitet, hat mit rund 50 Politikerinnen und Politikern aus allen drei Parteien intensive Interviews geführt, hat in Frankfurt 27 und und Leipzig 29 Parteiveranstaltungen besucht und protokolliert. Ein Pensum, das auch Journalisten nicht schaffen, selbst wenn sie wollten. Und wollen würden sie schon gern, denn nicht in Pressemitteilungen oder Stadtratsreden wird das Denken und Funktionieren von Parteien sichtbar, sondern in all ihren Versammlungen, Wahlkampfveranstaltungen, in Arbeitskreisen, Jugendorganisationen, Stadtteilaktionen.
Und bei allen drei Parteien gilt: Sie müssen aktiv um ihre Wählerschaft kämpfen. Von allein kommt die nicht. Schon gar nicht an die Wahlurne. Sie müssen ihre Themen platzieren, müssen sich funktionierende Netzwerke schaffen, müssen die Kommunikation nicht nur mit den eigenen Mitgliedern hinbekommen, sondern auch mit der Stadtgesellschaft – denn Resonanzen bei Kommunalwahlen bekommt nur, wer mit seiner Themensetzung auch einen Großteil der Wähler erreicht.

Logisch, dass D’Antonio auch die seit den 1990er Jahren diskutierte “Parteienverdrossenheit” thematisiert. Gerade die drei ausgewählten Parteien sind schon lange keine Massenorganisationen mehr, sondern auch in den beiden ausgewählten Großstädten eher schlanke Parteiorganisationen, die bei einem Wahlmarathon wie gerade 2014 in Leipzig erlebt schnell an die Grenzen ihrer Kraft- und Finanzreserven kommen. Da fragt sich natürlich manch Bürger und manch Moderator: Ja, vertreten denn Parteien dann überhaupt noch die Bürgerschaft, wenn sie nicht mehr mit klassischen Milieus und Zehntausenden Parteimitgliedern verbandelt sind? Haben sie überhaupt ein Recht darauf, im Namen der Wähler Politik zu machen oder gar Macht auszuüben?

Eine durchaus nicht unwichtige Frage. Aber sie hat – wie D’Antonio sehr anschaulich aufarbeitet – eher nichts damit zu tun, dass die drei ausgewählten Parteien keine “Massenbasis” mehr hinter sich wissen. Eher damit, dass mit der rasanten Umschichtung aller Gesellschaftsschichten und Milieus in der späten Bundesrepublik genau diese selbstverständliche Massenbasis verlorenging. Es gibt keine organisierte Arbeiterschaft, die automatisch hinter der SPD steht (ein eigenes Forschungsthema). Es gibt auch kein manifestes christliches Bürgertum konservativen Zuschnitts mehr, dass sich ganz selbstverständlich hinter der CDU versammeln würde. Und auch das einstige nationalliberale Bürgertum, das einst die FDP trug, ist verschwunden. Dafür ist gerade in den deutschen Großstädten eine bunte und sehr mobile Welt neuer bürgerlicher und kleinbürgerlicher Milieus entstanden, die sich in der Gestaltung von Stadtpolitik auch anders einbringen und andere Themen setzen. Die Städte selbst haben sich verändert – es fanden Verdrängungen statt, soziale Umbrüche haben die Wertmaßstäbe fast völlig umgekrempelt. Frankfurt war in den 1970er und 1980er Jahren ein regelrechter Schmelztiegel für neue – vor allem linke – Protestbewegungen. Vieles davon hat sich dann – unter teilweise schmerzhaften Prozessen in den Frankfurter Grünen manifestiert, die heute im Frankfurter Römer eine ähnlich stabile Hausmacht haben wie CDU und SPD. Was ihnen freilich noch lange nicht die Stammwählerschaft bringt, wie sie die alten Volksparteien mal hatten.

