Aktuell reden ja alle möglichen Leute über die Krise der Demokratie. Es geht munter drüber und drunter. Es werde zu viel gestritten. Es gäbe zu wenig Geschlossenheit. Die Demokratie stehe auf dem Spiel. Sie soll verteidigt werden. Es wird langsam zum Refrain. Nur: Es ändert sich nichts. Die Fronten scheinen verhärtet. Vielleicht auch deshalb, weil in den falschen Kategorien debattiert wird. Und über Mythen, die teilweise schon 2.500 Jahre alt sind. Was mit dem Demos beginnt. Gern falsch übersetzt mit: das Volk.
Mal ganz zu schweigen zu der Frage: Wer ist eigentlich das Volk? Und wem steht es gegenüber? Aber darüber zerbrachen sich schon die griechischen Philosophen und Staatstheoretiker den Kopf zu jener Zeit, als in Athen und anderswo die ersten Ur-Formen der Demokratie ausprobiert wurden. Die sich deutlich von dem unterscheiden, was heute unter Demokratie verstanden wird.
Der Essay, den sich der Philosoph Jörg Phil Friedrich hier vorgenommen hat, ist eine Dekonstruktion herrschender Mythen. Angefangen mit der Demokratie und dem, was die Griechen tatsächlich darunter verstanden:
„Wenn Platon und Aristoteles von der Demokratie, also der Herrschaft des Demos, des Volkes, sprachen, dann meinten sie mit dem Begriff Volk die einfachen Leute, die zwar freie Bürger waren, die aber gerade nicht durch Reichtum, besonderes Wissen, Adel oder Einfluss zu einer Führungsschicht, zur Elite gehörten. Das Volk steht in dieser Sichtweise den Eliten gegenüber, eine Demokratie ist die Herrschaft derer, die nicht zur Elite gehören.“
Die Grenzen der Demokratie
Man darf sich überraschen lassen und überrascht sein. Denn in der Genauigkeit steckt der Aha-Effekt. Denn was im alten Athen galt, hat sehr viel mit dem zu tun, was wir heute unter Demokratie verstehen. Und unseren Selbsttäuschungen, auch wenn das moderne Modell der Demokratie seine Wurzeln in den markanten Jahren 1776 und 1789 hat.
Aber auch das mit Einschränkungen, wie Friedrich feststellt. Denn daran, dass eine Elite dem gemeinen (Wahl-)Volk gegenüber steht, hat sich nicht wirklich etwas geändert. Was Friedrich etwa im Kapitel „Die undemokratische Republik“ sehr ausführlich bespricht.
Denn nicht nur die alten Philosophen Athens fürchteten sich – zu Recht – vor einer Herrschaft des Volkes. Auch weil diverse solcher Kapitel in der griechischen Geschichte dafür sorgten, die Angst genau vor solchen Umstürzen zu schüren.
Denn natürlich gibt es nichts, das den Demos gegenüber diversen Formen elitärer Herrschaft auszeichnet. Auch das Volk bringt nur Menschen hervor, die entweder klug und weise regieren (was leider viel zu selten der Fall ist) oder – leider nur zu leicht – zu Tyrannen werden.
Ein Thema, über das sich die Staatstheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts intensiv Gedanken machten – von Hobbes bis Rousseau und Mirabeau. Deren Gedanken dann zur Grundlage der modernen Unabhängigkeitserklärungen und Verfassungen wurde. Denn ihnen war nur zu bewusst, dass der Mensch zur Entgrenzung neigt, wenn er nur die absolute Macht an sich reißen kann.
Oder mit Friedrich, der recht akribisch erklärt, warum es bei all unseren heutigen Debatten nicht um die Demokratie geht, sondern um die Republik, also die Staatsform, die wir uns gegeben haben. Eine Staatsform, die als Lehre aus der Geschichte die Gewaltenteilung zum Grundprinzip gemacht hat.
