Das ist eigentlich ein Büchlein, zu dem man die CDs der beiden „Halbgötter in Punk“ braucht, die nun seit 16 Jahren als The Russian Doctors durch die ostdeutsche Taiga tingeln: Makarios und Frank Bröker. Denn das, was sie anstellen, lebt tatsächlich von Makarios' eindrucksvoller Stimme und von der Erlenholzgitarre Frank Brökers. Aber richtig angefangen hat ja die Pratajev-Geschichte schon 1997.

Da war Makarios schon lange Sänger in der mittlerweile geradezu legendären Punk-Band Die Art, hatte aber so ganz nebenbei die hübsche Idee, einen echten, unvergleichlichen russischen Dichter namens Pratajev in die Welt zu setzen und rund um diesen Burschen einen ganzen Kosmos von Anekdoten, Liedern, Fragmenten zu erschaffen.

Eine ziemlich komplette Biografie nicht zu vergessen, die diesen Pratajev nicht nur in den russischen Dichterhimmel versetze, sondern ihn gar zu einem der berühmten Vergessenen zu machen, dessen hinterlassene Werkfragmente zu immer neuen Mutmaßungen, Entdeckungen und Veröffentlichungen führen. Was dann die seit 2004 erscheinende Pratajev-Bibliothek mit immer neuen Büchlein bereichert.

Dass aus der Pratajev-Idee The Russian Doctors entstanden, hat dann der 2002 aus Meppen nach Leipzig zugezogenen Eishockey-Fan Frank Bröker angestiftet, der Makarios dazu brachte, mit ihm dieses Duo zu gründen, das den Texten dieses verlorenen russischen Dorfdichters Leben einhaucht. Oder vielleicht besser: Seele.

The Russian Doctors: Der Wanderer

Denn wie das im Punk so ist: Die Texte sind meistens nur das grobe Gerüst, die simple Botschaft, die im Fall von The Russian Doctors auch von den ganz einfachen Dingen kündet, die im Leben eines Mannes wie Pratajev wichtig sind: Mädchen und Wodka. Klingt nach wenig. Aber die in diesem Büchlein versammelten Texte von 2011 bis 2020 (die nächste CD „Die Schönen und die Bösen“ soll 2020 erscheinen) zeigen, wie viel Stoff selbst in den einfachsten Dingen steckt. Man muss sie nur wahrnehmen, diese Mitmenschen, die in der russischen Dorfwelt ganz bestimmt in ähnlicher Gestalt auftreten wie im abendlichen Leipziger Westen – den Satten, den Faulen, die Schnelle, die Zarte, den entmutigten Gärtner oder die zärtliche Krankenschwester.

Es gehört eigentlich gar nicht viel Brimborium dazu, um ein erkennbarer Mensch zu sein und in den Augen seiner Mitmenschen eine Rolle zu spielen. Sofern diese noch wahrnehmen wollen, wer da so neben ihnen lebt. Wir leben ja in einer Zeit, in der Begegnungen nicht mehr stattfinden, in der alle Leute wie gebannt auf ihre Handys starren, als wäre da etwas, das sie jeden Tag und jede Minute mystifiziert.

Obwohl die eigentlichen Mystifikationen ja nur in richtigen Begegnungen mit echten Menschen stattfinden. Man könnte diesen von so vielen geliebten Pratajev ja auch als eine Personifikation der Sehnsucht beschreiben, als einen noch weit nach seinem Tod Bewunderten, der zwar nur ein sehr fragmentarisches Werk hinterlassen hat, aber den Gespielen seines kurzen Daseins das Gefühl gegeben hat, dass sie wichtig waren, besondere Menschen. Solche Menschen, die schon deshalb zum Mittelpunkt der Gesellschaft werden, weil sie genau diese Gefühle vermitteln, sind rar geworden.

Oder waren sie schon immer selten?