Das liegt an der bunten Zusammensetzung und dem individualistischen Anspruch ihrer Wähler. Früher und deutlicher noch als alle anderen Parteien mussten sich die (Frankfurter) Grünen der Tatsache bewusst werden, dass die moderne Informationsgesellschaft auch den Anspruch an Parteiarbeit verändert hat. D’Antonio versucht auch klassische Parteibeschreibungen wie Volkspartei und Honoratiorenpartei auf ihre begrifflichen Anwendbarkeit auf die heutige Gemengelage zu überprüfen. Die alte FDP war mal eine klassische Honoratiorenpartei, geprägt von namhaften Funktionsträgern, die auch im jeweiligen lokalen Raum gut vernetzt waren. Man wählte quasi anerkannte Persönlichkeiten, weniger ein stringentes Parteiprogramm. Aber auch die FDP hat einen Wandlungsprozess hinter sich, auch wenn ihr weder in Frankfurt noch in Leipzig der endgültige Schritt etwa zu einer Netzwerkpartei oder zu einer Milieupartei gelungen ist.

Den Begriff Netzwerkpartei führt D’Antonio mit seiner Dissertation sehr offensiv in die Debatte ein. Denn dass haben seine Untersuchungen in Frankfurt und Leipzig recht deutlich gezeigt: Wenn Parteien sich nicht einfach auf die Stimmen existenter Milieus verlassen können, weil diese Milieus völlig zersplittert oder – wie die sozial Schwachen – kaum noch für den politischen Diskurs erreichbar sind, dann sind Parteien gezwungen, Netzwerke zu schaffen, über die sie dann trotzdem wenigstens in einen Teil der Stadtgesellschaft hinein kommunizieren können. Die Frage ist eher, wo diese Netzwerke anknüpfen – und auch hier gilt: Das klassische Parteibüro ist es schon lange nicht mehr. Schon aus Ressourcengründen, die sich bei allen Parteien eher in der Stadtratsfraktion bündeln. In Frankfurt noch viel stärker als in Leipzig. Hier sitzen meist nicht nur die prominentesten Parteivertreter, hier sind auch die Wege hinein in die politische Arbeit am kürzesten. Und Parteien müssen sich in Kommunalwahlen vor allem an der Arbeit ihrer Ratsfraktionen messen lassen – auch wenn – wie es die FDP in einem wilden Auf und Ab erlebt – Bundespolitik immer wieder auch in die Kommunen durchschlägt.

Aber – und auch diese Frage taucht bei D’Antonio auf: Diese Volatilität kann auch damit zu tun haben, dass die lokale Netzwerkarbeit nicht besonders effektiv ist. Und zwar gerade bei der FDP, die seit ihrem neoliberalen Kursschwenk in den 1980er Jahren so sehr auf Effizienz schwört. Die Veranstaltungen, die D’Antonio bei den Liberalen besuchte, zeichneten sich wohl alle durch eine gewisse Exklusivität und Abgeschlossenheit aus, auch durch eine gewisse gewöhnungsbedürftige Diskussionskultur, bei der die liberalen Funktionsträger eher nicht den zuhörenden Seelsorger für ihre Wähler gaben, sondern eher den seiner Überlegenheit bewussten Allwissenden. Das Gefühl, es hier mit einer selbsternannten Elite zu tun zu haben, hatte D’Antonio sowohl bei Frankfurter FDP-Veranstaltungen als auch bei denen in Leipzig.

Dabei kommt er in seiner Analyse immer wieder zu dem Schluss, dass FDP und Grüne sich eigentlich um dasselbe städtische (Bildungs-)Bürgertum raufen. Nur scheinen die Grünen ihre Netzwerkarbeit bis in die Stadtteile hinein stark institutionalisiert und professionalisiert zu haben, während sogar die Leipziger FDP sich aus dem Stadtteil zunehmend zurückgezogen hat.

Insofern ähnelt eher der Umgang der Linkspartei mit der potenziellen Wählerschaft dem, womit die Grünen sich sowohl in Leipzig als auch in Frankfurt eine recht stabile Wählerschaft aufgebaut hat. Auch wenn die Linke sich eher als Kümmerer präsentiert und in beiden Städten vor allem Problemstadtteile im Fokus hat und versucht, die brennenden sozialen Fragen in der Stadtpolitik stärker zu artikulieren. Was ihr in Leipzig auch deshalb besser gelingt, weil sie seit 1990 in repräsentativer Stärke im Stadtrat vertreten ist und es der Linksfraktion auch gelungen ist, ihre anfängliche Isolation im Parteienspektrum zu überwinden – was die Frankfurter Linke (noch) nicht geschafft hat.