Berechtigtes Misstrauen
„Gewaltenteilung ist kein demokratisches Prinzip“, schreibt Friedrich, „sondern Konsequenz gegenseitigen Misstrauens und der Tatsache, dass man sich gewiss sein kann, dass jede herrschende Person, wenn sie alle Macht auf sich vereinigen kann, zum Diktator wird, nicht aus böser Absicht, sondern weil sie überzeugt ist, dass die autoritäre Umsetzung der eigenen politischen Vorstellungen der beste Weg ist, effektiv und ohne Umwege das Beste für die Gesellschaft zu erreichen.“
Oder halt das Beste für die eigene elitäre Clique, wie das Donald Trump in den USA gerade durchexerziert, der gar nicht zuerst die Demokratie angreift, sondern die Elemente der Republik. Die Republik ist das bisher beste von Menschen erfundene Konstrukt, um die Entgrenzung und die autoritären Tendenzen einzelner Menschen einzuhegen. Mit Gesetzen, Gerichten, Legislative, Exekutive, austarierten Macht-Gewichten, die sich gegenseitig einhegen und kontrollieren.
Weswegen natürlich die Frage ist, wie dann überhaupt der Wille des Volkes darin zur Geltung kommen kann. Auf direktem Wege ja nun wahrlich nicht. Ganz davon abgesehen, dass es das homogene Volk (wie so gern behauptet wird) nicht gibt, sondern nur lauter Leute mit völlig verschiedenen Interessen, Wünschen und Erwartungen, die ja irgendwie dann in der politischen Praxis zur Geltung kommen sollen.
Nur behaupten einige Leute dann, dass das nur Demokratie wäre, wenn ihre Meinung ohne Kompromisse umgesetzt würde. Was natürlich der beste Weg ist zur Diktatur. Also kann Demokratie nur mit Einschränkungen funktionieren.
Und funktioniert auch so. Das demokratischste Element sind noch die Wahlen, zu denen jeder Wahlberechtigte seine Lieblingspartei und seine Lieblingskandidaten mit einer Stimme versehen kann. Was nicht heißt, dass beide dann tatsächlich im Parlament landen.
Der politische Mensch
Schon die Zusammensetzung der Parlamente erzählt davon, dass Demokratie zwangsläufig zum Kompromiss werden muss, wenn sie irgendwie zur Geltung kommen will. Was nicht ausschließt, dass die meisten Wähler gar nicht wissen, was sie wirklich wollen und wer ihre Interessen tatsächlich am besten vertritt. Auch darauf geht Friedrich ein, der auch den Mythos vom zoon politikon gründlich auseinandernimmt.
Denn die meisten Menschen sind keine politischen Menschen, an Politik und den Mechanismen der Macht nicht die Bohne interessiert. Sie wollen nur ein ruhiges, friedliches Leben leben und hoffen, dass die Leute, die von Berufs wegen Politik betreiben, vernünftige und zukunftsfähige Entscheidungen treffen.
Es sind diese Menschen, die ganz bewusst „in die Politik“ gehen, die tatsächlich den Begriff zoon politikon ausfüllen. Und auch wissen, was für eine aufreibende Hatz das ist, bis man tatsächlich in Funktionen und Ämtern landet, in denen man etwas bewirken kann.
Denn wer in politische Spitzenpositionen will, braucht grundlegende Eigenschaften, die ihn im politischen System überhaupt erst einmal auf die Wahlzettel und in die ersten Mandate bringen. Da muss man überzeugen können, braucht Standing, muss Netzwerke knüpfen und sich Unterstützung sichern.
Es ist kein Zufall, dass man viele Menschen, die eher nachdenklich, behutsam, rücksichtsvoll sind usw., in der Politik nicht findet, weil sie sich dort niemals durchsetzen könnten. So nebenbei merkt man schon: Politik ist ein hartes Geschäft, selbst wenn einer nur das Beste will. Es wird mit harten Bandagen gekämpft.