Wenn The Russian Doctors auftreten, kommt eine Menge von dieser Sehnsucht herüber, gewinnen die scheinbar so simplen Texte Tiefe und Breite und Dämmerung. Entfaltet sich quasi ihr Aroma und man ahnt, warum so viele einsame Männer in die nächtlichen Bars strömen, um sich das Girl auf dem Kanapee schön und vertraut zu trinken. Die ihrerseits ja nach Anschluss sucht. Nur der Mann in Weiß, mit dem sie augenscheinlich sowieso eine höchst diffuse Beziehung pflegt, will von ihr heute mal nichts wissen. Die traurige Weite russischer Einöden ist also – so bei Tageslicht betrachtet – in halbverdunkelten Bars in Leipzig-Lindenau zuhause. Und natürlich in den Herzen der Männer und Frauen, die in den Konzerten von The Russian Doctors das suchen, was man ein Gefühl des Zuhause-Seins nennen könnte.

The Russian Doctors: Schnaps und Weiber

Denn das klingt ja in den Pratajev-Texten immer an. Selbst Pratajev war ein fortwährend Suchender. Vor allem suchte er die Frau, mit der er ganz sein konnte. Aber bekanntlich scheiterte er selbst an seinen feurigsten Verehrerinnen. Wenn die Frauen selbstbewusst werden, hört der pflegeleichte Einklang auf. Und wenn dann noch feiersüchtige Kumpel und ein schöner öliger Wodka dazukommen, driften die Planeten alle wieder auseinander. Und keiner weiß wirklich, wie es passiert ist. Nur steht man dann eben wieder da, wo man auch vorher schon stand, als man meinte, mit der gerade erblickten Schönen aufs Engste vertraut zu sein: „Sie kann gut kochen, kann gut backen / Ich war oft Gast in ihrem Haus / Ihr Haar geknotet fest im Nacken / Ich nähm sie gern zu mir nach Haus.“

Das scheint aber auch mit „Lila Nina“ nicht zu klappen. Die Sehnsucht bleibt unerfüllt. Das nächste Lied bitte. Und einige dieser Lieder erzählen dann natürlich davon, dass es noch eine andere Sehnsucht gibt, die ganz tief im Punk steckt, der ja bekanntlich ein unermüdlicher Protest ist gegen die Zumutungen einer oberflächlichen, von Geiz, Gier und Raserei besessenen Gegenwart. Mal aus einem der kleinen, in winzigen Buchstaben gesetzten Erklär-Texte zitiert: „,Der Satte‘ ist ein schönes Beispiel. Der vom Irrsinn der Welt erstaunlicherweise ungebrochene Mensch liegt ohne triftigen Grund, ohne Pein, satt, zufrieden im hohen Gras. Einfach so. In seinen Mundwinkeln wird der Ansatz eines Lächelns zu erkennen sein.“

Das ist selbst im ach so freien Kapitalismus eine Provokation. In sozialistischen Zeiten war das subversiv. Solche Typen wurden von den dort einst Mächtigen nicht nur gehasst und kriminalisiert. Sie waren geradezu das Feindbild an sich: Junge Leute, die sich nicht in die staatliche Leistungsdisziplin einordnen wollten. Und wenn jemand die innere Verwandtschaft zwischen dem sucht, was im Osten als Realsozialismus aufgebaut wurde und im Westen Marktwirtschaft heißt – dann ist es diese Disziplinierungswut. Oder mal so gesagt: „Hartz IV“ hätte auch aus dem Disziplinierungskasten der SED stammen können.

Und auch wenn Makarios – für den Punk eher untypisch – ein ruhiger, geradezu in sich ruhender Sänger ist, lebt diese menschlichste aller Rebellionen in all seinen Liedern. Und was Bröker dann mit seiner Gitarre daraus macht, das ist wirklich mitreißend. Das ist mehr Rock als Punk und macht gerade deshalb auch deutlich, wie sehr diese Pratajev-Texte eine Selbstermächtigung sind zum ganz simplen Menschsein. Zum Recht aufs Nichtangepasstsein, zum Recht auf Begehren, Sattsein und Faulsein. Also zum ganz simplen Einfach-Dasein, ohne immerfort funktionieren zu müssen. Was manche ja bei einsamen Gläschen in der Bar suchen und andere bei Auftritten von The Russian Doctors finden.

Der nächste ist nächstes Jahr wieder in der „Frau Krause“ in Connewitz. Wer es nicht aushält bis dahin, kann sich ja mit Scheiben und Büchlein aus der Welt Pratajevs vollpacken.

The Russian Doctors Das große Pratajev Liederbuch II, Verlag Andreas Reiffer, Meine 2019, 8,90 Euro.

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