D’Antonio gelingt es auch sehr anschaulich zu zeigen, dass Grün eben nicht gleich Grün und Liberal nicht gleich Liberal ist. Die Stadtverbände der drei untersuchten Parteien unterscheiden sich in Struktur und Problemsicht in den beiden Städten sogar auf frappierende Weise, so sehr, dass sich ein Leipziger Grüner im Frankfurter Verband wohl recht fremd fühlen würde – und ein Leipziger Linker in Frankfurt-Höchst wohl genauso. Was natürlich an der unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklung in beiden Städten in den vergangenen 65 Jahren liegt. In Leipzig durften zwar 1945 die demokratischen Parteien genauso starten wie zeitgleich in Frankfurt – aber die Machtpolitik der SED veränderte das Bild bis 1989 völlig, reduzierte die Blockparteien im Grunde zu Nischenparteien und Erfüllungsgehilfen der eigenen Politik, so dass der eigentliche Demokratisierungsprozess erst im Herbst ansetzen konnte und damit auch einen für Leipzig unverwechselbaren Umbruch auch in der Parteienmentalität bewirkte.

Dass einige Parteien – wie die FDP und die Bündnisgrünen – dann für rund zehn Jahre zu fast reinen Honoratiorenparteien wurden, hat mit der prägenden Rolle der Personen zu tun, die 1990 für diese Parteien in die Kommunalpolitik gingen. Sie prägten die Stadtpolitik praktisch bis in die Gegenwart, auch wenn die Grünen so ungefähr ab 2004 einen langsamen (aber zielstrebigen) Generationenwechsel einleiteten. Bei der FDP gab es den nicht, als es 2009 zum großen Krach kam und gerade die führenden Köpfe der alten FDP nicht bereit waren, in der neuen, von jüngeren FDP-Abgeordneten getragenen liberalen Fraktion mitzumachen.

Aber auch die Linke kommt um diesen Generationenwechsel nicht herum. Tatsächlich liefert D’Antonio ein sehr genaues Bild der drei untersuchten Parteilandschaften. Er zeigt auch dem oft vorbelasteten Leser, dass die Eiertänze um Programme und Interpretationen beim Wahlbürger im Prinzip keine Rolle spielen. Gerade auf kommunaler Ebene spielt eher die Fähigkeit der Parteien eine Rolle, die wichtigen Fragen in der Stadtentwicklung aufzugreifen und auch im politischen Entscheidungsprozess durchzusetzen.

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Zwischen Rathaus, Milieu und Netzwerk
Oliver D’Antonio, Springer Fachmedien Wiesbaden 2014, 59,99 Euro

Was ja bekanntlich für einige Parteien regelrecht ärgerlich ist, weil so aus klassisch monothematischen Ansätzen (Stichwort: Verkehrspolitik) auf einmal Diskussionsfelder mit teils divergierenden Sichtweisen werden. Nicht nur in Leipzig, auch in Frankfurt. Womit auch Regionalpolitik zu einem Feld geworden ist, auf dem es nicht mehr zu klassischen Siegen und Niederlagen kommt, sondern die Fähigkeit der Parteien gefragt ist, Entwicklungen auszuhandeln.

So nebenbei diskutiert D’Antonio auch die beiden unterschiedlichen Organisationsmodelle der Stadtparlamente – hier halbprofessionelles Parlament in Frankfurt, dort halbehrenamtliches “Leipziger Modell”. Beide haben etwas für sich – beide sind auch schon eine Reaktion auf veränderte politische und gesellschaftliche Landschaften.

Und am Ende zeichnet sich in D’Antonios Untersuchung im Grunde ab, unter welchen Modernisierungszwängen auch die kleinen und mittleren Parteien stehen, wenn sich deutsche Großstädte so signifikant verändern, wie es Leipzig und Frankfurt seit 25, 35 Jahren getan haben. Ein spannendes Buch, das der Verlag nicht nur Studierenden und Dozenten der Politikwissenschaft ans Herz legt, sondern auch Parteiarbeitern und Kommunalpolitikern. Und wenn Verwaltungsmitarbeiter, Netzwerker und interessierte Wähler es lesen, kann es auch nicht schaden. Es ändert den Blick auf Lokalpolitik doch auf erstaunliche Weise.

www.springer.com

Das Instutut für Demokratieforschung in Göttingen:
www.demokratie-goettingen.de

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