Und nichts garantiert einem, dass man auch nur einen einzigen Erfolg feiern kann. Denn schon in den Parteiverbänden auf jeder Ebene beginnen die Kompromisse und Aushandlungsprozesse. Und je höher eine steigt, so wie Anne in Friedrichs Essay, umso mehr ist sie zu Kompromissen und Aushandlungen in der eigenen Fraktion oder gar mit Leuten gezwungen, mit denen sie eigentlich ungern Kompromisse schließt.
Demos und politische Klasse
In der Politik wird alles auf den Tisch gekehrt, was sonst im Leben des gemeinen Volkes so nebenher mitschwimmt. Und alles wird zur Verhandlungsmasse. Und deshalb spielt der kleine Bob, der aus Überzeugung in eine Partei eingetreten ist, weil sie seine Interessen scheinbar am besten vertritt, am Ende kaum eine Rolle, wenn es tatsächlich zu politischen Entscheidungen kommt.
Tatsächlich scheint die Meinungsbildung sogar völlig auf den Kopf gestellt, wie Friedrich feststellt: „Eine politische Partei ist in diesem Sinne weniger der Ort, an dem die politischen Meinungen des Demos in die politische Klasse hineingetragen werden, sondern oft eher der Ort, an dem Meinungen erzeugt und verfestigt werden, die dann in den Demos hineingetragen werden sollen.“
Da staunt der gemeine Wähler. Aber Friedrich schildert das alles sehr anschaulich, ohne rosarote Brille. Er skizziert, wie Politikmachen tatsächlich funktioniert. Und warum der Demos weder in den Parteien noch in den Parlamenten tatsächlich adäquat abgebildet ist, man Pflegerinnen, Bauarbeiter, Lkw-Fahrer und Erzieherinnen in den Parlamenten zu Recht vermisst.
Anders als Akademiker aller Art, allen voran Juristen, die viel eher die Eigenschaften mitbringen, sich im politischen Geschäft durchzusetzen. Mit dem Ergebnis, dass es beinah wie im alten Athen ist: Dem zur Wahl aufgerufenen Demos steht eine politische Elite gegenüber, für die Politikmachen der Hauptberuf ist.
Und dazu kommt auch noch: Sie haben gelernt, sich ein- und unterzuordnen, sich der gerade geltenden Parteilinie anzupassen. Bis hin zu einem völlig undemokratischen Element, dem sogenannten Fraktionszwang, den man auch im Grundgesetz nicht finden kann.
Denn jeder Abgeordnete soll ganz allein nach seinem Gewissen entscheiden. Ein schöner Traum, der freilich voraussetzt, dass jeder Abgeordnete auch auf die Mehrheit der Wähler in seinem Wahlbezirk bauen kann. Aber das können nicht einmal die sogenannten Direktkandidaten, denn auf den Spitzenplatz auf dem Wahlzettel kamen sie nur, weil sie von ihrer Partei dort platziert wurden. Ohne ihre Partei sind sie nichts.
Trugbild Geschlossenheit
Und wenn Parteien dann auch noch an die Regierung kommen, wird es noch viel bunter, wie Friedrich feststellt: Dann vertreten die gewählten Abgeordneten nicht mehr den Demos in der Regierung, sondern die Regierung gegenüber dem Demos. Und benehmen sich dann auch meist so. Was dann eins der Elemente ist, die nach außen hin ein völlig falsches Bild von Demokratie ergeben.
Gern mit Worthülsen wie Disziplin und Geschlossenheit kaschiert. Beides Vokabeln, die mit gelebter Demokratie nichts, aber auch gar nichts mehr gemein haben, wie Friedrich feststellt. Denn Demokratie lebt natürlicherweise vom Meinungsstreit, davon, dass verschiedene Leute über die Lösung von Problemen völlig verschiedene Ansichten haben und sich darüber auch mal streiten. Und zwar öffentlich. Für alle sichtbar.
 Aber die deutschen Medien haben sich angewöhnt, gerade diesen öffentlichen und notwendigen Streit als ein Symptom des Verfalls zu interpretieren. Ja nicht streiten! Das ist der Untergang der Demokratie! – Obwohl genau das Gegenteil der Fall ist und der ernsthafte, mit guten Argumenten ausgetragene Streit die dringende Voraussetzung für tragfähige Kompromisse ist.
