Der Klett Kinderbuch Verlag liebt Bücher, die das Verwirrende im Leben der Kinder zeigen. Das, worüber man so als Knirps stundenlang nachdenken kann, ohne es auseinandergefitzt zu bekommen. So wie diese Sache mit dem Jungesein und dem Mädchensein. Das ist schon für Jungen und Mädchen, die in Jungen- und Mädchenrollen hineinwachsen, manchmal nicht einfach. Aber wie ist das mit Jungen, die auf einmal merken, dass sie eigentlich Mädchen sind?

„Achtung: Diese Geschichte spielt in Wien!“ warnt gleich die erste witzige Zeichnung von Theresa Strozyk beim Aufschlagen des Buches. Da fehlt noch die Katze. Die Katze kommt später. Aber der Hinweis ist wichtig, denn Franz Orghandl ist geborene Wienerin. Und das prägt dann, wenn sich ihre Heldinnen und Helden unterhalten, auch die Wortwahl. Da kommen so ein paar richtige Wiener Spezialausdrücke vor, die dann mit dicken Pfeilen am Seitenrand quasi übersetzt werden müssen ins Hochdeutsche. Schirche Bodenfließen sind einfach hässlich, Hatschen heißt Latschen und die Naschlade ist eine Schublade voller Süßigkeiten. So in der Art.

Aber ansonsten sind Leo und seine Freunde, seine Eltern, Großeltern und Lehrerinnen eigentlich so wie bei uns. Vielleicht ein bisschen gelassener, auch wenn Leos Entdeckung, dass er eigentlich Jennifer heißt, vor allem Leos Vater in tiefste Verwirrung stürzt. Auch Väter haben es gern etwas einfacher mit ihren Kindern, weil man dann wenigstens weiß, wie man mit ihnen umgehen kann – mit „richtigen Jungs“ (österreichisch: Buben) zum Beispiel.

Auch wenn „richtige Jungs“ meistens keine „richtigen Jungs“ sind, sondern Kinder, die gelernt haben, in unsere Erwartungen von „richtigen Jungs“ hineinzuwachsen. Die meisten Eltern merken das gar nicht, weil sie wie Leos Vater sind und den Jungen behandeln, wie sie gelernt haben, dass Jungen behandelt werden müssen. Sie bekommen Jungsklamotten, viele Spielautos, einen Fußball, bekommen die Haare kurz geschnitten und Papa redet mit ihnen über Jungsthemen.

Bei Mädchen läuft das genauso. Deswegen weiß keiner wirklich genau, wie viel an „richtigen Jungs“ durch unsere Erziehung geprägt wurde. Bei Mädchen dasselbe. Und auch nicht ganz ohne Grund, denn alle Eltern wissen, dass die Gesellschaft, in die sie ihre Kinder entlassen, auf Abweichungen von dem, was man als „richtig“ empfindet, im besten Fall verwirrt reagiert. In schlimmeren Fällen mit Verachtung, Abneigung und Hass. Auf jeden Fall: total verunsichert.

Aber wie gesagt: Die Geschichte spielt in Wien. Und Leo trifft nicht nur bei seinen Freunden und Freundinnen (manchmal ziemlich altklugen Biestern) auf Verständnis. Selbst beim dicken Gabriel. Bei Anne erst recht. Denn als die Kinder das Problem zum ersten Mal mit dem doch etwas naiven Schulhausmeister erörtern, sagt Anne den schönen Satz: „Auf die Seele kommt es an!“

Was natürlich allerlei Verwirrungen und Turbulenzen nicht verhindert. Denn die Erwachsenen müssen sich ja erst einmal neu sortieren, wie sie mit Jennifer, die gestern noch Leo war, umgehen sollen. Erst recht, als ein heftiger Streit von Jennifers Eltern dazu führt, dass Jennifer zum ersten Mal die Schule schwänzt und mit Stella, die wieder ihre ganz eigenen Sorgen mit der richtigen Identität hat, einen ziemlich spannenden Tag erlebt, der dann gar noch in einer riesigen Suchaktion gipfelt, weil sich Jennifers Eltern, die ja gestern noch Leos Eltern waren, zu Recht ziemliche Sorgen machen.

Aber wir sind ja in Wien. Und mit dem geradezu augenzwinkernd geschriebenen Text von Franz Orghandl und den kessen Zeichnungen von Theresa Strozyk schaut man beim Lesen oder Vorlesen der kleinen Familie regelrecht zu, wie sie die Veränderung ihres Leo zur Kenntnis nimmt, zu verstehen versucht und sich neu zusammenruckelt.

Denn Jennifer ist ja noch immer ihr Kind. Und manchmal muss man einfach ernst nehmen, was das Kind sagt und wie es sich fühlt. Da hilft kein Stursein. Auch wenn Papas Stursein, wie Stella sagt, durchaus eine gute Eigenschaft ist. Nur muss auch Jennifers Vater wissen, wann es richtig ist, stur zu sein. Und wann nicht.

Denn an der falschen Stelle richtet es gewaltigen Schaden an. Nicht nur bei den Kindern, die sich nicht akzeptiert fühlen. Auch bei den Erwachsenen, die nicht verstehen, dass die Scherben in der Beziehung aus ihrer Art damit umzugehen resultieren.

So erzählt die Geschichte eigentlich die ganze Zeit auf mehreren Ebenen – von der Verwirrung kleiner Familien, wenn ein Kind nicht ins Schema passt, von Leo-Jennifers Mut, sich selbst ernst zu nehmen und es den anderen auch zu zeigen, von dem, was in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern wirklich wichtig ist. Und eigentlich auch von der Gelassenheit, die Welt und die Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Eine Gelassenheit, die viele Erwachsene nicht haben. Auch aus Not, weil sie sich nicht trauen, die Welt so vielfältig und manchmal verwirrend zu dulden, wie sie ist. Wo sie doch selbst in Schwarz/Weiß erzogen wurden, zu „richtigen Jungs“ oder „richtigen Mädchen“. Weil man damit leichter durchs Leben kommt und nicht viel erklären muss.

Obwohl tatsächlich immer ziemlich viel erklärt werden muss. Wie freilich Katzen damit umgehen, weiß niemand wirklich. Auch in diesem Buch lebt die etwas moppelige Katze einfach ihr Katzenleben und lässt sich von der ganzen Aufregung nicht aus der Ruhe bringen. Vielleicht schauen Katzen ja auch mit einem gewissen Staunen auf die Menschen, die aus Dingen ein Problem machen können, die einfach so sind, wie sie sind.

Und da, wo der Kern der Geschichte ist, geht es eigentlich um mehr als die Tatsache, dass manche Menschen die Erfahrung machen, sich im eigenen Körper fremd zu fühlen. Denn Verwirrungen können ja noch ganz anders aussehen. Solche Erfahrungen machen ja auch sensible, kreative oder schüchterne Kinder, hochbegabte und neugierige. Das kann schon sehr verwirrend werden, wenn sie mit sturen Eltern, Freunden oder Lehrern zu tun bekommen.

Den Satz, der das alles schön auf den Punkt bringt, legt Franz Orghandl natürlich Jennifer in den Mund: „Ich bin niemand anders als früher. Außer, dass ich einer Verwechslung auf die Spur gekommen bin.“

Franz Orghandl Der Katze ist es ganz egal, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2020, 13 Euro.

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