Die gefallen dann zwar nicht jedem, sind aber in einer Demokratie das bestmögliche Ergebnis. Denn Demokratie bedeutet im modernen Sinn nun einmal, dass sich möglichst die meisten Wählerinnen und Wähler in den Entscheidungen der Politik wiederfinden sollen.
Wo das nicht mehr der Fall ist, wächst logischerweise der Frust. Und wenn Medien dann auch behaupten, Streit sei ein Symptom des Zerfalls, dann bleibt von alldem, was Demokratie eigentlich ausmacht, am Ende nichts mehr übrig.
Nur noch Frust, Unverständnis, Entfremdung. Und das Gefühl, dass nicht einmal der Gang zur Wahlurne noch irgendetwas ändert, weil die politischen Eliten so abgehoben sind, dass sie gar nicht mehr wahrnehmen, was unten bei den „kleinen Leuten“ brennt.
Die gefährdete Republik
Am Schluss seines Ausflugs in die Konstruktion von Republik und Demokratie gibt Friedrich noch ein paar Anregungen, wie man die demokratischen Elemente wieder stärken könnte. Zum Beispiel, indem man dem qualifizierten Streit wieder eine Bühne gibt und die falschen Verheißungen von Parteilinie und „Geschlossenheit“ endlich wieder infrage stellt.
Denn Fakt ist natürlich auch, dass es in einer austarierten Republik im Prinzip keine reine Volksherrschaft im klassischen Sinn geben kann, dass Kompromisse sogar der Normalzustand der Demokratie sind und es oft die von Medien geschürten falschen Erwartungen sind, die die Enttäuschungen der Wähler über die reale Politik befeuern.
Und den Frust ausgerechnet über das Konstrukt verstärken, das überhaupt erst verlässliche Spielformen der Demokratie erlaubt: nämlich die Institutionen der Republik, die wir in unseren heutigen Debatten fast völlig aus den Augen verloren haben. Dabei sind sie es, die uns davor schützen müssen, dass radikalisierte Akteure wieder autoritäre Machtsysteme errichten.
So, wie es ein Donald Trump in den USA gerade systematisch versucht. Sind die Institutionen der Gewaltenteilung gezähmt bzw. lahmgelegt (zu denen übrigens auch die unabhängigen Medien gehörten, die politischen Großmäulern nicht nach dem Munde reden), dann ist die Demokratie das nächste Opfer, werden Wahlen eingeschränkt, politisch Andersdenkende kaltgestellt oder gleich weggesperrt.
Im Grunde macht Friedrichs Essay darauf aufmerksam, dass wir unser Augenmerk darauf richten sollten, die gefährdeten Institutionen der Republik zu schützen und zu stärken, damit Demokratie überhaupt noch möglich ist. Wobei die Demokratie, so stellt Friedrich fest, ganz und gar nicht so gefährdet ist, wie heute immer wieder schwarzgemalt wird. Denn Streit und Auseinandersetzung sind ihr Lebenselixier, nicht Zeichen des Verfalls.
„Das Einzige, was der Demokratie allerdings wirklich schaden kann, ist die Verschärfung des Tons, die Radikalisierung von Ängsten, die in verzweifelte Aggressivität münden kann“, schreibt Friedrich. „Gelassenheit, die daraus erwächst, das Unüberschaubare und Chaotische als Lebenselixier der Demokratie anzuerkennen, sollte den schrillen Ton derer ersetzen, die, aus welcher Position auch immer, das Ende der Demokratie beschwören, nur weil diese sich nicht nach einfachen Idealtheorien richtet.“
Das darf man so stehen lassen. Als Ermutigung und Anregung, über die tatsächlichen Stärken von Demokratie nachzudenken.
Jörg Phil Friedrich Republik in der Krise Claudius Verlag, München 2025, 20 Euro.
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